OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland 2020

1. Zentrale Erkenntnisse für die Politik

1.1. Investieren, um die Erholung zu beschleunigen und für die künftigen Herausforderungen gerüstet zu sein

Die deutsche Wirtschaft steht 2020 vor der schärfsten Kontraktion seit dem Zweiten Weltkrieg und die Erholung erfordert nachhaltige makroökonomische Konjunkturmaßnahmen. Deutschland hat die ersten Phasen der Krise gut bewältigt. Die hohen Kapazitäten des Gesundheitssektors und der frühzeitige Einsatz von Tests, Kontaktnachverfolgung und Isolierung haben geholfen, die erste Welle der Pandemie mit weniger strengen Eindämmungsmaßnahmen als in vielen Nachbarländern unter Kontrolle zu bringen. Der Staat nutzt den auf eine solide Haushaltsführung vor der Krise zurückzuführenden fiskalischen Spielraum, um Arbeitsplätze und Unternehmen zu schützen. Die Bundesregierung hat bei der Verabschiedung der EU-Aufbau- und Resilienzfazilität eine Führungsrolle eingenommen. Dadurch wird die Konjunkturerholung in Europa mit Krediten und Zuschüssen an die Mitgliedsländer in Höhe von 750 Mrd. EUR unterstützt, die durch Anleiheemissionen der EU finanziert werden.

Die COVID-19-Krise folgt auf eine zehn Jahre dauernde Expansion, während der starke Handelsergebnisse und eine kräftige Inlandsnachfrage den Einkommenszuwachs antrieben und die Arbeitslosigkeit auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung fallen ließen. Strukturelle Herausforderungen ergeben sich jedoch aus der digitalen Transformation, der demografischen Alterung und der Energiewende. Die Politik muss den Übergang zu saubereren Energien und neuen Technologien in der Automobilindustrie erleichtern und zugleich schnellere Fortschritte bei der digitalen Transformation ermöglichen. Die Pandemie hat den Handlungsdruck noch erhöht.

Vor der Krise sorgten hohe Einkommen, eine gute Work-Life-Balance, überdurchschnittliche kognitive Kompetenzen unter den Studierenden und ein guter Zugang zu Grünräumen generell für eine hohe Lebensqualität (Abbildung 1.1). Das ökonomische Kapital, die Bilanz der Treibhausgasemissionen und das Arbeitsvolumen haben sich in den letzten zehn Jahren stetig verbessert. Die Gesundheitsergebnisse variieren jedoch erheblich nach sozioökonomischem Status, die Belastung durch Luftschadstoffe ist trotz einer gewissen Verbesserung nach wie vor hoch, und das Bildungsniveau junger Erwachsener hat sich – laut der Internationalen Vergleichsstudie der Kompetenzen Erwachsener (PIAAC) – ebenso wie der materielle Fußabdruck verschlechtert.

Die Einkommensungleichheit hatte sich vor der COVID-19-Krise weitgehend stabilisiert und das Ungleichgewicht bei den Nettoeinkommen liegt dank eines hohen Grads der Umverteilung unter dem OECD-Durchschnitt (Abbildung 1.2, Teil A). Das relative Armutsrisiko ist jedoch weiter gestiegen, insbesondere bei Kindern (Teil B). Die Arbeitslosigkeit ist zwar auf niedrige Niveaus zurückgegangen, das Armutsrisiko der Arbeitslosen ist jedoch höher als in den anderen Ländern der EU (Eurostat, 2018[1]). Das entschlossene staatliche Handeln hat zwar Arbeitsplätze gerettet, der Anstieg der Arbeitslosenquote während der Krise kann aber dennoch dazu führen, dass weitere Haushalte unter die Armutsgrenze fallen. Junge Menschen, Frauen und Niedriglohnkräfte sind stärker gefährdet, arbeitslos zu werden, da sie häufig in Branchen tätig sind, die besonders betroffen sind. Um der Möglichkeit steigender Ungleichheiten in den kommenden Jahren entgegenzuwirken, sind Reformen notwendig, die die Gleichstellung der Geschlechter fördern und verhindern, dass Menschen dauerhaft im Niedriglohnsektor verharren.

Die Vermögensungleichheit ist hoch: Das obere Dezil besitzt einen Anteil von 60 %, im Vergleich zu einem Durchschnitt von unter 50 % in den anderen OECD-Ländern, für die Daten vorliegen. Diese Daten lassen einige Faktoren unberücksichtigt, die zur sozialen Gerechtigkeit beitragen, beispielsweise das Vermögen der gesetzlichen Rentenversicherung (das knapp über dem OECD-Durchschnitt liegt (Balestra, C. und R. Tonkin, 2018[2])) oder der gute Zugang zu staatlichen Dienstleistungen wie kostenloser Bildung. Zurückzuführen ist die hohe Vermögensungleichheit u. a. auf die niedrige Wohneigentums- und Aktionärsquote, insbesondere bei den Haushalten mit mittlerem und niedrigem Einkommen, und das hohe Nettovermögen von Unternehmen, das sich auf das obere Dezil konzentriert (IWF, 2019[3]). Die hohe Vermögensungleichheit könnte den sozialen Aufstieg erschweren. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dem familiären Hintergrund und dem schulischen Erfolg (OECD, 2019[4]), und die Kinder weniger wohlhabender Eltern haben vom ersten Schuljahr an schlechtere Bildungsergebnisse (Dräger, J. und N. Müller, 2020[5]). Auf COVID-19 zurückzuführende Schulschließungen können die Kluft zwischen begünstigten und benachteiligten Schüler*innen aufgrund des unterschiedlichen Zugangs zu alternativen Bildungsangeboten und Geräten für digital gestütztes Lernen weiter vergrößern.

Abbildung 1.1. Generell hohe Lebensqualität

Lebensqualität in Deutschland, 2018 oder letztes verfügbares Jahr

Anmerkung: Dieses Schaubild zeigt die relativen Stärken und Schwächen in Teilbereichen der Lebensqualität in Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Ländern. Längere Balken bedeuten immer bessere Ergebnisse (d. h. eine höhere Lebensqualität), wohingegen kürzere Balken immer auf schlechtere Ergebnisse hindeuten (d. h. eine geringere Lebensqualität). Das gilt auch für die mit einem * markierten negativen Indikatoren, die umgekehrt gewertet sind. Ungleichheiten (Abstände zwischen den besten und schlechtesten Ergebnissen, Unterschiede zwischen Gruppen, Personen unterhalb einer Deprivationsschwelle) sind schraffiert und fehlende Daten weiß dargestellt.

Quelle: OECD (2020), How’s life?, http://www.oecd.org/statistics/Better-Life-Initiative-country-note-Germany.pdf.

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Die Erholung von der COVID-19-Krise bietet die Chance, die jüngsten Fortschritte in der Klimaschutzpolitik auszubauen. Deutschlands Pro-Kopf-Treibhausgasemissionen liegen trotz der in den letzten 20 Jahren bei der Einführung erneuerbarer Energien erzielten beträchtlichen Erfolge zwar unter dem OECD-Durchschnitt, aber über dem Niveau der meisten europäischen Länder (Abbildung 1.3), und seit 2000 liegt die Reduktion der CO₂-Intensität unter dem OECD-Durchschnitt (Abbildung 1.4, Teil A). Selbst nach den jüngsten politischen Schritten, insbesondere der Bepreisung von CO₂ im Verkehrs- und Wärmesektor, wird Deutschland weitere Maßnahmen benötigen, um sein für 2030 gesetztes Ziel zu erreichen, die Emissionen um 55 % im Vergleich zu 1990 zu senken (Umweltbundesamt (Hrsg.), 2020[6]; Prognos, 2020[7]). Es gibt noch Spielraum, die Governance zu verbessern, da die Zuständigkeit der Ministerien für jährliche sektorbezogene Ziele kurzfristige Behelfslösungen fördert. Außerdem hat der unabhängige Sachverständigenrat ein engeres Mandat als andere erfolgreiche Gremien wie das britische Committee on Climate Change.

Abbildung 1.2. Die Einkommensungleichheit hat sich weitgehend stabilisiert und liegt unter dem OECD-Durchschnitt

Anmerkung: Die Armutsschwelle wird bei 50 % des verfügbaren Medianeinkommens festgesetzt. OECD21 ist der einfache Durchschnitt der 21 OECD-Länder mit Daten für alle Jahre.

Quelle: OECD Income Distribution (IDD), (Datenbank).

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Abgesehen von der Dringlichkeit, den Klimawandel weltweit zu verlangsamen, kann die Reduzierung der Nutzung fossiler Brennstoffe auch die Lebensqualität in Deutschland verbessern. Trotz der in den letzten 20 Jahren erzielten Fortschritte sind 90 % der deutschen Bevölkerung einer Feinstaubbelastung ausgesetzt, die über dem von der WHO empfohlenen Schwellenwert von 10 Mikrogramm pro m³ liegt (Abbildung 1.4, Teil B). Diese Belastung ist größer als im OECD-Durchschnitt und verursacht ca. 60 000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr (EEA, 2019[8]). Die größten Quellen sind Emissionen im Gewerbe- und Haushaltssektor, Industrieprozesse und Straßenverkehr (EEA, 2019[9]). Die jüngsten EU-Daten (Dechezleprêtre, A., N. Rivers und B. Stadler, 2019[10]) lassen darauf schließen, dass die Produktivität der Arbeitskräfte in Deutschland um mindestens 1 % höher sein könnte, wenn die durchschnittliche Belastung unter dem Schwellenwert der WHO liegen würde. Schätzungen für das Vereinigte Königreich deuten darauf hin, dass positive nationale Nebeneffekte die Kosten vollständig ausgleichen könnten, die mit dem Ziel, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, verbunden sind (Committee on Climate Change, 2019[11]).

Abbildung 1.3. Pro-Kopf-Treibhausgasemissionen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hoch

Gesamte Treibhausgasemissionen ohne Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft, in 1 000 kg pro Kopf

Quelle: OECD, Environment Statistics (Datenbank).

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Abbildung 1.4. CO₂-Intensität und Luftverschmutzung verbessert

Anmerkung: Gemäß den Luftgüteleitlinien der WHO sollte die jährliche durchschnittliche Belastung durch PM_2,5 10μg/m³ nicht überschreiten.

Quelle: OECD (2020), “Green Growth Indicators”, OECD Environment Statistics (Datenbank); OECD National Accounts Statistics (Datenbank); OECD (2020), “Exposure to air pollution”, OECD Environment Statistics (Datenbank).

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Infrastrukturinvestitionen können nur dann einen Beitrag zur Konjunkturerholung leisten, wenn die Gründe für den Investitionsstau in Deutschland beseitigt werden. Der Übergang zu einer umweltfreundlicheren Energie- und Verkehrspolitik, der Ausbau der frühkindlichen Erziehung und die mit digitalen Technologien verbundenen Produktivitätssteigerungen werden durch den Investitionsrückstand gebremst. Die Regierung steigert die öffentlichen Investitionen und die Anreize für private Investitionen durch die Bereitstellung von 50 Mrd. EUR im Rahmen des Wiederaufbaupakets. Es müssen jedoch ausreichend Finanzmittel für gezielte öffentliche Investitionen bereitgestellt werden, insbesondere höhere Transferzahlungen an die Kommunen. Zugleich müssen die Kapazitätsengpässe in den lokalen Planungsbehörden und im Baugewerbe abgebaut werden. Die unzureichende Netzanbindung der Kommunikationsinfrastruktur erfordert eine Straffung der behördlichen Zulassungen und der öffentlichen Finanzierung. Außerdem muss der Wettbewerb erleichtert werden, beispielsweise durch gemeinsame Infrastrukturnutzung. Die Investitionen in sozialen Wohnraum sollten erhöht und gezielter ausgerichtet werden.

Um die deutsche Wirtschaft in die Lage zu versetzen, sich an die strukturellen Veränderungen anzupassen und die möglichen Vorteile für Produktivität, Wachstum und Lebensqualität zu nutzen, müssen die Rahmenbedingungen für die digitale Transformation verbessert werden. Die COVID-19-Krise rückt die Bedeutung der Digitalisierung in den Fokus. Der verstärkte Rückgriff der Unternehmen auf Instrumente und Verfahren der IKT, insbesondere für die Telearbeit, sowie der Einsatz von Fernunterricht und die telemedizinische Gesundheitsversorgung zur Einhaltung der sozialen Distanzierung erhöhen die Nachfrage nach Hochgeschwindigkeitsbreitbandnetzen, IKT-Kompetenzen bei den Lehrkräften und nach Telemedizin – allesamt Bereiche, in denen Deutschland zurückliegt. Grundqualifikationen und IKT-Kompetenzen sind ebenfalls wichtig, weil die Arbeitskräfte sich an das digitale Zeitalter anpassen müssen. Bessere Grundqualifikationen haben das Potenzial, die Ungleichheit zu reduzieren, Chancen für generationsübergreifende soziale Aufwärtsmobilität zu eröffnen und die Teilnahme an Erwachsenenbildung zu erhöhen.

Vor diesem Hintergrund bietet der Bericht drei wichtige Erkenntnisse:

• Die entschlossene staatliche Reaktion auf die COVID-19-Pandemie hat die Kapazitäten des Gesundheitssystems gestärkt und zugleich Arbeitsplätze und Unternehmen geschützt. Um die Erholung zu stützen, sollte der fiskalische Impuls nur schrittweise zurückgenommen werden. Außerdem sollten die Arbeitsmarktinklusion gefördert und Hindernisse für Infrastrukturinvestitionen abgebaut werden. In diesem Zusammenhang ist es auch erforderlich, die Governance von Infrastrukturprojekten zu verbessern.

• Die digitale Transformation sollte beschleunigt werden. Dies erfordert Verbesserungen bei der Netzabdeckung und Qualität der festen und mobilen Kommunikationsnetze, Kompetenzentwicklung und die Beseitigung der Hindernisse für die Technologieverbreitung. Zu den Schwachstellen gehören insbesondere geringe Investitionen in wissensbasiertes Kapital, Probleme bei der digitalen Sicherheit, langsame Fortschritte beim Aufbau der digitalen Verwaltung und eine schwache Unternehmensdynamik.

• Eine weitere Steigerung der Investitionen in eine saubere Verkehrs- und Energieinfrastruktur wird die Konjunkturerholung stützen und zugleich zur erforderlichen erheblichen Reduktion der Treibhausgasemissionen beitragen. Stärkere und kohärentere Preissignale könnten die durch Verkehr, Gebäude und Stromverbrauch verursachten Emissionen effizient senken und das Abfallaufkommen durch Anreize für eine Kreislaufwirtschaft reduzieren.

1.2. Deutschland hat die ersten Phasen der COVID-19-Krise gut überstanden, ist jedoch weiter mit Herausforderungen konfrontiert

Hohe Kapazitäten im Gesundheitssektor und ein frühzeitiger Einsatz von Tests, Kontaktnachverfolgung und Isolierung (auch bei asymptomatischen Fällen) haben dazu beigetragen, die erste Infektionswelle mit weniger restriktiven Eindämmungsmaßnahmen als in vielen anderen großen europäischen Ländern unter Kontrolle zu bringen (Abbildung 1.5). Vor Beginn der Pandemie verfügte Deutschland über eine hohe Versorgungsdichte mit Intensivbetten, die in den meisten Fällen mit Beatmungsgeräten ausgestattet waren, und die Zahl der Ärzte und Ärztinnen und der Krankenpflegekräfte lag bezogen auf die Einwohnerzahl über dem OECD-Durchschnitt. Eine verstärkte Nutzung digitaler Technologien in der Gesundheitsversorgung (Kapitel 2, Kasten 2.3) würde es ermöglichen, sich auf weitere Infektionswellen vorzubereiten, ohne die Versorgung anderer Patient*innen zu gefährden.

Abbildung 1.5. Moderate Mobilitätsbeschränkungen haben die Coronavirus-Fälle der ersten Welle unter Kontrolle gebracht

1. Durchschnitt der Indikatoren für Einzelhandel/Freizeit, Lebensmittel/Apotheken und Arbeitsplätze.

Quelle: OECD-Berechnungen auf der Basis von European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC); Google LLC, Google COVID-19 Community Mobility Reports, https://www.google.com/covid19/mobility/.

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Die Wirtschaft ist 2020 stark geschrumpft

Die Wirtschaftstätigkeit ging in der ersten Jahreshälfte 2020 drastisch zurück, wenn auch weniger stark als in vielen Nachbarländern. Das Wachstum war bereits vor Beginn der Krise schwach (Abbildung 1.6, Teil A) und der Einbruch des privaten Konsums und der Exporte (Teil B) beendete erste Anzeichen einer Aufhellung des Geschäftsklimas (Teil C). Die Produktion ging in der Industrie deutlich zurück (Teil D), behauptete sich jedoch im Baugewerbe, das von den Eindämmungsmaßnahmen weitgehend ausgenommen wurde. Die während der Krise ergriffenen umfassenden staatlichen Stützungsmaßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen und Unternehmen (Kasten 1.1) ermöglichten in den meisten Sektoren eine rasche Belebung, als die Eindämmungsmaßnahmen im Mai 2020 gelockert wurden. Die akkommodierende Geldpolitik und die Ausweitung der Wertpapierkäufe durch die EZB waren ebenfalls hilfreich, weil sie die Gesamtnachfrage stützten. Der erneute Anstieg der Infektionszahlen im Oktober 2020 hat Unsicherheit hervorgerufen und dazu geführt, dass im November wieder bundesweit Beschränkungen verordnet wurden. Diese Maßnahmen sind weniger streng als im Frühjahr, da Einzelhandel und Schulen geöffnet bleiben. Die Schließung von Restaurants, Hotels sowie Kultur- und Freizeitbetrieben hat die Wirtschaftstätigkeit jedoch beeinträchtigt. Das BIP ist 2020 um rd. 5½ % zurückgegangen (Tabelle 1.1).

Abbildung 1.6. Drastischer Konjunktureinbruch infolge der COVID-19-Krise

1. Beitrag zum BIP-Wachstum gegenüber dem entsprechenden Vorjahresquartal.

Quelle: OECD Economic Outlook (Datenbank); ifo-Konjunkturumfrage; Statistisches Bundesamt.

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Das entschlossene Vorgehen der Bundesregierung, der Wirtschaft Liquiditätshilfen zu gewähren und auch kleine Unternehmen zu unterstützen, verhindert eine Insolvenzwelle, bringt jedoch die Gefahr mit sich, dass die Zahl der Unternehmensinsolvenzen zunehmen wird, falls die Beeinträchtigung der Wirtschaftstätigkeit andauern sollte (OECD, 2020[12]). In den Fällen, in denen die Bundesregierung Unternehmen durch Eigenkapitalhilfen unterstützt, muss eine Verzerrung der Marktselektion minimiert werden, indem die Hilfen auf das notwendige Maß kalibriert und auf Unternehmen ausgerichtet werden, deren finanzielle Notlage auf die Krise zurückzuführen ist und die wahrscheinlich wieder rentabel werden. Die Staatshilfen sollten im Einklang mit der von der Europäischen Kommission 2020 verabschiedeten Änderung des Befristeten Rahmens für staatliche Beihilfen klaren Bedingungen in Bezug auf Einstieg, Vergütung und Ausstieg unterliegen. Es gibt Möglichkeiten, die Governance der Staatsbeteiligungen in Deutschland durch eine Trennung zwischen kommerziellen und öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern und sicherzustellen, dass die Behörde, die die Eigentumsrechte ausübt, nicht gleichzeitig auch den Sektor reguliert (OECD, o.J.[13]).

Kasten 1.1. Deutschlands fiskalische Reaktion auf die Pandemie

Der Corona-Schutzschild

Das erste Konjunkturpaket von März 2020 wurde von einem Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Mrd. EUR (4,5 % des BIP) getragen, um zusätzliche Ausgaben zu finanzieren und Mindereinnahmen zu decken. Die Maßnahmen für das Gesundheitswesen umfassten die Bereitstellung von Schutzausrüstung, finanzielle Unterstützung, um Krankenhausbetten freizuhalten, sowie zusätzliche Mittel für die Erforschung und Entwicklung von Impfstoffen. Die Liquiditätshilfen für Unternehmen enthielten mehrere Maßnahmen. Der Bund stellte Soforthilfe in Höhe von 50 Mrd. EUR für Selbstständige, Freiberufler und kleine Betriebe bereit, um die Betriebskosten zu decken. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) stellte in unbegrenztem Volumen Kreditprogramme bereit und die staatlichen Kreditbürgschaften wurden erhöht. Für größere Unternehmen wurde ein Wirtschaftsstabilisierungsfonds eingerichtet, der 100 Mrd. EUR für direkte staatliche Beteiligungen, 400 Mrd. EUR Staatsgarantien für Verbindlichkeiten und 100 Mrd. EUR für Refinanzierung durch die KfW-Programme vorsieht. Durch den Nachtragshaushalt wurde der Garantierahmen um 357 Mrd. EUR angehoben. Steuerstundungen und die vorübergehende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht boten zusätzliche Unterstützung.

Um Arbeitsplätze zu schützen, wurde die bestehende Kurzarbeitsregelung erweitert: erleichterter Zugang, Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge durch die Bundesagentur für Arbeit, höhere Lohnersatzquote nach drei Monaten, Berücksichtigung von Leiharbeitskräften und Aussetzung der Anrechnung von Nebenbeschäftigungen. Die Haushalte wurden zusätzlich unterstützt durch eine Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld, einen vereinfachten Zugang zur Sozialhilfe und zum staatlichen Kinderzuschlag sowie einen Kündigungsausschluss im Mietrecht.

Die Arbeitsmarktmaßnahmen, insbesondere Kurzarbeit, wurden umfassend in Anspruch genommen. Bis zum 15. September wurden die direkten staatlichen Beteiligungen im Rahmen des Stabilisierungsfonds mit 6,4 Mrd. EUR und die Staatsgarantien mit 3,7 Mrd. EUR dagegen nur wenig genutzt und die Soforthilfe wurde mit 14,3 Mrd. EUR ebenfalls nicht ausgeschöpft. Die Kredite der KfW wurden erheblich aufgestockt, wenngleich die bis zum 15. September gewährten Zusagen in Höhe von 44,4 Mrd. EUR nur 12 % der Anhebung des Garantierahmens ausmachen. Die meisten Maßnahmen laufen Ende 2020 aus – mit folgenden nennenswerten Ausnahmen: die verlängerte Bezugsdauer von Arbeitslosengeld, (31. März 2021), der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (Ende 2021) und die Kurzarbeitsregelung (Ende 2021 für Personen, die Ende 2020 in Kurzarbeit sind).

Das Konjunkturpaket

Das im Juni angekündigte zweite Paket sieht für 2020 und 2021 Ausgaben in Höhe von 130 Mrd. EUR (3,8 % des BIP) vor, und für die folgenden Jahre sind weitere Ausgaben veranschlagt. Um das Paket zu finanzieren, wurde ein zweiter Nachtragshaushalt in Höhe von 61,8 Mrd. EUR verabschiedet. Die Maßnahmen zur Ankurbelung des Konsums umfassen eine Senkung der MwSt.-Sätze (von 19 % auf 16 % und von 7 % auf 5 %) zwischen dem 1. Juli und dem 31. Dezember 2020 mit geschätzten Kosten von 20 Mrd. EUR, einen Kinderbonus in Höhe von 300 EUR und eine erhöhte Subvention für den Kauf von Elektroautos. Außerdem wurden zusätzliche Überbrückungshilfen in Höhe von 25 Mrd. EUR für Selbstständige und KMU und weitere Steuererleichterungen (der steuerliche Verlustrücktrag wird erweitert) für Unternehmen beschlossen. Die EEG-Umlage wird stabilisiert und die Sozialbeiträge werden nicht über 40 % steigen. Dadurch wird die Belastung von Haushalten und Industrie reduziert. Die Gewerbesteuerausfälle der Kommunen werden hälftig ausgeglichen und der Anteil des Bundes an der Zahlung einiger Sozialleistungen wird erhöht. Dadurch erhalten die Kommunen 2020 Hilfen in Höhe von rd. 10 Mrd. EUR.

Rund 50 Mrd. EUR sind vorgesehen, um durch öffentliche und private Investitionen in den Bereichen Digitalisierung, Bildung, Gesundheit und grüne Energie auf langfristige Herausforderungen zu reagieren. Die Bundesregierung hat die Absicht, einige bereits geplante öffentliche Investitionen auf 2020 und 2021 vorzuziehen, die Investitionen in Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, den Breitbandausbau und den öffentlichen Verkehr zu erhöhen und die Digitalisierung in der Verwaltung und im Gesundheitssektor zu beschleunigen. Die privaten Investitionen werden durch eine degressivere Abschreibung für Abnutzung, höhere Steueranreize für FuE und direkte Subventionen für Forschung in den Bereichen Digitalisierung, E-Mobilität und Energiewende, einschließlich Wasserstofftechnik, gefördert.

Neben diesen Förderprogrammen der Bundesregierung haben die Länder eigene Programme für ihre lokale Wirtschaft aufgelegt. Die Aufbau- und Resilienzfazilität der EU wird die Erholung in Europa stützen und die Widerstandsfähigkeit stärken; für Deutschland wird im Zeitraum bis 2026 mit Zuschüssen in Höhe von 23 Mrd. EUR gerechnet.

Tabelle 1.1. Eine tiefe Rezession im Jahr 2020

1. Beitrag zur Veränderung des realen BIP, tatsächlicher Betrag in der ersten Spalte.

2. Harmonisierter Verbraucherpreisindex, ohne Nahrungsmittel, Energie, Alkohol und Tabak.

Quelle: OECD Outlook 108 (Datenbank).

Die für das zweite Halbjahr 2020 vorgenommene vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer (Kasten 1.1) kurbelt den privaten Konsum an. Frühere Beispiele lassen darauf schließen, dass die Zunahme des Konsums großenteils darauf zurückzuführen ist, dass der Kauf von Gebrauchsgütern vorgezogen wird (Crossley, T., H. Low und C. Sleeman, 2014[14]). Die Senkung der Mehrwertsteuer stützt den privaten Konsum nur in dem Maß, wie die Kostensenkung an die Verbraucher*innen weitergegeben wird. Bei einer vollständigen Weitergabe würden die Preise um 1,8 % sinken (Deutsche Bundesbank, o.J.[15]). Die Steueranpassung wird jedoch wahrscheinlich nicht vollständig weitergegeben, möglicherweise nur zu 75 %, wie 2008 bei der längeren MwSt.-Senkung im Vereinigten Königreich (13 Monate) und 2007 bei der dauerhaften MwSt.-Erhöhung in Deutschland zu beobachten war (Carare, A. und S. Danninger, 2008[16]). Der Zusatzeffekt auf den privaten Konsum wird im zweiten Halbjahr 2020 voraussichtlich etwa 1 Prozent betragen, was einem fiskalischen Multiplikator von etwa 0,5 entspricht. Das ist ein hoher Wert für den Multiplikator einer Steuersenkung und ermöglicht eine rasche Reaktion auf den Nachfragerückgang. Er ist aber immer noch niedriger als die für staatliche Investitionen und Staatsverbrauch geschätzten Multiplikatoren von ungefähr 1 (IWF, 2020[17]). Weil temporale Substitutionseffekte dominieren, ist für Anfang 2021 ein Preisanstieg und ein Rückgang des privaten Konsums in ähnlicher Größenordnung zu erwarten.

Die zeitlich befristete Senkung der Mehrwertsteuer ist transparent und wurde rasch nach Beendigung des Lockdowns umgesetzt. Ein breiter Anwendungsbereich verringert das Risiko, dass bestimmte Branchen durch Lobbyarbeit begünstigt werden. Obwohl die Entlastung bei Geringverdienenden im Verhältnis zum Einkommen hoch ist, geht der größte Teil der Unterstützung an Haushalte in der oberen Hälfte der Einkommensverteilung. Im Idealfall sollte die Konjunkturerholung zum Zeitpunkt, an dem die MwSt.-Senkung abläuft, robust genug sein, um dem Rückgang des Konsums standzuhalten. Das wird im Januar 2021 aber nicht zwangsläufig der Fall sein.

Die Krise hat nach einem zehn Jahre andauernden Rückgang der Arbeitslosigkeit eine Trendwende herbeigeführt (Abbildung 1.7), wenngleich der Anstieg durch die bewährte Kurzarbeitsregelung abgefedert wurde. Dabei subventioniert der Staat die Lohnzahlungen für Beschäftigte, deren Arbeitszeit in Unternehmen, die sich vorübergehend in Schwierigkeiten befinden, gekürzt wird. Im April 2020 waren fast 6 Millionen Arbeitskräfte, das entspricht knapp 20 % aller abhängig Beschäftigten, in Kurzarbeit, bedeutend mehr als beim letzten Höchststand im Jahr 2009 (1,4 Millionen). Obwohl die Arbeitslosigkeit in einigen besonders betroffenen Sektoren erheblich gestiegen ist (Abbildung 1.8), haben die Unternehmen im Vergleich zur Weltfinanzkrise stärker auf Kurzarbeit als auf Entlassungen zurückgegriffen (Weber, E. und B. Gehrke, 2020[18]). Kurzarbeit war während der Finanzkrise, bei der sich die Sektorstruktur nur wenig veränderte, generell geeignet, überlebensfähige Arbeitsplätze zu schützen. Ein länger andauernder Abschwung, bei dem einige Sektoren mehrere Jahre durch Maßnahmen zur Eindämmung des Virus beeinträchtigt werden, würde die Notwendigkeit einer Arbeitskräftereallokation erhöhen. Da die Verlängerung der großzügigen Kurzarbeitsregelungen bis Ende 2021 dazu führen könnte, dass Arbeitskräfte auf Dauer in weniger produktiven Arbeitsplätzen verbleiben (Hijzen, A. und S. Martin, 2013[19]), gelten die gelockerten Zugangsbedingungen und die verlängerte Dauer nur für Personen, deren Anspruch auf Kurzarbeit bis zum 31. Dezember 2020 bzw. 31. März 2021 entstanden ist. Deshalb sind die Pläne, die vollständige Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge im Juni 2021 auslaufen zu lassen, zu begrüßen, da es für Unternehmen somit teurer wird, Arbeitskräfte in nicht überlebensfähigen Arbeitsplätzen zu halten. Dadurch wird auch der Anreiz für Arbeitgeber erhöht, den Kurzarbeitenden Weiterbildungsmöglichkeiten zu bieten, da die Sozialversicherungsbeiträge in diesem Fall um 50 % gesenkt werden können. Außerdem sollte geprüft werden, mehr aktive Arbeitsmarktmaßnahmen wie Weiterbildung und Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche zu ergreifen. Eine gewisse Verlängerung der Kurzarbeitsregelung war jedoch gerechtfertigt, weil es selbst bei einer kräftigen Konjunkturbelebung unwahrscheinlich ist, dass sich der Arbeitsmarkt bis Ende 2021 wieder vollständig erholt. Die Inflation wird kurzfristig aufgrund fallender Löhne und bestehender Kapazitätsüberhänge auf niedrigem Niveau verharren.

Abbildung 1.7. Die Arbeitslosigkeit hat zugenommen und der Lohndruck ist gedämpft

1. Die Inflation bezieht sich auf den harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) und die Kerninflation lässt Energie, Nahrungsmittel, Alkohol und Tabak unberücksichtigt.

2. Durchschnittlicher Nominallohn je Beschäftigten.

Quelle: OECD, Economic Outlook (Datenbank) und Statistisches Bundesamt.

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Abbildung 1.8. Arbeitsplatzverluste und Kurzarbeit in den verschiedenen Sektoren unterschiedlich

Kumulativer Anteil der Beschäftigten innerhalb des jeweiligen Sektors, die im März und April 2020 zur Kurzarbeit angemeldet waren, und Anteil der Beschäftigten, die arbeitslos wurden

Anmerkung: Die Zahl der Neuzugänge in Arbeitslosigkeit bezieht sich auf die kumulative Anzahl zwischen den Stichtagen von Mitte März und Mitte Mai im Vergleich zum Vorjahr. Im Einklang mit der Berechnung des Anteils der bei der Bundesagentur für Arbeit zur Kurzarbeit angemeldeten Beschäftigten bezieht sich die Zahl der Neuzugänge in Arbeitslosigkeit ebenfalls auf die Zahl der Beschäftigten in den einzelnen Sektoren Ende September 2019.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit; eigene Berechnungen.

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Die schwache Exportnachfrage stellt die deutsche Wirtschaft vor eine andauernde Herausforderung, die die Erholung verlangsamt. Deshalb muss die Konjunkturbelebung hauptsächlich durch die Inlandsnachfrage angetrieben werden. Die meisten Exporte gehen in europäische Länder, die zum großen Teil schwer von der Krise betroffen sind (Abbildung 1.9, Teil A). Die Konzentration der deutschen Exporte auf Investitionsgüter (Teil B) verschärft die Herausforderung, da die Investitionen weltweit aufgrund der Unsicherheit und der Nachfrageschwäche zurückgegangen sind. Die Automobilindustrie ist mit einer schwachen Nachfrage wie auch mit längerfristigen strukturellen Herausforderungen konfrontiert (Kasten 1.2). Deutschland ist als offene und handelsintensive Volkswirtschaft, die eng in die globalen Wertschöpfungsketten eingebunden ist, stark von der Exportnachfrage abhängig, um das Wachstum anzukurbeln (Abbildung 1.10). Die kräftige Investitionsnachfrage aus China war ein wichtiger Wachstumstreiber nach der weltweiten Finanzkrise: In den zehn Jahren nach 2009 entfielen 17 % des Wachstums der deutschen Waren- und Dienstleistungsexporte auf China, weit mehr als Chinas Exportanteil von 7 %. Diesmal wird die Entwicklung voraussichtlich weniger günstig verlaufen, weil die chinesische Wirtschaft sich verlangsamt und zu einem konsumbasierten Wachstum übergeht. Zu den Abwärtsrisiken bei diesem Ausblick zählt ein weiterer Anstieg der Handelsbeschränkungen, insbesondere durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Binnenmarkt der EU (Tabelle 1.2). Die Entwicklung könnte jedoch auch günstiger ausfallen: Das gilt für den Handel, wenn die wichtigsten Handelspartner sich besser erholen als erwartet, und für das Wachstum allgemein, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass bis Ende 2021 ein wirksames Medikament oder ein Impfstoff in großem Maßstab eingesetzt werden kann.

Abbildung 1.9. Industriegüter dominieren die Exporte und Europa ist der wichtigste Absatzmarkt

Exporte von Waren und Dienstleistungen, in Prozent der Gesamtexporte, 2018

1. Die Kategorie „Sonstige“ umfasst Rohstoffe (ausgenommen Nahrungsmittel), mineralische Brennstoffe, Schmiermittel und verwandte Erzeugnisse, tierische und pflanzliche Öle, Fette und Wachse, Waren und Warenverkehrsvorgänge, a. n. g.

Quelle: OECD, International Trade Statistics (Datenbank).

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Die Abnahme des Leistungsbilanzüberschusses während der Krise ist in erster Linie auf den Rückgang der weltweiten Nachfrage nach Investitionsgütern zurückzuführen, der voraussichtlich bis ins Jahr 2021 andauern wird. Deutschlands großer Leistungsbilanzüberschuss basiert auf der Diskrepanz zwischen der (hohen) Ersparnisbildung und den (niedrigen) Inlandsinvestitionen. Die Sparquote der privaten Haushalte verharrte in den zehn Jahren vor der Krise auf hohem Niveau, obwohl das starke Lohnwachstum den Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen steigen ließ. Die Nettoersparnis des Unternehmenssektors wurde dagegen 2018 und 2019 negativ. Ein weiterer Anstieg hochwertiger öffentlicher Investitionen (siehe weiter unten) kann die Wachstumsrate erhöhen, die Inlandsnachfrage stärken und folglich zu einem nachhaltigeren Rückgang des Leistungsbilanzüberschusses führen. Strategien, die die Unternehmertätigkeit, die Verbreitung neuer Technologien und die Kompetenzen fördern, würden die Unternehmensinvestitionen in Deutschland steigern. Die Maßnahmen des Konjunkturpakets, die darauf abzielen, das Restschuldbefreiungsverfahren bei Insolvenz auf drei Jahre zu verkürzen, FuE zu fördern und den digitalen Wandel zu beschleunigen, sind deshalb zu begrüßen. Steuersenkungen für niedrige Erwerbseinkommen und eine Stärkung der Arbeitsanreize wären ebenfalls hilfreich, weil sie den Konsum ankurbeln. Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit, wie beispielsweise die Abschaffung der Erbschaftsteuerbefreiung, sind ebenfalls wichtig, um den Effekt der ungleichen Vermögensverteilung auf die private Ersparnisbildung – und damit auf den Leistungsbilanzsaldo – zu reduzieren (IWF, 2019[3]).

Abbildung 1.10. Deutschland stark abhängig von der Auslandsnachfrage

Anteil der auf ausländische Endnachfrage entfallenden inländischen Wertschöpfung in Prozent der gesamten inländischen Wertschöpfung, 2016

Quelle: OECD, Trade in Value Added (TiVA).

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Kasten 1.2. Der ungewisse Ausblick für die Automobilindustrie

Die Nachfrage nach Autos ist 2020 den Schätzungen zufolge stark zurückgegangen – hauptsächlich aufgrund der schweren Rezession in Europa –, bevor sie 2021 wieder anzieht, ohne jedoch den verlorenen Umsatz wieder auszugleichen (Abbildung 1.11). Die künftige Nachfrage nach Autos ist sehr ungewiss. Das gilt auch für den Effekt der Mehrwertsteuersenkung, die neuen Anreize für den Kauf von Elektrofahrzeugen sowie die durch COVID-19 verursachten Veränderungen des Verbraucherverhaltens. Die Pandemie hat viele Beschäftigte zu Telearbeit gezwungen, ein Trend, der sich fortsetzen kann, was die Nachfrage nach Autos senken würde. Umgekehrt würde eine zögerliche Nutzung des öffentlichen Verkehrs die Nachfrage nach Privatfahrzeugen steigern.

Die COVID-19-Krise vergrößert die Herausforderungen, die aufgrund des Übergangs zu alternativen Antriebssystemen, insbesondere der Elektrifizierung, ohnehin schon bestehen. Elektroautos enthalten weniger und einfachere Bauteile, und die Autobatterien – das wertvollste Bauteil von Elektroautos – werden noch nicht in Deutschland oder von deutschen Unternehmen hergestellt. Deshalb wird die rasche Ausbreitung von Elektroautos voraussichtlich Arbeitsplatzverluste und einen Rückgang des BIP zur Folge haben (Heymann, 2020[20]). Dem Institut für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsforschung (IAB) zufolge sind bis 2035 – falls 23 % der Neuzulassungen Elektroautos sind – 114 000 deutsche Arbeitsplätze gefährdet und das BIP würde um 0,6 % zurückgehen (Mönnig et al., 2019[21]). Weitere wichtige Herausforderungen sind der zunehmende Anteil der digitalen Wertschöpfung an den Kernprodukten – ein Bereich, in dem Deutschland kein internationaler Marktführer ist – und die Veränderungen in der Mobilitätsstruktur, vor allem in Städten, die die Rolle, Nutzung und Nachfrage nach Autos bestimmen (Kapitel 2). Schätzungen zufolge kann eine Zunahme der Handelsbeschränkungen nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Binnenmarkt der EU dazu führen, dass die deutschen Autoexporte ins Vereinigte Königreich 2030 um 15 % niedriger ausfallen, als dies bei einer Fortsetzung der bisherigen Politik der Fall wäre (Karlsson, J., H. Melin und K. Cullinane, 2018[22]). Aufgrund der Abwertung des britischen Pfund und einer schwächeren Nachfrage war bereits von 2016 bis 2019 ein Rückgang um 26 % zu verzeichnen (VDA, 2020[23]).

Abbildung 1.11. Schwache und ungewisse Nachfrage wegen COVID-19

Nachfrage nach deutschen Autos, Index 2019 = 100

Anmerkung: Die Nachfrage nach deutschen Autos wird projiziert auf der Basis des OECD-Wirtschaftsausblicks und des Zusammenhangs zwischen Autoumsatz und fundamentalen Faktoren, wie er in der Vergangenheit bestand. Letztere umfassen Pro-Kopf-BIP, Bevölkerung, Arbeitslosigkeit und reale Ölpreise auf der Basis eines Panels von 56 fortgeschrittenen und aufstrebenden Volkswirtschaften für die Jahre 2000-2010 (Klein und Koske, 2013_[1]). Die strukturellen Veränderungen der letzten zehn Jahre, wie Elektrifizierung und gemeinsam genutzte Mobilitätsangebote, sowie die Maßnahmen zur Ankurbelung der Autonachfrage werden nicht berücksichtigt.

Quelle: Internationale Automobilherstellervereinigung (OICA); Weltbank (2020) World Development Indicators Database (Datenbank); OECD-Wirtschaftsausblick 108, Dezember 2020.

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Tabelle 1.2. Ereignisse, die zu erheblichen Änderungen am Ausblick führen können

Risikoanfälligkeit	Mögliche Auswirkungen
Mehrere COVID-19-Ausbrüche über mehrere Jahre hinweg	Einschränkungen bei Aktivitäten, die von Abstandsregeln betroffen sind, was zu Insolvenzen und steigender Arbeitslosigkeit führt. Unsicherheit bei Verbrauchern und Unternehmen, die die Konsumnachfrage und Investitionstätigkeit bremst, während die gedämpfte globale Exportnachfrage, insbesondere bei Investitionsgütern, die Exporte belastet.
Verstärkung der COVID-19-Krise durch den Finanzsektor	Unternehmens- und Privatinsolvenzen, eine schwache Kreditnachfrage und niedrige Zinssätze könnten zu Bankinsolvenzen führen. Die Interbankenbeziehungen und -garantien können systemische Probleme verursachen, was Liquiditätsengpässe und eine längere Rezession zur Folge hat. Systemrelevante Institute können „Too big to fail"-Probleme für die Regulierungsbehörden schaffen.
Ökonomische Scarring-Effekte der COVID-19-Krise	Das langfristige Wachstum wird gebremst durch eine abnehmende Matching-Effizienz, eine schwache Investitionstätigkeit, eine Störung der Lieferketten und eine längere Konjunkturschwäche in den Sektoren, in denen sich die Verbraucherpräferenzen ändern.
Weitere Zunahme der Handelsbeschränkungen weltweit	Eine neue Protektionismuswelle würde den globalen Handel schwächen und wäre besonders schädlich für die exportabhängige deutsche Wirtschaft und die internationalen Lieferketten – umso mehr, falls die Hindernisse im Handel von Autobauteilen zunehmen. Falls kein Handelsabkommen abgeschlossen wird, könnte der Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem EU-Binnenmarkt die deutschen Exporte um 2,5 % und das BIP um bis zu 0,5 % reduzieren. Besonders betroffen wäre die Automobilindustrie (Centre for European Policy Studies, 2017[24]; Lawless, M. und E. Morgenroth, 2019[25]; Felbermayr et al., 2017[26]).

Die Risikoanfälligkeit der Banken sollte genau überwacht werden

Die deutschen Banken haben im Durchschnitt eine niedrige Rentabilität und einen mittleren bis hohen Verschuldungsgrad. Dadurch erhöht sich ihre Anfälligkeit gegenüber zunehmenden Unternehmens- und Privatinsolvenzen, einer schwachen Kreditnachfrage und sehr niedrigen Zinssätzen während der COVID‑19-Krise. Das Kreditwachstum ist seit 2012 stärker als das BIP-Wachstum und hat sich 2019 beschleunigt, obwohl das Wirtschaftswachstum zum Stillstand kam (Abbildung 1.12, Teil A). Das Eigenkapital der Banken ist im Verhältnis zu den Aktiva gestiegen. Der Verschuldungsgrad ist auf Bruttobasis jedoch nach wie vor hoch und in der Mitte der OECD-Skala einzuordnen, wenn die Qualität des Eigenkapitals und die Risikogewichtungen berücksichtigt werden (Teil B und C). Der Anteil notleidender Kredite verharrte Anfang 2020 auf niedrigem Niveau (Teil D). Die geringe Profitabilität beeinträchtigt die Eigenkapitalausstattung und bietet Anreize für eine überhöhte Risikobereitschaft. Außerdem beeinträchtigt sie die Fortschritte der deutschen Banken bei der Modernisierung ihrer IT-Systeme (SVR, 2019[27]). Erste Indikatoren deuten darauf hin, dass die Pandemie möglicherweise zu einer erneuten Fragmentierung der Finanzmärkte innerhalb des Euroraums geführt hat (de Guindos, L., F. Panetta und I. Schnabel, 2020[28]). Dadurch wird es umso dringlicher, die Kapitalmarktunion zu vertiefen und mögliche Hindernisse für grenzüberschreitende Bankenfusionen abzubauen.

Abbildung 1.12. Die Kredite sind vor der Krise stärker gewachsen als das BIP und der Verschuldungsgrad der Banken liegt im mittleren bis hohen Bereich

1. Die Kredit/BIP-Lücke ist definiert als die Differenz zwischen der Kredit-BIP-Relation und ihrem langfristigen Trend, in Prozentpunkten.

Quelle: IMF Financial Soundness Indicators Datenbank; BIZ-Statistik zur Kredit/BIP-Lücke.

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Die politisch Verantwortlichen müssen sich auf mehrere adverse Szenarien vorbereiten. Die Risiken für die Finanzstabilität waren zu Beginn der COVID-19-Krise im März und April 2020 sehr hoch. Die fiskal- und geldpolitische Reaktion hat jedoch dazu beigetragen, eine Ausbreitung auf den Finanzsektor zu verhindern. Die Senkung des antizyklischen Kapitalpuffers und andere Aufsichtsmaßnahmen haben außerdem dazu beigetragen, die Kreditvergabe zu stützen und einen Fremdkapitalabbau der Banken zu verhindern. Der zu erwartende Anstieg der Unternehmensinsolvenzen wird den Druck auf die Banken wahrscheinlich erhöhen. Wenn sich die Insolvenzen gemäß den Mustern früherer Rezessionen entwickeln, dürften die Verluste jedoch gut verkraftbar sein (Deutsche Bundesbank, 2020[29]). Ein schlechteres Szenario ist möglich, wenn eine starke Zunahme der Unternehmensinsolvenzen mit Verwerfungen auf den Immobilien- und Finanzmärkten einhergeht. In diesem Fall sollte die Rekapitalisierung der Banken transparent, verhältnismäßig und gezielt erfolgen und klaren Bedingungen in Bezug auf Vergütung und Ausstieg unterliegen. Ein größeres Augenmerk sollte den bedingten Pflichtwandelanleihen gelten, die normalerweise von größeren Banken emittiert werden. Sie werden in Deutschland zwar weniger genutzt als in mehreren anderen europäischen Ländern (Deutsche Bundesbank, 2018[30]), eine verbindliche Umwandlung dieser Anleihen in Eigenkapital könnte jedoch zu Ansteckungseffekten auf den europäischen Bankenfinanzierungsmärkten führen.

Die Regulierungsinstrumente sollten während der Erholung weiter verbessert werden (Tabelle 1.3), u. a. indem einnahmenbasierte makroprudenzielle Maßnahmen aufgenommen werden. Sie sollten sich auf detailliertere Daten über die Risikoprofile der Kreditnehmer, wie beispielsweise Verschuldungs- und Beleihungsquoten, und nach Region und Schuldnertyp aufgeschlüsselte Kreditstatistiken stützen. Der Zusammenbruch von Wirecard hat mögliche Schwachstellen im Bilanzwesen und der Finanzregulierung offengelegt, für die die Bundesregierung derzeit eine Lösung sucht (Kasten 1.3). Wie in anderen OECD-Ländern (vgl. beispielsweise OECD (2019[31])) sind die Finanzinstitute in Deutschland in Zukunft mit strukturellen Veränderungen und zunehmenden materiellen Risiken konfrontiert, die sich aus dem Klimawandel ergeben.

Kasten 1.3. Die Bundesregierung plant, die Finanzregulierung nach dem Zusammenbruch von Wirecard zu reformieren

Aufgrund einer mehrjährigen Bilanzfälschung war Wirecard – ein schnell wachsender deutscher Zahlungsdienstleister – im Juni 2020 gezwungen, Insolvenz anzumelden, nachdem der in den vergangenen zehn Jahren für das Unternehmen zuständige Rechnungsprüfer mitteilte, dass es über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Mrd. EUR keinen Nachweis gab. Die meisten von Wirecard ausgewiesenen Einkünfte stammten von drei Drittpartnern, die aus regulatorischen Gründen oder wegen fehlender Lizenzen oder anderer potenzieller Risiken die Zahlungstransaktionen von Wirecard außerhalb Europas abwickelten. Die jährliche Rechnungsprüfung in Bezug auf die Quellen und die Höhe dieser Einkünfte war fehlerhaft. Nachdem kritische Berichte zu einem starken Rückgang des Aktienkurses geführt hatten, leitete die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Februar 2019 eine Untersuchung wegen des Vorwurfs der Marktmanipulation ein und erließ ein zweimonatiges Verbot von Leerverkäufen. Dabei verwies sie auf die Bedeutung des Unternehmens und den möglichen Vertrauensverlust für den Gesamtmarkt. Im April 2020 stellte ein von einem anderen Wirtschaftsprüfer erstellter Sonderbericht fest, dass die von Wirecard für den Zeitraum von 2016 bis 2018 ausgewiesenen Gewinne nicht bestätigt werden konnten. Im Juni informierten Banken auf den Philippinen den Rechnungsprüfer von Wirecard, dass die Dokumente, die Barguthaben in Höhe von 1,9 Mrd. EUR auswiesen, gefälscht waren.

Der Zusammenbruch von Wirecard hat mögliche Schwachstellen im Bilanzwesen und in der Finanzregulierung offengelegt. Die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), eine privatrechtlich organisierte Einrichtung, die die Finanzberichterstattung börsennotierter Gesellschaften überwacht, hat zu spät eingegriffen und ist unzureichend ausgestattet. Die BaFin kann die DPR auffordern, die Finanzberichte einer Gesellschaft zu untersuchen, hat aber keine Macht über das eigentliche Verfahren, da sie das Ergebnis der DPR-Untersuchung abwarten muss, bevor sie ihre eigene Untersuchung einleiten kann. Die Bundesregierung entwickelt derzeit einen Aktionsplan, um die Finanzmarktregulierung zu stärken, der BaFin neue Befugnisse zu erteilen und die Gesellschaften zu zwingen, ihre Rechnungsprüfer häufiger zu wechseln. Außerdem wird in Erwägung gezogen, die Abschlussprüferaufsichtsstelle APAS zu stärken.

Quelle: The Financial Times, https://www.ft.com/wirecard.

Tabelle 1.3. Frühere Empfehlungen und ergriffene Maßnahmen im Bereich der Finanzmärkte

Empfehlungen	Ergriffene Maßnahmen
Es sollten Möglichkeiten erwogen werden, die Vorschriften zur Trennung von Investmentbanking-Aktivitäten und Retailbanking wirksamer zu gestalten. Beispielsweise könnten die Einbeziehung von Wertpapieren, die für Market-Making-Zwecke gehalten werden, in die Kriterien für die Trennungsverpflichtung sowie eine Fokussierung der Trennungskriterien auf Derivatepositionen in Erwägung gezogen werden.	Das deutsche Trennbankengesetz von 2013 verpflichtet Kreditinstitute, ihr Einlagen- und Kreditgeschäft von ihrem Eigenhandel mit Finanzinstrumenten zu trennen, wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten werden.
Weiterhin von den Landesbanken ausgehenden Risiken sollte durch mikro- und makroprudenzielle Regulierung begegnet werden. Die Umstrukturierung der Landesbanken durch Privatisierung, Konsolidierung oder Konzentration auf das Kerngeschäft im Rahmen eines tragfähigen Geschäftsmodells sollte fortgesetzt werden.	Eine der sechs Landesbanken wurde 2018 privatisiert. Die fünf verbleibenden Landesbanken haben ihre Corporate Governance verbessert und unterliegen der gleichen Regulierungsaufsicht wie private Institute.

Die Belebung der Unternehmensdynamik ist für das Produktivitätswachstum unerlässlich

Als die Krise Deutschland traf, war die Arbeitsproduktivität bereits zehn Jahre lang nur schwach gewachsen (Abbildung 1.13). Die Verlangsamung war nicht auf Deutschland begrenzt, aufgrund seiner Bevölkerungsentwicklung ist die Produktivität jedoch entscheidend für das Potenzialwachstum. Die Krise dürfte das Produktivitätswachstum weiter beeinträchtigen, weil die Nachfrage zurückging, die Investitionstätigkeit sank, die Transaktionskosten zunahmen, die Lieferketten gestört waren und es zu Unterrichtsausfällen kam (di Mauro, F. und C. Syverson, 2020[32]). Umgekehrt kann die Einführung neuer Technologien während der Eindämmungsmaßnahmen die Produktivität steigern, und das Gleiche gilt für eine Beschleunigung der digitalen Transformation (Kapitel 2).

Eine abnehmende Unternehmensdynamik verlangsamt die Reallokation von Ressourcen. Außerdem kann sie das Produktivitätswachstum beeinträchtigen und die Ungleichheit vertiefen. Vor der Krise war die Gründungsaktivität kontinuierlich gesunken, ebenso wie Unternehmensschließungen und Insolvenzen (Kapitel 2). Auf die Pandemie zurückzuführende Nachfrageverlagerungen machen deutlich, wie wichtig die Reallokation von Ressourcen ist. Schwache Anreize, Arbeitsplätze aufzugeben, die letztlich verschwinden werden, strenge Berufszugangsregelungen, die vorübergehende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht (Kasten 1.1) und Hindernisse für Unternehmensgründungen könnten die Reallokation bremsen.

Die regulatorischen Wettbewerbshemmnisse wurden reduziert und gehören zu den niedrigsten im OECD-Raum. Der bürokratische Aufwand bei Unternehmensgründungen ist jedoch nach wie vor hoch und die meisten freiberuflichen Leistungen sind streng reguliert (OECD, 2018[33]). Wie in früheren Wirtschaftsberichten empfohlen, könnte eine weniger restriktive Regulierung der freien Berufe (beispielsweise durch die Abschaffung der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure) bei gleichzeitiger Sicherung der Qualitätsstandards und Verbraucherinteressen den Wettbewerb und die Reallokation von Ressourcen fördern (Tabelle 1.4).

Abbildung 1.13. Schwaches Produktivitätswachstum in Verbindung mit geringer Kapitalvertiefung

Beitrag zum Wachstum der Arbeitsproduktivität in Prozentpunkten, Jahresdurchschnitt

1. Ungewichteter Durchschnitt der OECD-Länder, für die Daten vorliegen.

Quelle: OECD Productivity Statistics (Datenbank).

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Tabelle 1.4. Frühere Empfehlungen und ergriffene Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität

Empfehlungen	Ergriffene Maßnahmen
Die Anforderungen für die Restschuldbefreiung insolventer Unternehmer nach drei Jahren – bei Wahrung ausreichender Sicherheiten für die Gläubiger – lockern.	Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 1. Juli 2020 sieht vor, die Laufzeit bis zu einer Restschuldbefreiung für Unternehmer und Verbraucher von sechs auf drei Jahre zu verkürzen. Flankierend sind Maßnahmen vorgesehen, um Missbrauch zu verhindern.
Einen „One-Stop-Shop“ einrichten, über den alle mit der Gründung eines Unternehmens verbundenen Verfahren online erledigt werden können.	Durch das Netzwerk einheitlicher Ansprechpartner ist es möglich, die Verfahren zur Unternehmensgründung online abzuwickeln.
Die restriktive Regulierung der freien Berufe unter Wahrung der Qualitätsstandards und Verbraucherinteressen reduzieren. Exklusivrechte reduzieren, die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure abschaffen, Rechtsanwälten mehr Möglichkeiten bieten, um vom Grundsatz der nach dem Gegenstandswert berechneten Vergütung abzuweichen und eine Liberalisierung der Notargebührenordnung prüfen.	Das Bundeskabinett hat einen Verordnungsentwurf beschlossen, der vorsieht, dass die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen künftig immer frei vereinbart werden können. Die Verordnung enthält Honorarspannen als unverbindliche Orientierungswerte. Damit wird ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs umgesetzt, der die verbindlichen Mindest- und Höchsthonorare für Architekten und Ingenieure für unvereinbar mit EU-Recht erklärt hatte.
Die Voraussetzung eines berufsqualifizierenden Abschlusses des Tertiärbereichs bzw. beruflicher Erfahrung in leitender Position für die selbstständige Berufsausübung in bestimmten Handwerksberufen lockern.	2020 wurde für zwölf Handwerksberufe die Meisterpflicht wieder eingeführt (beispielsweise Behälter- und Apparatebauer sowie Betonstein- und Terrazzohersteller), die 2004 liberalisiert worden waren.
Pflichtmitgliedschaft in den Berufs- und Handwerkskammern und deren Selbstverwaltung im Hinblick auf Zutrittsschranken prüfen und Zulassungsvoraussetzungen nach Möglichkeit lockern.	Keine.
Die Rolle des Eisenbahnregulierers durch eine Ausweitung der Ermittlungs- und Interventionskompetenzen stärken. Zu einer vollständigen Ex-ante-Regulierung der Zugangsbedingungen übergehen.	Durch die Umsetzung des Vierten Eisenbahnpakets der EU in nationales Recht im Jahr 2020 wurden die Ermittlungs- und Interventionskompetenzen der Regulierungsbehörde gestärkt.
Die Analyse der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Rechtsvorschriften stärken. Ein Beratungsgremium einrichten, das mit der Identifizierung und Überprüfung regulatorischer Hindernisse für Produktivitätssteigerungen betraut werden sollte.	2019 wurde ein nationaler Ausschuss für Produktivität eingerichtet, der die Entwicklungen und Herausforderungen in den Bereichen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit analysiert. Diese Aufgabe wurde dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung übertragen.
Die Transparenz bezüglich der Rolle der Lobbys bei der Gestaltung neuer Gesetze und Rechtsvorschriften beispielsweise durch Angabe weiterer Informationen im Lobbyverzeichnis stärken.	Entsprechend einem Kabinettsbeschluss von November 2018 sollen alle im Rahmen von Konsultationen über Gesetzentwürfe und Rechtsvorschriften eingegangenen Lobbystellungnahmen im Lauf der Legislaturperiode veröffentlicht werden.

Eine Lockerung der Berufszugangsregelungen wird die Arbeitsmarktdynamik stärken

Die Berufszugangsregelungen betreffen einen großen Teil der Arbeitskräfte (Abbildung 1.14). Sie zielen darauf, die Verbraucher*innen zu schützen, indem Informationsasymmetrien reduziert und Kompetenzanforderungen standardisiert werden. Die meisten empirischen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Berufszulassungsregelungen wenig Einfluss auf die Qualität und den Erwerb von Kompetenzen haben. In Deutschland kann der Effekt auf die Motivation, Kompetenzen zu erwerben, wegen der engen Verzahnung mit dem dualen Ausbildungssystem allerdings stärker sein. Diese begrenzten Vorteile führen jedoch zu höheren Preisen, hauptsächlich aufgrund des eingeschränkten Wettbewerbs, was außerdem die Produktivität beeinträchtigt (Bambalaite, I., G. Nicoletti und C. von Rueden, 2020[34]). Außerdem verlangsamen Zugangsregelungen den Wechsel in ein neues Arbeitsverhältnis und halten die Löhne von Personen niedrig, die in einem bestimmten Bereich arbeiten wollen, aber keine Zulassung besitzen. In den europäischen Ländern ist der Besitz einer Zulassung mit einem um 5 % höheren Stundenlohn verbunden. Davon ist ungefähr ein Drittel auf Zugangsbeschränkungen zurückzuführen (Koumenta, M. und M. Pagliero, 2019[35]). In Deutschland ist der Einkommensvorteil in selbstständigen Handwerks- und verwandten Berufen (wie Friseur) mit 13 % ebenfalls höher (Bol, 2014[36]).

Abbildung 1.14. Ein großer Teil der Berufe erfordert eine Zulassung oder Zertifizierung

Anteil der Berufe, die eine Zulassung oder Zertifizierung erfordern, in Prozent, 2015

Anmerkung: Die Arbeitskräfte in zulassungspflichtigen Berufen gaben an, dass es rechtswidrig wäre, ihren Beruf ohne berufliche Zertifizierung, Zulassung oder Aufnahmeprüfung auszuüben. Die Arbeitskräfte in zertifizierten Berufen erklärten, dass sie eine Zulassung oder einen Befähigungsnachweis besitzen oder eine Prüfung bestanden haben, um ihren Beruf auszuüben. Es wäre jedoch nicht rechtswidrig, ihren Beruf ohne diese Voraussetzungen auszuüben. In Deutschland sind die Zugangsregelungen in den Bereichen Landwirtschaft und Handwerk sowie in technischen Berufen und personenbezogenen Dienstleistungen besonders streng. In den akademischen Berufen sind die Zugangsbeschränkungen vergleichbar mit den Hindernissen in den anderen europäischen Ländern.

Quelle: Koumenta und Pagliero (2017[37]), auf der Basis des EU Survey of Occupational Regulation.

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Die Liberalisierung der Handwerksordnung von 2004, in der die Qualifikationsanforderungen für Unternehmensgründungen im Handwerkssektor gesenkt wurden, führte in Deutschland fast zu einer Verdoppelung der Existenzgründungen (Rostam-Afschar, 2014[38]; Biewen, M., B. Fitzenberger und J. De Lazzer, 2017[39]). 2020 wurde die Meisterpflicht für 12 der 53 liberalisierten Handwerksberufe jedoch mit der Begründung wieder eingeführt, den Verbraucherschutz zu stärken und die Zahl der Ausbildungsplätze zu erhöhen. Die Regulierungsbehörden könnten stärker auf Zertifizierung anstelle von Zulassungen zurückgreifen und bei den Qualitätsstandards stärker bei den Dienstleistungen als bei den Arbeitskräften, die sie erbringen, ansetzen. Bewertungen auf digitalen Plattformen haben das Potenzial, Qualitätsstandards zu unterstützen, insbesondere wenn der Kauf einer Dienstleistung einen begrenzten Effekt auf andere hat (Farronato et al., 2020[40]). Die Bundesregierung sollte eine umfassende Analyse der reglementierten Berufe durchführen und prüfen, ob Zugangsbeschränkungen angesichts ihrer wirtschaftlichen Kosten noch gerechtfertigt sind. Weniger restriktive Berufszulassungsregelungen würden die Unternehmensdynamik stärken und die Preise senken. Zusammen mit den Schritten zur verstärkten Anerkennung informeller Kompetenzen (Kapitel 2) würde dies auch mehr Zugewanderten ermöglichen, ihre Kompetenzen zu nutzen.

Die Korruption ist niedrig, es gibt jedoch Spielraum, die Transparenz zu verbessern

Korruption schwächt das Wachstum, indem sie Unsicherheit bei Unternehmen schafft, Prozesse verlangsamt, Zusatzkosten verursacht und das Vertrauen in den Staat unterwandert. In Deutschland sind die Bestechungsraten niedrig (Abbildung 1.15). 2017 gaben nur 3 % der Deutschen an, einen Korruptionsfall erlebt zu haben, im Vergleich zu 5 % in der EU (Europäische Kommission, 2017[41]). Vetternwirtschaft und enge Verbindungen zwischen Unternehmen und Politik geben mehr Anlass zur Sorge. So ist beispielsweise ein hoher Anteil der Führungskräfte in Deutschland der Auffassung, dass Finanzspenden an politische Parteien als Gegenleistung für öffentlichen Einfluss ein weitverbreitetes Phänomen sind (Europäische Kommission, 2017[42]).

Deutschland gehört zu den Ländern, die das OECD-Übereinkommen zur Bekämpfung der Bestechung am strengsten durchsetzen. Deutschland nutzt verschiedene Quellen, um Fälle der Bestechung ausländischer Amtsträger aufzudecken, insbesondere Steuerbehörden. Es gibt aber dennoch Spielraum, den Rechtsvollzug zu verbessern, insbesondere durch die Einführung eines Systems der Einstellung von Verfahren gegen juristische Personen unter Auflagen und transparente Regeln für die Selbstanzeige durch Unternehmen. In Verbindung mit der grundlegenden Reform der Vermögensabschöpfung und der Schaffung eines bundesweiten Wettbewerbsregisters sollte das im Koalitionsvertrag zum Ausdruck gebrachte Ziel, die Höhe der gegen juristische Personen verhängten Bußgelder stärker am Umsatz des betroffenen Unternehmens auszurichten, dazu beitragen, die Sanktionen wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender zu gestalten.

Abbildung 1.15. Die wahrgenommenen Korruptionsrisiken sind gering

Anmerkung: Teil B zeigt die Punktschätzung und die Fehlermarge. Teil D zeigt die sektorbasierten Unterkomponenten des „Korruptionskontroll“-Indikators des Varieties of Democracy Project. Teil E fasst die Gesamtbeurteilung der praktischen Umsetzung des Informationsaustauschs zusammen, die sich aus Peer Reviews im Rahmen des Globalen Forums Transparenz und Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten ergibt. Peer Reviews beurteilen, inwieweit die Rechtsrahmen der Mitglieder in der Lage sind, die Transparenz ihrer Rechtsträger und Verfahren sicherzustellen und es ermöglichen, im Einklang mit dem international vereinbarten Standard mit anderen Steuerverwaltungen zusammenzuarbeiten. Die Abbildung zeigt die ersten Ergebnisse; eine zweite Runde ist im Gang.

Quelle: Teil A: Transparency International; Teil B und C: Weltbank, Worldwide Governance Indicators; Teil D: Varieties of Democracy Institute; University of Gothenburg und University of Notre Dame; Teil E: Berechnungen der OECD auf der Basis von Daten des Globalen Forums Transparenz und Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten.

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1.3. Steigerung der Wohlfahrt durch eine Anpassung der Fiskalpolitik

Die Fiskalpolitik sollte die Erholung stützen

Wenn die Erholung in sicheren Bahnen ist, muss die Rücknahme der fiskalischen Impulse behutsam angegangen werden. Der aktuelle fiskalpolitische Kurs ist mit rd. 140 Mrd. EUR (4¼ % des BIP) an diskretionären Ausgaben und Steuersenkungen im Jahr 2020 stark expansiv ausgerichtet. Dies ist angesichts des dramatischen Konjunktureinbruchs angemessen, zumal dank der umsichtigen Haushaltsführung der vergangenen Jahre fiskalischer Spielraum vorhanden ist und die EZB nur über begrenzte Möglichkeiten für eine weitere Lockerung der Geldpolitik verfügt. Der Haushalt weist kein strukturelles Defizit auf. Der Entzug der fiskalischen Unterstützung wird daher zu ungefähr gleichen Teilen auf einer Rücknahme der Konjunkturmaßnahmen und automatischen Stabilisatoren beruhen. Dies wird sich aber dennoch negativ auf das Wachstum auswirken. Ein Wiederinkrafttreten der Schuldenbremse (Kasten 1.4) ab 2022 würde dafür sorgen, dass der Schuldenstand selbst in einem adversen Wachstumsszenario wieder auf das Vorkrisenniveau von 60 % des BIP zurückginge (Abbildung 1.16, Teil A). Um aber bei einer schwachen Wachstumsentwicklung, z. B. bei weiteren Infektionswellen, 2022 die Schuldenbremse einzuhalten, wäre ein wesentlich drastischerer Defizitabbau erforderlich als nach der globalen Finanzkrise. Dies könnte die Erholung gefährden (Abbildung 1.16, Teil B). Eine mögliche Lösung wäre, wie bei der ursprünglichen Einführung der Schuldenbremse eine allmähliche Verringerung der Defizite zuzulassen. Eine Alternative wäre, genug Rücklagen zu bilden, um die Konsolidierung verträglicher zu gestalten.

Kasten 1.4. Fiskalregeln und Haushaltsziele für Deutschland

Im EU-Fiskalvertrag haben sich die Vertragsstaaten, darunter Deutschland, verpflichtet, mittelfristig eine strukturelle Defizitobergrenze von 0,5 % des BIP einzuhalten. Mitgliedstaaten, deren Schuldenstandsquote 60 % des BIP erheblich unterschreitet, können ein höheres strukturelles Defizit von bis zu 1 % des BIP ausweisen.

Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse schreibt für den Bund eine strukturelle Defizitgrenze von 0,35 % des BIP vor, während die Länder ab 2020 einen ausgeglichenen Haushalt ausweisen müssen. Abweichungen von der Obergrenze von 0,35 % für den Bund werden auf einem Kontrollkonto erfasst. Überschreitet ein etwaiger negativer Saldo des Kontrollkontos den Schwellenwert von 1 % des BIP, sind im Aufschwung Konsolidierungsmaßnahmen umzusetzen. Eine strukturelle Nettokreditaufnahme von mehr als 0,35 % des BIP ist nur zulässig, wenn – wie 2020 – eine Notsituation deklariert wird. Allerdings können aus Überschüssen früherer Jahre gebildete Reserven, wie z. B. die Flüchtlingsrücklage, genutzt werden, um vorübergehend höhere Ausgaben zu finanzieren. Die Möglichkeit, Überschüsse in die Folgejahre zu übertragen, sorgt für mehr Flexibilität. Dabei kann es sich um erhebliche Größenordnungen handeln: So belief sich die Flüchtlingsrücklage Ende 2019 auf 48 Mrd. EUR (1,4 % des BIP). Das Kontrollkonto, das im Gegensatz zu den Haushaltsreserven nicht für die Finanzierung struktureller Defizite von mehr als 0,35 % des BIP genutzt werden kann, wies Ende 2019 ein Guthaben von 52 Mrd. EUR (1,5 % des BIP) auf.

Bis 2020 hielt die Bundesregierung zudem an dem strikteren, selbstauferlegten Ziel eines nominal ausgeglichenen Haushalts, der sogenannten „Schwarzen Null“, fest. Wie auch bei der Schuldenbremse können Reserven genutzt werden, um das Ziel einzuhalten. Zudem können Sondervermögen und andere Nebenhaushalte eine Nettokreditaufnahme in einem gewissen Umfang ermöglichen.

Quelle: Bundesministerium der Finanzen, 2019, Deutsches Stabilitätsprogramm; Bundesministerium der Finanzen, 2015, Kompendium zur Schuldenbremse des Bundes.

Abbildung 1.16. Das zukünftige Konsolidierungstempo muss behutsam angepasst werden

1. Das Basisszenario beruht auf der Prognose des OECD-Wirtschaftsausblicks 108 und dem OECD Long-Term Economic Model. Die Schuldenbremse wird 2022 wieder in Kraft gesetzt. 2022 wird durch die Nutzung von Rücklagen ein Defizit in gewissem Umfang ermöglicht; ab 2023 wird ein kleiner struktureller Überschuss erwartet, da ein Finanzierungssaldo des Bundes von bis zu 0,35 % des BIP durch einen geringfügigen Gesamtüberschuss auf Länderebene kompensiert wird. Ebenfalls berücksichtigt sind die Zahlungen zur Tilgung der außerordentlichen Neuverschuldung während der Corona-Krise. 2023 wird sich die Erholung wegen der strukturellen Konsolidierung in diesem Jahr auf Basis eines fiskalischen Multiplikators von 0,75 verlangsamen. Danach wird unterstellt, dass das BIP in den darauffolgenden zehn Jahren geringfügig über der Potenzialrate wächst und gegen ein Potenzialwachstum von etwa 0,8 % konvergiert. Die Inflation dürfte sich bis 2024 der Marke von 1,8 % nähern und die Verzinsung der Staatsschulden dürfte sich allmählich auf 1,2 % im Jahr 2030 und 1,8 % im Jahr 2050 erhöhen. 2. Das adverse Szenario beruht auf dem Double-Hit-Szenario des OECD-Wirtschaftsausblicks 107. Dabei wird die Erholung durch die länger anhaltenden Auswirkungen einer erneuten Pandemiewelle gestoppt. Aufgrund von Scarring-Effekten verringert sich die Wirtschaftsleistung dauerhaft, weshalb für den Analysezeitraum ein um 0,2 Prozentpunkte niedrigeres Potenzialwachstum unterstellt wird. Die Schuldenbremse gilt ab 2022 wieder, allerdings wird 2022 vermehrt auf Rücklagen zurückgegriffen, um die Rückkehr zu einem kleinen strukturellen Überschuss zu erleichtern. 3. Im Szenario „ohne Kompensation der steigenden alterungsbedingten Kosten“ wird eine höhere Staatsverschuldung in Kauf genommen, um die Nettokosten zu decken, die dem Staat gemäß Projektionen der Europäischen Kommission durch den alterungsbedingten Anstieg der öffentlichen Renten-, Pflege- und Gesundheitsausgaben entstehen. 4. Im Szenario „höhere Investitionen“ wird eine dauerhafte schuldenfinanzierte Erhöhung der öffentlichen Investitionstätigkeit um 1 % des BIP gegenüber dem Basisszenario unterstellt. 5. Geschätzter Effekt der fiskalischen Impulse im ersten Jahr der höheren Investitionstätigkeit auf Basis der Schätzungen zu fiskalischen Multiplikatoren in der von Gechert, S. und A. Rannenberg (2018[43]) zusammengefassten Fachliteratur. Geschätzter Effekt der Kapitalvertiefung nach zehn Jahren auf Basis des OECD-Langfristmodells (zentrale Schätzung) und der Spanne der Schätzungen für ein Crowding-in und Crowding-out privatwirtschaftlicher Investitionen in Deutschland aus Afonso, A und M. St Aubyn (2008[44]).

Quelle: OECD-Berechnungen basierend auf dem OECD-Wirtschaftsausblick 107 und 108, OECD Long-Term Databases sowie Europäische Kommission (2018), The 2018 Ageing Report: Economic and Budgetary Projections for the EU Member States (2016-2070).

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Die Schuldenbremse war ein wirkungsvolles Instrument, um die Defizitneigung im Staatshaushalt zu beenden und die Verschuldung abzubauen. Dadurch wurde der fiskalische Spielraum geschaffen, der nun die außerordentlichen Krisenmaßnahmen ermöglicht. Bei niedrigen Realzinsen aber geht der Schuldenstand bei einem gegebenen Primärsaldo schneller zurück und die Kosten der Verschuldung sind geringer (Blanchard, 2019[45]). Daher wäre eine Fiskalregel, die bei ihrer Einführung 2009 angemessen war, nun restriktiver als nötig, um die Verschuldung langfristig wieder zu stabilisieren. Dies könnte sich jedoch erneut ändern, wenn die hohe globale Verschuldung die Zinsen in die Höhe treibt. Außerdem besteht eine Diskrepanz zwischen dem EU-Fiskalvertrag, der bei einer Schuldenstandsquote von weniger als 60 % höhere Defizite zulässt, und der Schuldenbremse, die auch dann eine weitere Konsolidierung vorsieht. Den Projektionen zufolge dürfte dieser Aspekt in den 2030er Jahren erneut relevant werden, wenn der Schuldenstand wieder unter die 60 %-Marke sinkt. In der Vergangenheit war die Haushaltsführung stets restriktiver als notwendig, um die Regeln der Schuldenbremse einzuhalten. Dies hat zwar zu einem erfolgreichen Schuldenabbau beigetragen, es muss aber darauf geachtet werden, dass die Ex-ante-Haushaltsplanung sinnvolle Ausgaben nicht verhindert. Um auf mittlere bis lange Sicht wachstumsorientierte öffentliche Investitionen zu fördern, könnte eine strukturelle Defizitobergrenze in Betracht gezogen werden, die bei niedrigeren Schuldenständen weniger streng ist, aber immer noch mit dem EU-Fiskalvertrag in Einklang steht. Dabei sind die politökonomischen Aspekte einer Änderung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse zu berücksichtigen.

Nach den Empfehlungen dieses Berichts würde 2022 eine behutsamere Konsolidierung umgesetzt und ein höheres Ausgabenniveau beibehalten Tabelle 1.6). Das Ergebnis wäre ein etwas höherer Schuldenstand. Die öffentlichen Investitionen, die in diesem Bericht empfohlen werden, um den Sanierungs- und Investitionsstau im Infrastrukturbereich aufzulösen und die Herausforderungen der Energiewende, der digitalen Transformation und der Bevölkerungsalterung zu meistern, könnten finanziert werden, ohne die Schuldentragfähigkeit zu gefährden. Zudem würden sie durch unmittelbare fiskalische Impulse und langfristige Kapitalvertiefung das BIP steigern (Abbildung 1.16, Teil C; Kasten 1.5). Die langfristigen Ausgabensteigerungen könnten noch stärker ausfallen: Eine Erhöhung der Ausgaben im Einklang mit dem Anstieg der alterungsbedingten Kosten (der bis 2050 1 % des BIP erreichen dürfte) ist den Projektionen zufolge mit einer Stabilisierung der Verschuldung unter 60 % des BIP vereinbar. Angesichts knapper Kassen während der Konsolidierungsphase ist die richtige Priorisierung der Ausgaben umso wichtiger. Wie im Wirtschaftsbericht Deutschland 2018 erörtert, sollten Spending Reviews umfassender eingesetzt (Tabelle 1.5) und in die Haushaltsverfahren integriert werden. Dies würde die Prioritätensetzung und die Reallokation von Mitteln erleichtern.

Tabelle 1.5. Frühere Empfehlungen und ergriffene Maßnahmen im Bereich der Fiskal- und Rentenpolitik

Empfehlungen	Ergriffene Maßnahmen
Spending Reviews generell auf Bundes- und Länderebene einführen und zur Reallokation von Mitteln zwischen großen Ausgabenbereichen nutzen.	Keine.
Zusätzliche Rentenansprüche auf die Verringerung von Altersarmutsrisiken ausrichten, z. B. indem die Leistungen der Grundsicherung bei steigenden Rentenansprüchen langsamer entzogen werden. Entsprechende Zusatzausgaben aus dem allgemeinen Steueraufkommen anstatt über höhere Beitragszahlungen finanzieren.	Ab 2021 tritt eine aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanzierte Grundrente in Kraft. Versicherte mit niedrigen Rentenansprüchen erhalten dann einen Rentenzuschlag. Anspruchsberechtigt sind Versicherte mit mindestens 33 Jahren an Pflichtbeitragszeiten. Der Grundrentenzuschlag steigt mit den berücksichtigten Beitragszeiten, bis bei 35 Jahren der maximale Aufstockungsbetrag erreicht wird. Einkommen der Versicherten werden erst oberhalb einer bestimmten Freigrenze auf den Grundrentenzuschlag angerechnet. Zudem wird die Grundrente dank besonderer Freibeträge bei der Grundsicherung im Alter und beim Wohngeld nicht voll angerechnet.
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbstständige einführen, die keine Altersvorsorge abgeschlossen haben. Allen Selbstständigen die Möglichkeit geben, sich in einer gesetzlichen Krankenkasse zu versichern.	Im Koalitionsvertrag vom 12. März 2018 wurde die Einführung einer Altersvorsorgepflicht vereinbart. An einem entsprechenden Gesetzesentwurf wird jedoch 2020 noch gearbeitet. Die Rentenkommission der Bundesregierung legte im Mai 2020 Empfehlungen für die Anpassung des Rentensystems vor. Dazu zählen u. a. die Einführung einer Altersvorsorgepflicht für Selbstständige sowie eine genderspezifische Folgenabschätzung bei Gesetzgebungsverfahren mit Wirkung auf die Alterssicherung (Kommission Verlässlicher Generationenvertrag, 2020[46]).
Das gesetzliche Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln.	Die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung wird bis 2031 schrittweise auf 67 Jahre angehoben. Die Rentenkommission hat die Einrichtung eines ständigen Alterssicherungsbeirats vorgeschlagen, der die Frage weiterer Reformen der Regelaltersgrenze nach 2026 prüfen soll.
Den bei einem Rentenaufschub gezahlten Zuschlag anheben und die Renten für erwerbstätige Rentenbezieher nicht kürzen.	Das Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben („Flexirentengesetz“) ermöglicht seit 2017 mehr Gestaltungs- und Kombinationsfreiheit beim Übergang vom Erwerbsleben in die Rente. So können beispielsweise Teilrente und Hinzuverdienst ohne Verlust von Rentenansprüchen kombiniert werden.
Die Verwaltungs- und Abschlusskosten staatlich geförderter privater Altersvorsorgeprodukte durch bessere Vergleichbarkeit der Anbieter verringern.	Seit 2017 müssen die Anbieter staatlich geförderter privater Altersvorsorgeprodukte die Effektivkosten der Produkte und die daraus resultierende Renditeminderung offenlegen.
Die Absicherung bei Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit verbessern, indem es beispielsweise leichter gemacht wird, legitime Ansprüche in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung durchzusetzen.	Mit einem 2019 in Kraft getretenen Gesetz wurden die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung bei Erwerbsminderung verbessert. Die Zurechnungszeit wird bis 2031 schrittweise auf das Alter von 67 Jahren angehoben. Durch die Zurechnungszeit werden Erwerbsminderungsrentner*innen so gestellt, als hätten sie bis zum Ende der Zurechnungszeit mit ihrem bisherigen durchschnittlichen Einkommen weitergearbeitet und Beiträge entrichtet.
Hindernisse für die Portabilität der Pensionsansprüche von Beamten beseitigen.	Keine.
Die Überwachung der Direktzusagen der Arbeitgeber in der betrieblichen Altersvorsorge stärken. Die Höhe der Beiträge zum Pensionssicherungsverein an Risikoindikatoren koppeln.	Keine.
Die Unfallversicherung und die Erwerbsminderungsrente stärker über Beitragsausgleichsverfahren finanzieren.	Keine.
Die privaten Krankenkassen in das auf dem Gesundheitsfonds basierende Finanzierungssystem integrieren.	Keine.
Die Sozialversicherungsbeiträge senken, insbesondere für Geringverdiener.	Die Obergrenze für Einkommen mit ermäßigten Sozialversicherungsbeiträgen (Midi-Jobs) wurde von 850 EUR auf 1 300 EUR angehoben. Seit 2019 wird der Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung zu gleichen Teilen vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen (zuvor vom Arbeitnehmer allein). Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verringerten sich 2019 und 2020 um jeweils 0,1 Punkte. Der Beitragssatz der Pflegeversicherung erhöhte sich 2019 um 0,5 Prozentpunkte. Im Juni 2020 wurde im Rahmen des Konjunkturprogramms eine aus dem Bundeshaushalt finanzierte Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge bei 40 % angekündigt.
Die Verwaltung des Steuereinzugs bei Steuern, die ganz dem Bund zufließen oder zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften aufgeteilt werden, von den Ländern auf den Bund übertragen.	Keine.
Die Steuersätze auf Kapitaleinkünfte der privaten Haushalte auf den Grenzsteuersatz der Einkommensteuer anheben, der für das übrige Haushaltseinkommen gilt.	Keine.
Einen gesunden Lebensstil durch eine Anhebung der Alkohol- und der Tabaksteuern sowie eine Überprüfung des Regulierungsrahmens fördern.	Die Beschränkungen für Tabakwerbung werden ab 2021 ausgeweitet. Ab 2023 gilt das Werbeverbot auch für Tabakerhitzer und ab 2024 für elektronische Zigaretten.

Tabelle 1.6. Potenzieller fiskalischer Effekt der OECD-Empfehlungen

	Budgeteffekt (p. a., in % des BIP)
	Kurzfristig (2022)	Langfristig (2040)
Schuldenfinanzierte öffentliche Investitionen weiter steigern	-1.0	-0.3
CO2-Preis auf mindestens 60 EUR/Tonne anheben1	0.2	0.0
Pendlerpauschale abschaffen	0.2	0.2
Transferentzugsrate absenken2	-0.2	-0.2
Die Besteuerung der Erwerbseinkommen verringern und im Gegenzug Erbschaftsteuerbefreiungen abschaffen, ermäßigte Mehrwertsteuersätze auf den Regelsatz anheben sowie Umweltsteuern, Grundsteuern und die Besteuerung von Kapitaleinkünften erhöhen	-0.1	0.0
Die Bemessungsgrundlagenhöchstgrenze der Forschungszulage auf 10 Mio. EUR anheben3	-0.04	-0.05
Insgesamt	-0.9	-0.4

1. Basierend auf einer Verdopplung des CO₂-Preises im Jahr 2022 von 30 EUR/Tonne auf 60 EUR/Tonne sowie einer Erhöhung der Einnahmen auf etwas weniger als das Doppelte aufgrund eines Rückgangs der Emissionen. 2. Konservative Schätzung auf Basis einer Anpassung des Arbeitsangebots und der Löhne sowie nicht anrechenbarer Einkommensfreibeträge (Bertelsmann Stiftung, 2017[47]). Andere Simulationen lassen einen positiven Budgeteffekt erkennen (Blömer, M., S. Litsche und A. Peichl, 2019[48]). 3. Über die von der Bundesregierung beschlossene vorübergehende Erhöhung auf 4 Mio. EUR hinaus.

Quelle: OECD-Berechnungen, (Bertelsmann Stiftung, 2017[47]).

Das Steuersystem umweltfreundlicher gestalten

Eine Verlagerung der Steuerlast von den Erwerbseinkommen auf Konsum, Umweltexternalitäten (Abbildung 1.17, Teil A), Immobilien und Kapitaleinkünfte könnte das Wirtschaftswachstum ankurbeln und soziale und ökologische Zielsetzungen erfüllen. Niedrige Erwerbseinkommen sind wegen der hohen Sozialversicherungsbeiträge einer erheblichen Steuer- und Abgabenbelastung ausgesetzt. Die Grundsteuer, die auf veralteten Einheitswerten basiert (die bis 2025 aktualisiert werden sollen), sowie Befreiungen von der Erbschaftsteuer und der Besteuerung von Kapitaleinkünften tragen zu einer hohen Vermögensungleichheit bei. Wie im Wirtschaftsbericht Deutschland 2016 ausgeführt, sollten die Steuersätze für die Kapitaleinkünfte privater Haushalte stärker an die Einkommensteuersätze angeglichen werden. Die Erbschaftsteuerbefreiungen für Familienunternehmen wiederum binden Kapital in den Unternehmen, was die Reallokation beeinträchtigt. Die Befreiungen wirken zudem regressiv: Die durchschnittliche effektive Erbschaftsteuerbelastung beträgt für Begünstigte, die weniger als 500 000 EUR erben, mehr als 10 %, während sie bei Erbschaften von 20 Mio. EUR und mehr nur bei 1,8 % liegt (DIW, 2016[49]).

Die mit dem Klimaschutzprogramm 2030 eingeführte Bepreisung von CO₂-Emissionen ist ein großer Schritt in die richtige Richtung, muss jedoch ambitionierter ausgestaltet werden. Ein wirksamer Emissionspreis würde im Zeitverlauf analog zu den globalen Kosten steigen. Damit wäre ein Anreiz für Unternehmen und private Haushalte gegeben, auf emissionsärmere Energieträger umzusteigen oder ihren Energieverbrauch zu senken. Emissionspreise können eine überproportionale Belastung einkommensschwacher Haushalte bewirken, die einen vergleichsweise höheren Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Energie ausgeben. Dies sollte direkt durch flankierende verteilungspolitische Maßnahmen, wie nachstehend erörtert, kompensiert werden. Die wirtschaftlichen Kosten einer moderaten CO₂-Bepreisung sind nach bisherigen Erkenntnissen gering: Auf der unterschiedlichen Rechtslage in Europa und Kanada basierende Befunde lassen im Allgemeinen keinen signifikanten Effekt der CO₂-Bepreisung auf die Beschäftigung oder das BIP-Wachstum erkennen (Metcalf, G. und J. Stock, 2020[50]). Empirische Untersuchungen stellen in der Regel keinen statistisch signifikanten Effekt auf die Wettbewerbsfähigkeit im Strom- und Industriesektor fest (Ellis, J., D. Nachtigall und F. Venmans, 2019[51]). Ferner zeigt die Erfahrung mit CO₂-Preisen in Frankreich, dass sie die Emissionen im Verarbeitenden Gewerbe verringern können, ohne Nettobeschäftigungsverluste zu verursachen (Dussaux, 2020[52]).

In Deutschland unterlag bislang weniger als ein Fünftel der Emissionen einem CO₂-Preis, der mindestens dem unteren Schätzwert der externen CO₂-Kosten im Jahr 2015 entspricht (Abbildung 1.17, Teil B). Die von der Bundesregierung vorgesehenen CO₂-Preise bleiben bis 2025 unter der Marke von 60 EUR/Tonne, die einen mittleren Schätzwert der CO₂-Kosten für 2020 und einen unteren Schätzwert für 2030 darstellt (OECD, 2018[53]). Die geplanten CO₂-Preise im Verkehrs- und Gebäudesektor dürften nicht ausreichen, um die Emissionsminderungsziele zu erreichen (Bach et al., 2020[54]; Umweltbundesamt (Hrsg.), 2020[6]; Prognos, 2020[7]). Noch drastischer wäre die Zielverfehlung bei einer Verschärfung der Emissionsminderungsziele für 2030 gemäß den neuen EU-Klimazielen. Durch einen Auktionsreservepreis oder eine CO₂-Preisstützung könnten Anreize für saubere Investitionen und zusätzliche Emissionsminderungen im Strom- und Industriesektor geschaffen werden, die im Europäischen Emissionshandel erfasst sind (Kasten 1.6).

Kasten 1.5. Simulation des potenziellen Effekts von Strukturreformen

Ausgehend von in der Vergangenheit beobachteten Zusammenhängen zwischen Reformen und Wachstum in OECD-Ländern wird der geschätzte Effekt wesentlicher Strukturreformvorschläge dieses Berichts ermittelt (Tabelle 1.7). Da bei diesen Simulationen die Details der Politikempfehlungen sowie die spezifischen institutionellen Gegebenheiten in Deutschland unberücksichtigt bleiben, sollten die Schätzungen nur zur Veranschaulichung dienen.

Tabelle 1.7. Illustrativer wirtschaftlicher Effekt von Reformvorschlägen in diesem Bericht, nach zehn Jahren

	Pro-Kopf-BIP (in %)	Beschäftigungsbedingter Effekt (in Prozentpunkten)	Produktivitätsbedingter Effekt (in Prozentpunkten)
Schuldenfinanzierte öffentliche Investitionen weiter steigern	1.1		1.1
Elternzeit für Väter verlängern¹	0.5	0.3	0.2
Die Besteuerung der Erwerbseinkommen verringern und im Gegenzug Erbschaftsteuerbefreiungen abschaffen, ermäßigte Mehrwertsteuersätze auf den Regelsatz anheben sowie Umweltsteuern, Grundsteuern und die Besteuerung von Kapitaleinkünften erhöhen	0.5	0.5
Mietpreisbeschränkungen lockern, um den Abstand zum Land mit den geringsten Einschränkungen (Finnland) zu halbieren²	0.9		0.9
Berufszugangsbeschränkungen lockern, um den Abstand zum Land mit den geringsten Einschränkungen (Schweden) zu halbieren	0.8		0.8
Grundkompetenzen durch bessere Lehrkräfte, eine spätere Aufteilung auf verschiedene Schulformen und eine Stärkung der allgemeinbildenden Inhalte in der beruflichen Bildung fördern³	0.1³		0.1
Die Bemessungsgrundlagenhöchstgrenze der Forschungszulage auf 10 Mio. EUR anheben	0.1		0.1
Insgesamt	4.0	0.8	3.2

1. Basierend auf einer vorübergehenden Steigerung der Erwerbstätigkeit und Produktivität von Frauen in den ersten drei Jahren nach der Geburt eines Kindes durch eine Erhöhung des Elternzeitanspruchs von Vätern um fünf Wochen, nach Patnaik (2019[55]), sowie einer entsprechenden Verringerung der Erwerbstätigkeit von Vätern. 2. Langfristige Produktivitätssteigerungen durch geringere Passungsprobleme am Arbeitsmarkt. 3. Der Nutzeffekt besserer Grundkompetenzen (Steigerung der durchschnittlichen PISA-Ergebnisse um 10 Punkte in 20 Jahren) steigt langsam an und macht nach 50 Jahren 5 % des BIP aus.

Quelle: OECD-Berechnungen auf Basis des Simulationsrahmens in Égert und Gal (2017), “The Quantification of Structural Reforms in OECD Countries: A New Framework”, OECD Economics Department Working Papers, No. 1354; Adalet McGowan und Andrews (2017), “Skills mismatch, productivity and policies: Evidence from the second wave of PIAAC”, OECD Economics Department Working Papers, No. 1403; Bambalaite, Nicoletti und von Rueden (2020), “Occupational entry regulations and their effects on productivity in services: Firm-level evidence”, OECD Economics Department Working Papers, No. 1605; Hanushek und Woessman (2010), The High Cost of Low Educational Performance: The Long-run Economic Impact of Improving PISA Outcomes, OECD Publishing.

Abbildung 1.17. Die umweltbezogenen Steuern sind niedrig und weniger als ein Fünftel der Emissionen unterlag 2015 einer nennenswerten CO₂-Bepreisung

Anmerkung: 30 EUR pro Tonne CO₂ ist ein unterer Schätzwert für die aktuellen gesellschaftlichen Kosten der CO₂-Emissionen. 60 EUR pro Tonne ist ein mittlerer Schätzwert für die CO₂-Kosten im Jahr 2020 sowie ein zukunftsbezogener unterer Schätzwert für die CO₂-Kosten im Jahr 2030.

Quelle: OECD (2018), Effective Carbon Rates 2018.

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Durch die Förderung der erneuerbaren Energien konnte die Stromerzeugung aus Erneuerbaren in den letzten 20 Jahren stark gesteigert werden (Abbildung 1.18). Finanziert wurde dies durch private Verbraucher und Industriekunden, deren Strompreise im Durchschnitt zu den höchsten im OECD-Raum zählen (IEA, 2019[56]). Überdies müssen einige Stromkunden höhere Belastungen schultern, weil mehr als 40 % des Stromverbrauchs der Industrie zumindest teilweise von der EEG-Umlage befreit ist. Der Umfang der Befreiungen ist angesichts des geringen Effekts, den die Emissionsbepreisung im Energiesektor auf die Wettbewerbsfähigkeit hat, nicht gerechtfertigt (Ellis, J., D. Nachtigall und F. Venmans, 2019[51]; Dechezleprêtre, A., D. Nachtigall und F. Venmans, 2018[57]). Die geplante Senkung der EEG-Umlage ist daher zu begrüßen. Dies ist nicht nur aus verteilungspolitischen Gründen sinnvoll (wie nachstehend erörtert), sondern fördert auch eine effizientere Emissionsminderung, weil ein Elektrifizierungshemmnis wegfällt.

Kasten 1.6. Europäischer Emissionshandel und Marktstabilitätsreserve

Das Europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS) trat 2005 in Kraft und erfasst CO₂-, N₂O- und PFC-Emissionen des Strom- und Industriesektors sowie des EWR-internen Luftverkehrs in 23 europäischen Ländern. Große Emittenten sind verpflichtet, eine ihrem Treibhausgasausstoß entsprechende Anzahl an Emissionszertifikaten zu halten. Wegen des hohen Anteils an Emissionen aus der Kohleverstromung wird etwa die Hälfte der deutschen Treibhausgasemissionen vom EU-ETS erfasst, verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 40 %. Über die 2019 eingeführte Marktstabilitätsreserve werden Zertifikate aus dem Markt genommen, wenn die Zahl der in Umlauf befindlichen Zertifikate bestimmte Schwellenwerte überschreitet. Ab 2023 ist auch die Löschung von Zertifikaten vorgesehen. Ziel der Marktstabilitätsreserve ist es, die Zertifikatspreise zu stabilisieren und den sogenannten „Wasserbetteffekt“ zu begrenzen, d. h. den Effekt, dass eine stärkere Emissionsminderung in einem Land höhere Emissionen in anderen Ländern ermöglicht.

Quelle: OECD (2018[53]); Flues, F. und K. van Dender (2020[58]); EUA (2019[59]).

Anreizmechanismen sollten durch eine umfassende Prüfung des Steuer- und Abgabensystems besser auf die Umwelt- und Klimaziele abgestimmt werden, wie im langfristigen Klimaschutzplan 2050 angekündigt. So wird etwa auf Diesel ein niedrigerer Steuersatz pro Liter erhoben als auf Benzin, obwohl die Verbrennung von Diesel höhere CO₂-Emissionen verursacht und gesundheitsschädlicher ist. Kohle und Heizöl werden niedriger besteuert als Erdgas. Die Energiesteuerbefreiung von Kerosin, das in der gewerblichen Luftfahrt genutzt wird, machte 2017 mehr als 7,5 Mrd. EUR aus (Zerzawy, F., S. Fiedler und A. Mahler, 2017[60]).

Abbildung 1.18. Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien hat stark zugenommen

Quelle: AGEB, https://ag-energiebilanzen.de/28-0-Zusatzinformationen.html.

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Bei der Verringerung der Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor wurden kaum Fortschritte erzielt (Abbildung 1.19). Der Motorisierungsgrad ist hoch und beim Umstieg auf Elektroautos liegt Deutschland hinter den meisten westeuropäischen Ländern zurück (Abbildung 1.20). Der Ausbau der Ladeinfrastruktur wird durch rechtliche Hemmnisse gebremst (Mattes, 2019[61]). Die nun beschlossenen Maßnahmen zum Ausbau des öffentlichen Verkehrswesens, zur Förderung der Elektromobilität (insbesondere durch die Erweiterung des Ladesäulennetzes und die Stärkung der Rechte zur Installation von Ladestationen in Wohngebäuden) und zur Besteuerung der CO₂-Emissionen im Verkehrssektor stellen einen Schritt in die richtige Richtung dar. Das Klimaziel für 2030 dürfte dennoch schwer zu erreichen sein.

Eine bessere Abbildung externer Effekte über Preissignale beim Fahrzeugkauf und bei der Straßennutzung könnte die Luftverschmutzung verringern, genauere Erkenntnisse über neue Kapazitätsbedarfe liefern und die Nachfrage auf nachhaltigere Mobilitätsoptionen verlagern. In Israel beispielsweise wurde die Kraftfahrzeugerwerbsteuer reformiert und an den Emissionen fünf maßgeblicher Luftschadstoffe ausgerichtet. Dies hat dazu geführt, dass 2014 rd. 83 % aller Neuzulassungen auf die günstigste Schadstoffklasse entfielen, verglichen mit einem Anteil von 19 % im Jahr 2009 (OECD, 2016[62]). Eine nach Schadstoffausstoß, Verkehrsaufkommen und verursachten Straßenschäden gestaffelte Straßennutzungsgebühr würde den wahren Kosten der Kraftfahrzeugnutzung besser Rechnung tragen. Sie könnte als Ersatz für die Einnahmen aus der Kraftstoffsteuer, die durch den Umstieg von konventionellen auf Elektrofahrzeuge sinken, zur Finanzierung der Infrastruktur genutzt werden. Die Politik sollte versuchen, die Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen, Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen bevorzugt durch nachhaltige Mobilitätsoptionen sicherzustellen, wie z. B. Fuß- und Radverkehr sowie öffentliche Verkehrsträger. Zugleich sollte in der Stadtplanung auf mehr räumliche Nähe zwischen Wohnen, Arbeit und Freizeitgestaltung geachtet werden (OECD, 2019[63]). Die Förderung von Telearbeit wäre ebenfalls hilfreich. Hierfür sind Maßnahmen zur Verbreitung von Best Practices in der Personalführung, Selbstmanagement- und IKT-Kompetenzen, Investitionen in Homeoffice-Arbeitsplätze sowie schnelles und verlässliches Breitbandinternet erforderlich (OECD, 2020[64]). Wie im Wirtschaftsbericht Deutschland 2018 ausgeführt, könnten Maßnahmen zum Ausbau IKT-basierter Ridesharing-Angebote den Übergang zu einer emissionsarmen Mobilität erleichtern, wenn dadurch ein Teil des motorisierten Individualverkehrs ersetzt wird (Tabelle 1.8). Die Automobilbranche spielt eine wichtige Rolle bei der Emissionsminderung, ist aber auch Risiken durch den damit einhergehenden Strukturwandel ausgesetzt (Kasten 1.2).

Abbildung 1.19. Die Emissionen im Verkehrssektor sind weniger zurückgegangen als in anderen Sektoren

Treibhausgasemissionen nach Sektoren, in Millionen Tonnen CO₂-Äquivalenten

1. Emissionen der Sektoren Private Haushalte, Gewerbe/Handel/Dienstleistungen, Landwirtschaft, Abfallwirtschaft und Sonstige.

2. Kurzfristprognose für 2018.

Quelle: Umweltbundesamt; Bundesgesetzblatt, Dezember 2019.

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Abbildung 1.20. Pkw-Nutzung

1. Batterieelektrische Fahrzeuge (BEV) und Plug-In-Hybridfahrzeuge (PHEV).

2. „Sonstige“ umfasst Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Griechenland, Irland, Island, Italien, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malaysia, Malta, Österreich, Polen, Rumänien, die Schweiz, die Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, die Tschechische Republik, die Türkei und Ungarn.

Quelle: Europäische Kommission, Transport in Figures, Statistical Pocketbook 2020; IEA (2020), Global EV Outlook 2020.

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Tabelle 1.8. Frühere Empfehlungen und ergriffene Maßnahmen zur Förderung eines umweltverträglichen Wachstums

Empfehlungen	Ergriffene Maßnahmen
Steuerbefreiungen und ermäßigte Energiesteuersätze abschaffen, sofern sie nicht der Vermeidung von Doppelbesteuerung dienen, insbesondere in den vom Europäischen Emissionshandel (EU-ETS) erfassten Sektoren.	Keine.
Ladeinfrastruktur ausbauen, um die Elektrifizierung des Straßenverkehrs zu fördern.	Mit dem Klimaschutzprogramm 2030 wurden die Förderprogramme des Bundes für den Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur erheblich ausgeweitet und im Rahmen des Konjunkturpakets vom Juni 2020 wurden weitere Finanzmittel in Aussicht gestellt. Die Bundesregierung hat zudem einen „Masterplan Ladeinfrastruktur“ beschlossen, um ein koordiniertes Vorgehen sicherzustellen.
Am Verkehrsaufkommen orientierte Straßennutzungsgebühren entwickeln.	Keine.
Regulatorische Hürden für Ridesharing-Dienste abbauen und ihre Integration in das öffentliche Verkehrswesen zulassen.	Das Verkehrsministerium arbeitet an einer Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes mit dem Ziel, bedarfsgesteuerte Beförderungsleistungen zu stärken und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen verschiedenen Verkehrsträgern sicherzustellen, nachdem es Uber im Dezember 2019 durch einen Gerichtsbeschluss untersagt wurde, seine Ride-Hailing-Dienste anzubieten.
Besteuerung von Stickoxidemissionen für große Emittenten einführen. Kfz-Steuer in Abhängigkeit von den Stickoxidemissionen erheben.	Keine.
Steuervergünstigungen für umweltschädliche Aktivitäten schrittweise abschaffen – ohne dadurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu beeinträchtigen – und Umweltsteuern stärker an negativen Externalitäten ausrichten. Beispielsweise sollten die Steuern auf Dieselkraftstoff erhöht werden.	Das im Herbst 2019 verabschiedete Klimaschutzprogramm 2030 umfasst die Einführung einer CO2-Bepreisung für die Sektoren Verkehr und Wärme. Vor Inkrafttreten des Systems 2021 sollen mit einem neuen Gesetz die geplanten Preiserhöhungen festgelegt werden. Zwischen 2021 und 2025 steigen die Preise schrittweise von 25 EUR/Tonne CO2 auf 55 EUR/Tonne CO2. Danach erfolgt der Einstieg in den Emissionshandel.

Der Ausstieg aus der Kohleverstromung ist für die Emissionsminderung von entscheidender Bedeutung

Die Kohleverstromung ist für einen Großteil der Treibhausgasemissionen in Deutschland verantwortlich. Sie ist auch der Hauptgrund dafür, dass die Pro-Kopf-Emissionen in Deutschland höher sind als in den meisten anderen europäischen OECD-Ländern. Der Bundestag verabschiedete im Juli 2020 ein Gesetzespaket zum Ausstieg aus der Kohleverstromung bis spätestens 2038, möglicherweise auch schon 2035.

Stärkere Preissignale könnten die Emissionen aus der Kohleverstromung bereits vor der endgültigen Stilllegung der Kraftwerke mindern. Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wird immer wettbewerbsfähiger; zudem zeigt die Abkehr von der Kohleverstromung 2019 bei einem CO₂-Preis von weniger als 30 EUR/Tonne im EU-ETS, dass die Emissionsminderungskosten bei einem Ausstieg aus der Kohleverstromung relativ niedrig sind, wie im letzten Wirtschaftsbericht Deutschland ausgeführt wurde. Die Kohleverstromung dürfte in erster Linie durch Stromerzeugung aus Erneuerbaren abgelöst werden. Zur Ergänzung kommen als emissionsärmere Brückentechnologie auch Gaskraftwerke zum Einsatz, die schnell hochgefahren werden können, wenn intermittierende erneuerbare Energien nicht zur Verfügung stehen. Durch den Ausstieg aus der Kohleverstromung dürfte sich auch die Lebensqualität verbessern, da die Zwangsumsiedlungen in Braunkohlerevieren beendet, Wälder erhalten und die Luftverschmutzung verringert werden. Der Abbau und die Verbrennung von Braunkohle sind für ungefähr die Hälfte der Quecksilberemissionen, ein Drittel der Schwefeldioxidemissionen und ein Zehntel der Stickstoffoxidemissionen in Deutschland verantwortlich (Öko-Institut, 2017[65]). Zunächst sollten prioritär Hemmnisse für den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien beseitigt werden (siehe weiter unten) und der Europäische Emissionshandel gestärkt werden, u. a. durch einen Mindestpreis. Dadurch wäre mehr Planungssicherheit für Investitionen in erneuerbare Energien gewährleistet.

Der Kohleausstieg wird zwar nur einen geringen Effekt auf die deutsche Wirtschaft als Ganzes haben, die negativen Auswirkungen konzentrieren sich aber auf relativ strukturschwache Regionen (Tabelle 1.9). Diese Regionen werden durch den Verlust der deutlich überdurchschnittlich entlohnten Arbeitsplätze im Bergbau und in der Energiewirtschaft empfindlich getroffen. Weitere indirekte Effekte werden sich bei Dienstleistungsunternehmen und Zulieferern bemerkbar machen. Die Braunkohleregionen hatten in der Vergangenheit Schwierigkeiten, den Niedergang des Bergbaus durch Ansiedlung neuer Industrien auszugleichen.

Tabelle 1.9. Die Braunkohleförderung ist in relativ strukturschwachen Regionen konzentriert

	Anteil der Braunkohlewirtschaft an der Bruttowert-schöpfung, 2016	Beschäftigte im Braunkohlesektor, 2018	Pro-Kopf-BIP in Euro, 2015	Arbeitslosen-quote, 2018	Gründungstätigkeit	Bevölkerungsdichte	Breitbandabdeckung in %, 2016
	In Prozent	In Prozent
Deutschland	0.1	0.05	37 128	5.2			75
Lausitzer Revier	4.3	2.0	28 434	6.7	Niedrig	Gering	52
Rheinisches Revier	2.4	1.2	32 769	6.4	Knapp unterdurchschnittlich	Teil eines dicht besiedelten Bundeslands	87

Anmerkung: Auch im Mitteldeutschen Revier und im Helmstedter Revier wird Braunkohle gefördert. Allerdings entfallen in diesen Revieren weniger als 0,3% der Gesamtbeschäftigung auf den Braunkohlesektor.

Quelle: Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (2019), Abschlussbericht; Stognief et al. (2019), Economic Resilience of German Lignite Regions in Transition; Agora Energiewende (2017), Die Deutsche Braunkohlenwirtschaft.

Die Entschädigung für betroffene Haushalte und Regionen erfordert eine sorgfältige Planung

Die Bundesregierung hat angekündigt, die Kohleregionen bis 2038 mit 40 Mrd. EUR zu unterstützen. Hinzukommen bis zu 5 Mrd. EUR an Anpassungsgeld für einen vorzeitigen Renteneintritt betroffener Arbeitnehmer. Die Bemühungen der Regierung, den Strukturwandel für die Regionen und die Beschäftigten gerecht zu gestalten, sind zu begrüßen, da regionale Effekte ansonsten die Anstrengungen zur Emissionsminderung behindern können. Die Finanzhilfen sind in erster Linie für Infrastrukturmaßnahmen und für die Förderung von Innovation und Beschäftigung vorgesehen. Ein solcher Ansatz, der auch gezielte regionalspezifische Maßnahmen einschließt, entspricht Best Practices. Er hat neben der Unterstützung der betroffenen Arbeitskräfte selbst auch die Stärkung der regionalen Wirtschaft und den Abbau von Ungleichheiten zum Ziel. Der Förderumfang ist jedoch beträchtlich. Legt man die Schätzungen der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (2019[66]) für die Arbeitsplätze in der Stein- und Braunkohlewirtschaft sowie die davon abhängigen Arbeitsplätze zugrunde, so beläuft sich die Förderung auf rd. 580 000 EUR je direkt und indirekt betroffenem Beschäftigten. Möglicherweise wäre ein Teil dieser Ausgaben ohnehin angefallen, da sie regionalen Ungleichheiten entgegenwirken und sich mit den Empfehlungen der „Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse“ decken. Wenn aber ein ähnlicher Ansatz auf breiterer Basis genutzt würde, könnten sich dadurch die fiskalischen Kosten für die Minderung der Treibhausgasemissionen bedeutend erhöhen.

Positiv zu werten sind auch die Bemühungen der Regierung, die Verteilungswirkung der CO₂-Bepreisung durch eine Senkung der Strompreise aktiv zu steuern. Auf diese Weise können benachteiligte Haushalte entlastet und die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöht werden. Die Senkung der Strompreise gleicht jedoch den Anstieg der Energiekosten durch die CO₂-Bepreisung nur zum Teil aus. Zudem werden einkommensschwache Haushalte immer noch am stärksten belastet (Bach et al., 2020[54]). Dies könnte durch Transferzahlungen in geringem Umfang an einkommensschwache Haushalte, beispielsweise über die Sozialsysteme, verhindert werden. Als weitere Maßnahme ist im Klimaschutzprogramm 2030 eine Erhöhung der Entfernungspauschale für Fernpendelnde vorgesehen. Stattdessen sollte die Pendlerpauschale ganz abgeschafft werden, da sie die Pkw-Nutzung und somit die Emissionen steigert und gutverdienende Pendler mit langen Arbeitswegen am stärksten entlastet (Edenhofer et al., 2019[67]).

Die Bundesregierung hat den Betreibern von Braunkohlekraftwerken Entschädigungen in Höhe von 4,35 Mrd. EUR zugesagt. Einerseits widersprechen diese Zahlungen dem Verursacherprinzip und erhöhen die fiskalischen Kosten der Emissionsminderung. Andererseits werden dadurch potenzielle zukünftige Kosten durch Rechtsstreitigkeiten vermieden. Mit den Zahlungen an die Kohlekraftwerksbetreiber, mit denen sie für entgangene Gewinne und den Verzicht auf rechtliche Schritte entschädigt werden, sollen Bedenken über die Risiken für Investoren durch politische Kurswechsel ausgeräumt werden. Staaten garantieren aber nicht, dass Rechtsvorschriften unverändert oder Vermögenspreise unbeeinträchtigt bleiben. Zudem haben die Marktteilnehmer die Maßnahmen der Politik zur Emissionsverringerung schon lange vorweggenommen. Durch einen Präzedenzfall für die Entschädigung großer Emittenten werden Anreize geschaffen, in andere umweltschädliche Branchen zu investieren. Wie das Beispiel des Carbon Price Support im Vereinigten Königreich zeigt, hätte ein ausreichend hoher CO₂-Preis die Kohleemissionen kostengünstiger mindern können. In diesem Fall erhielten unwirtschaftlich gewordene Stromerzeuger keine Entschädigung.

1.4. Zum Abbau des Investitionsstaus sind weitere Fortschritte notwendig

Konjunkturmaßnahmen sollten weiterhin zur Verbesserung der Infrastruktur eingesetzt werden, um durch die Ausweitung des Kapitalstocks langfristigen Nutzen zu erzielen. Insbesondere grüne Investitionen, wie z. B. in saubere physische Infrastruktur, bieten nicht nur erhebliches Klimaschutzpotenzial, sondern auch starke wirtschaftliche Multiplikatoreffekte (Hepburn et al., 2020[68]). Häufig handelt es sich bei grünen Investitionen um Investitionen des privaten Sektors, die auf klimapolitische Anreize zurückzuführen sind. Auch bei der öffentlichen Netzinfrastruktur, vor allem im öffentlichen Verkehrswesen, besteht jedoch Ausbaubedarf. Zwar hat die öffentliche Investitionstätigkeit seit 2014 zugenommen, auf kommunaler Ebene aber sind die Investitionen nach wie vor geringer als der Kapitalverzehr. Der kommunale Nettokapitalstock ist seit 2003 um rd. 80 Mrd. EUR geschrumpft (Abbildung 1.21). Dies hat zu einem Investitionsstau von geschätzt 147 Mrd. EUR geführt, von dem insbesondere die Verkehrs- und Schulinfrastruktur betroffen ist (KfW Research, 2020[69]). Oft wird in wirtschaftlich schwächeren Kommunen wenig investiert, da viele dieser Kommunen nicht genug finanziellen Spielraum haben, um ihre Investitionstätigkeit zu steigern (Fratzscher, M. et al., 2015[70]). Bardt et al. (2019[71]) schätzen, dass über die nächsten zehn Jahre öffentliche Investitionen in Höhe von 450 Mrd. EUR erforderlich sind, um den Sanierungsstau zu beseitigen, die frühkindliche Bildung und Ganztagsbeschulung auszubauen, eine weitgehende Dekarbonisierung zu erreichen, die Kommunikationsnetze zu verbessern und den demografischen Wandel abzufedern (Tabelle 1.10). Gemessen am BIP weist Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre eine der schwächsten staatlichen Investitionsquoten im OECD-Raum auf (Abbildung 1.22).

Abbildung 1.21. Öffentliche Investitionen gestiegen, aber kommunale Nettoinvestitionen immer noch negativ

Öffentliche Nettoinvestitionen¹ nach Gebietskörperschaften, in Prozent des BIP

1. Öffentliche Bruttoanlageinvestitionen abzüglich Abschreibungen.

Quelle: OECD National Accounts Statistics (Datenbank).

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Tabelle 1.10. Geschätzte öffentliche Investitionsbedarfe¹

Summe für die nächsten 10 Jahre

	Mrd. EUR
Infrastruktur auf kommunaler Ebene
Kommunale Infrastruktur²	147
Ausbau des ÖPNV	20
Bildung
Frühkindliche Bildung	50
Ausbau von Ganztagsschulen	9
Betrieb der Ganztagsschulen	25
Erhöhung der Ausgaben für Hochschulen und Forschungsförderung	25
Wohnungsbau
Staatlicher Anteil	15
Überregionale Infrastruktur
Breitbandausbau/5G	20
Bahn (Bundesanteil)	60
Ausbau Fernstraßen	20
Dekarbonisierung
Staatlicher Anteil	75
Summe	466

1. Unabhängige Schätzungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Umfasst auch staatliche Ausgaben, die nach der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht als öffentliche Investitionen gezählt werden, wie z. B. staatliche Ausgaben zur Förderung privater Investitionen (etwa Zuschüsse zur energetischen Gebäudesanierung) oder für Investitionen in Humankapital. 2. Hauptsächlich Straßen und Verkehrsinfrastruktur, Schulen, öffentliche Verwaltungsgebäude sowie Sport- und Kulturstätten. Fortgeschrieben mit Daten für 2020 (KfW Research, 2020[69]).

Quelle: Bardt et al. (2019), „Für eine solide Finanzpolitik – Investitionen ermöglichen!“, IW Policy Paper, Nr. 10/19.

Abbildung 1.22. Die staatliche Investitionsquote ist niedrig

Öffentliche Investitionen in Prozent des BIP, 2019 oder letztes verfügbares Jahr

Quelle: OECD Economic Outlook (Datenbank).

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Die Mittel für öffentliche Investitionen wurden erhöht, es muss jedoch mehr an die Kommunen fließen

Die zuletzt beobachtete Belebung der öffentlichen Investitionstätigkeit dürfte sich dank des Konjunkturprogramms (siehe Kasten 1.1) und der Aufstockung der Mittel für die öffentliche Verkehrsinfrastruktur fortsetzen. Auf längere Sicht könnte eine Reform der Schuldenbremse (siehe weiter oben) verhindern, dass eine wirksame Infrastrukturfinanzierung nach Ablauf der aktuellen Ausnahmeregelung durch eine allzu restriktive Fiskalpolitik behindert wird.

Finanzschwache Kommunen brauchen bei der Infrastrukturfinanzierung mehr Unterstützung durch den Bund. Umfragedaten zufolge erwarten 95 % der Kommunen, dass ihre Einnahmen infolge der Corona-Krise abnehmen. Gleichzeitig rechnen sie mehrheitlich mit einem Anstieg der Ausgaben – nicht jedoch der Investitionsausgaben (KfW Research, 2020[69]). Der Bund gewährt den Kommunen nun einen teilweisen Ausgleich für ihre vorübergehend gesunkenen Einnahmen und höheren Sozialausgaben. Zu diesem Zweck wurde u. a. die Bundesbeteiligung an den Unterkunftskosten für Arbeitsuchende (auf bis zu 75 %) erhöht. Zudem können gesetzlich vorgeschriebene Beiträge der Kommunen von den Ländern übernommen werden. Die Bundesregierung sollte die Finanzhilfen für Kommunen weiter aufstocken, da die 7 Mrd. EUR aus dem Kommunalinvestitionsförderungsfonds nicht ausreichen, um den Investitionsrückstand in nennenswertem Umfang zu verringern. Eine etwaige Übernahme kommunaler Schulden sollte jedoch von den Ländern verantwortet werden, da die Kommunalfinanzen unter die Zuständigkeit der Länder fallen und eine Schuldenübernahme durch den Bund Moral-Hazard-Probleme aufwerfen würde.

Die Politik sollte sich aktiv um die Beseitigung von Kapazitätsengpässen bemühen

Damit höhere Investitionsausgaben tatsächlich zum Bau neuer Infrastruktur führen, müssen Kapazitätsengpässe beseitigt werden. Die Corona-Krise könnte zwar in Teilen der Wirtschaft Kapazitäten freisetzen, zugleich könnten sich aber durch geringere Zuwanderung die personellen Engpässe in der Bauwirtschaft verschärfen. Die Regierung sollte Möglichkeiten einer stärkeren Flexibilisierung prüfen, z. B. durch eine Lockerung der Berufszulassungsregelungen (siehe weiter oben) und Erleichterungen bei der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in wichtigen Bauberufen.

Kapazitätsengpässe bestehen auch in den kommunalen Bauplanungsämtern. Die Beseitigung dieser Engpässe erfordert eine aktive Unterstützung durch den Bund, eine klare Festlegung der Zuständigkeiten für die fachliche Unterstützung sowie ein langfristiges Engagement. Die Zahl der kommunalen Beschäftigten in den Bereichen Bau, Wohnungswesen und Verkehrsinfrastrukturplanung ging von 1991 bis 2011 um ein Drittel zurück und verringerte sich von 2011 bis 2015 um weitere 9 %. (Gornig, V. und C. Michelsen, 2017[72]). Unter den europäischen Kommunen mit Investitionslücken im Infrastrukturbereich war der Anteil der Kommunen, die fachliche Kapazitäten als wesentliches Investitionshemmnis anführen, in Deutschland am höchsten (EIB, 2017[73]). Da Großprojekte, wie z. B. der Breitbandausbau, eher selten sind, stellt Partnerschaft Deutschland für die Kommunen eine effiziente Möglichkeit dar, ihr Know-how zu erweitern (Tabelle 1.11). Die Entwicklung lokaler Planungskapazitäten könnte durch zentralisierte Schulungen unterstützt werden, wie sie beispielsweise in Chile vom Ministerium für soziale Entwicklung und im Vereinigten Königreich von der Infrastructure and Projects Authority in Zusammenarbeit mit der Saïd Business School in Oxford angeboten werden (Global Infrastructure Hub, 2019[74]). Interkommunale Kooperation, wie etwa in Local Government Clusters in Neuseeland oder in kantons- und grenzüberschreitenden Projekten in der Schweiz, fördert die Bündelung von Kapazitäten, eine stärkere Spezialisierung, ein kohärenteres und effizienteres Vorgehen und den Erfahrungsaustausch (Allain-Dupré, D., C. Hulbert und M. Vincent, 2017[75]; NZ Productivity Commission, 2013[76]). Um Personal für eine Tätigkeit in den kommunalen Bauämtern zu gewinnen, ist Flexibilität bei der Vergütung und anderen Leistungen gefragt, damit der öffentliche Dienst attraktiver wird – der Markt für Bauingenieure ist leergefegt und das Verdienstgefälle zwischen der Bauindustrie und dem öffentlichen Dienst enorm (Grömling, M. und T. Puls, 2018[77]).

Tabelle 1.11. Frühere Empfehlungen und ergriffene Maßnahmen im Bereich der Infrastrukturinvestitionen

Empfehlungen	Ergriffene Maßnahmen
Gute kommunale Investitionsvorhaben u. a. durch Verbesserung der Verwaltungskapazität stärker fördern, insbesondere in Kommunen, die durch hohe Ausgabenverpflichtungen (z. B. für Transferzahlungen) belastet sind.	Der Großteil der Mittel aus dem 7 Mrd. EUR schweren Kommunalinvestitionsförderungsfonds ist mittlerweile verplant. Die Auszahlung der Mittel findet jedoch zeitverzögert statt, da sie erst nach Abschluss der Arbeiten erfolgt. Im Rahmen des Konjunkturprogramms gewährt der Bund den Kommunen einen Ausgleich für ihre Einnahmeausfälle. Zudem wurde die Bundesbeteiligung an bestimmten kommunalen Sozialleistungen dauerhaft erhöht. Die Kapazitäten von Partnerschaft Deutschland, Kommunen bei der konzeptionellen Planung und Strategieentwicklung, beim Management von Großprojekten und im Beschaffungswesen zu beraten und zu unterstützen, werden weiter ausgebaut.
Die Bewertung und Offenlegung langfristiger finanzieller Risiken bei Öffentlich-Privaten Partnerschaften der nachgeordneten Gebietskörperschaften verbessern. Erfahrungen zwischen verschiedenen Verwaltungsebenen sowie grenzüberschreitend austauschen und Verfahren harmonisieren.	Öffentlich-Private Partnerschaften werden nach wie vor nur selten genutzt. Das heißt, dass eine der Möglichkeiten, den Sanierungs- und Investitionsstau im Infrastrukturbereich abzubauen, nur unzureichend erschlossen ist.

Reformen im Bereich Infrastrukturplanung und -management könnten die Produktivität steigern

Solide Prozesse für Planung und Management von Infrastrukturinvestitionen gehen einher mit einem deutlich höheren Produktivitätswachstum bei Unternehmen, die in Infrastruktursektoren und Sektoren mit intensiver Infrastrukturnutzung tätig sind (Demmou, L. und G. Franco, 2020[78]). Insgesamt sind in Deutschland Infrastrukturplanung und -management gut, wie die trotz niedriger öffentlicher Investitionen relativ solide Infrastrukturqualität zeigt (Abbildung 1.23). Dennoch besteht stellenweise Verbesserungsbedarf, der angesichts steigender Investitionsausgaben noch dringlicher wird.

Erstens könnte die Auswahl der besten Infrastrukturprojekte durch eine systematischere strategische Planung unterstützt werden. Die im Juli 2020 verabschiedete OECD-Empfehlung zu Planung und Management von Infrastrukturinvestitionen betont die Bedeutung einer langfristigen strategischen Infrastrukturplanung, die sektorübergreifende Synergien berücksichtigt. Eine regierungsunabhängige Institution, die direkt an den Bundestag berichtet, sollte mit der Aufgabe betraut werden, in regelmäßigen Abständen einen langfristigen Infrastrukturplan zu erstellen und entsprechende Kosten-Nutzen-Analysen durchzuführen. Dieses Modell wird im Vereinigten Königreich und in Australien erfolgreich praktiziert. Die Einbeziehung aller Infrastrukturbereiche in einen gemeinsamen Plan erleichtert die Abstimmung zwischen den einzelnen Sektoren und Investitionsprojekten (ITF, 2017[79]). Dieses Vorhaben könnte auf der erfolgreichen Langfristanalyse des Bundesverkehrswegeplans 2030 aufbauen. Hierzu könnten weitere Sektoren einbezogen und ein unabhängiges Gremium mit beratender Funktion, aber ohne Entscheidungsbefugnisse, eingesetzt werden. Dies könnte auch Bauunternehmen außerhalb des Verkehrssektors die nötige Planungssicherheit verschaffen, um ihre Produktionskapazitäten auszuweiten. Eine unabhängige Institution könnte Projekte anhand von Kosten-Nutzen-Analysen priorisieren und somit verhindern, dass die Länder vorrangig ihre Partikularinteressen verfolgen (Bardt et al., 2014[80]). Sie könnte auch die Datenlage zum kommunalen Infrastrukturbestand und -zustand verbessern. Die Wirksamkeit eines solchen Organs hängt maßgeblich davon ab, dass seine Analysen die Grundlage für die parlamentarischen Verfahren zur Auswahl von Investitionsprojekten bilden und dass es über die entsprechende Sachkenntnis und Reputation verfügt, um Entscheidungen zu beeinflussen.

Zweitens müssen die Planungsverfahren gestrafft werden. Allzu aufwendige und regionalspezifische Planungsverfahren können Investitionen verzögern und werden manchmal von Kommunen genutzt, um Investitionsvorhaben zu blockieren, die auf Bundesebene beschlossen wurden. Beispielsweise genehmigte Dänemark Planungsänderungen bei der Festen Fehmarnbeltquerung im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens innerhalb von sechs Monaten, während Schleswig-Holstein drei Jahre für weitere Beteiligungs- und Planfeststellungsverfahren benötigte (Arup, 2017[81]). Einer Expertenbefragung zufolge zählt Deutschland zu den OECD-Ländern mit den größten regulatorischen/administrativen Hemmnissen bei der Infrastrukturplanung (Oprisor, A., G. Hammerschmid und L. Löffler, 2015[82]). Ein 2018 in Kraft getretenes Gesetz soll die Planungs- und Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich beschleunigen, ebenso wie das Maßnahmengesetz für eine Reihe von Verkehrsprojekten und der 2020 vorgelegte Entwurf eines Investitionsbeschleunigungsgesetzes. Daneben sollten weitere von der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (2019[66]) vorgeschlagene Maßnahmen in Erwägung gezogen werden. Dazu zählen die Koppelung der Klagebefugnis an die Wahrnehmung der Mitwirkungspflicht im Planfeststellungsverfahren, die Eingrenzung der Auswirkungen einzelner Planungsfehler, größere Rechtssicherheit sowie die Verkürzung der Klageinstanz und der Fristen bei Planfeststellungsverfahren.

Abbildung 1.23. Die Qualität der Infrastruktur ist relativ hoch

Bewertung der Infrastrukturqualität insgesamt, von 1 (niedrigster Wert) bis 7 (höchster Wert), 2017

Anmerkung: Die Wertung beruht auf der Einschätzung von Führungskräften der Wirtschaft, die gefragt wurden, wie sie den allgemeinen Zustand der Infrastruktur (z. B. in den Bereichen Verkehr, Kommunikation und Energie) in ihrem Land bewerten. [1 = extrem unterentwickelt – unter den schlechtesten weltweit; 7 = umfassend und effizient – unter den besten weltweit]

Quelle: Weltwirtschaftsforum, The Global Competitiveness Index Dataset 2007-2017.

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Drittens könnte eine bessere Datennutzung das Preis-Leistungs-Verhältnis im Beschaffungswesen verbessern. Staatliche Stellen sollten, im Einklang mit der OECD-Empfehlung zur Förderung evidenzbasierter Entscheidungsprozesse im Infrastrukturbereich (OECD, 2020[83]), Beschaffungsdaten systematisch erheben, analysieren und mit anderen Informationssystemen zusammenführen (vgl. Kapitel 2). Wie im Wirtschaftsbericht Deutschland 2016 ausgeführt, beeinträchtigt die mangelnde Koordinierung durch den Bund die Möglichkeiten der Kommunen, voneinander zu lernen. Deutschland verfügt über verschiedene zentralisierte Beschaffungsinstrumentarien. Eine stärkere Nutzung dieser Instrumente könnte die Effizienz und Effektivität des öffentlichen Beschaffungswesens steigern (OECD, 2019[84]). Unabhängige Beobachtungsstellen, wie beispielsweise bei Verkehrsprojekten in Frankreich, würden ein besseres Monitoring der Ergebnisse verschiedener Umsetzungsmodelle erleichtern.

Die Energiewende durch Netzreformen unterstützen

Verzögerungen beim Ausbau der Stromnetze, die auf den Widerstand der Öffentlichkeit zurückzuführen sind, gefährden die Fertigstellung neuer Nord-Süd-Verbindungen. Diese werden jedoch gebraucht, um die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien weiter zu steigern. Der Großteil der Windenergiekapazitäten befindet sich in Norddeutschland. Der Strombedarf ist dagegen in den Metropol- und Industrieregionen im Süden und Westen des Landes am höchsten. 2017 waren an 329 Tagen Maßnahmen zur Stabilisierung der Stromnetze erforderlich, die die Stromkunden Hunderte Millionen Euro kosteten (IEA, 2019[56]). Die jüngsten Reformen der Planungs- und Beteiligungsverfahren gehen in die richtige Richtung. Sie sehen eine Einigung auf prioritäre Stromtrassen im Vorfeld der Planung und eine bessere Koordinierung der Länder vor. Wenn Genehmigungsverfahren beschleunigt, Netzengpässe beseitigt und das Repowering von bestehenden Windkraftanlagen (das gegenwärtig eine neue Genehmigung erfordert) erleichtert würden, könnte der Zubau bei der Windkraft an Land bis 2024 um 40 % gesteigert werden (IEA, 2019[56]).

Bessere Preissignale würden die systemweiten Kosten senken und eine Priorisierung der wichtigsten Übertragungsnetzinvestitionen fördern. Momentan gelten bei der Errichtung neuer Stromerzeugungskapazitäten keine standortbezogenen Preissignale für den Netzzugang. Zudem sollte der Einsatz von zeitvariablen Preissignalen ausgebaut werden, um Anreize für nachfrageseitige Lösungen zu schaffen, wie etwa dezentrale Stromerzeugung, Speicherung und die Verlagerung flexibler Energiebedarfe, z. B. das Laden von Elektrofahrzeugen, auf Niedriglastzeiten. Voraussetzung dafür ist, dass schneller und in allen Haushalten intelligente Stromzähler installiert werden.

1.5. Deutschland ist im OECD-Raum Spitzenreiter beim Recycling, produziert aber auch viel Müll

Deutschland macht in der Klimapolitik und bei grünen Investitionen Fortschritte. Der Übergang zu einer stärker kreislauforientierten Wirtschaft würde den Rohstoffverbrauch und die Umweltbelastung verringern, da dadurch Verschwendung vermieden und Wiederverwendung, Recycling sowie gemeinsame Nutzung gefördert werden. Ein übermäßiger Einsatz von Primärstoffen geht mit einem hohen Energieverbrauch, Umweltverschmutzung durch Mülldeponien und Verbrennungsanlagen, Meeresmüll und einer toxischen Belastung von Ökosystemen aufgrund von unkontrollierter Abfallentsorgung einher (OECD, 2018[85]). Der Übergang könnte mit potenziell signifikanten positiven Effekten auf Wirtschaftswachstum und Gesamtbeschäftigung verbunden sein, zumindest aber ohne negative Effekte erfolgen (Mccarthy, A., R. Dellink und R. Bibas, 2018[86]).

Deutschland ist dank eines hohen Umweltbewusstseins der Bevölkerung, eines gut entwickelten Abfallmanagementsystems und einer langen Umweltrechtstradition im OECD-Raum beim Recycling führend. Das Land verfügt über hohe Recyclingstandards, und seit die Ablagerung von Abfällen mit hohem Heizwert auf Deponien im Jahr 2005 verboten wurde, werden so gut wie keine unbehandelten Abfälle deponiert. Die Finanzierung der erforderlichen Infrastrukturen wird durch Anwendung des Verursacherprinzips gewährleistet. Die umfassende Förderung umweltbezogener öffentlicher Forschung und Entwicklung, die sich in zahlreichen einschlägigen Patenten niederschlägt, trägt sowohl in Deutschland als auch auf globaler Ebene zur Verbesserung der Abfallwirtschaft und zur Minimierung der Schadstoffbelastung bei. 2019 wurden im neuen Verpackungsgesetz ehrgeizige Recycling-Ziele festgelegt. Das Gesetz schreibt darüber hinaus vor, dass sich Hersteller bzw. Inverkehrbringer bei einer neu geschaffenen nationalen Behörde (Zentrale Stelle Verpackungsregister – ZSVR) registrieren müssen, bevor sie Verpackungen auf den Markt bringen. Das Gesetz dürfte für mehr Transparenz sorgen und eine gerechte Aufteilung der anfallenden Kosten unter Herstellern gewährleisten. Eine im Jahr 2020 beschlossene Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes schreibt die Priorisierung recycelter Produkte in der öffentlichen Beschaffung vor, nimmt Hersteller im Hinblick auf die Verschmutzung des öffentlichen Raums stärker in die Pflicht und schränkt die Möglichkeiten von Händlern in Bezug auf die Vernichtung nicht verkaufter Waren ein.

Trotzdem hat sich das Abfallaufkommen nicht verringert. Im Gegenteil, das Gesamtabfallaufkommen ist zwischen 2010 und 2016 um 10 % gestiegen. Zurückzuführen war dies vor allem auf die Bau- und Abbruchabfälle, die fast 60 % des Gesamtabfallaufkommens ausmachen. Auch das Siedlungsabfallaufkommen ist höher als in den meisten anderen OECD-Ländern (Abbildung 1.24) und hat sich in den letzten Jahren kaum verändert. Deutschland recycelt zwei Drittel der anfallenden festen Siedlungsabfälle und hat damit nach dem derzeitigen Erfassungssystem die EU-Zielvorgabe einer Recyclingquote von 65 % im Jahr 2035 bereits erreicht. In jüngster Zeit haben sich die Recyclingquoten allerdings stabilisiert, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass sich zusätzliche Investitionen weniger lohnen. Um weiter oben in der „Abfallhierarchie“ anzusetzen, sollte Deutschland die Abfallvermeidung stärker fördern und größere Anstrengungen unternehmen, Wiederverwendung wirtschaftlich attraktiver zu machen.

Abbildung 1.24. Viel Recycling, aber auch viel Abfall

Behandlung von Siedlungsabfällen, kg pro Kopf, 2018 oder letztes verfügbares Jahr

1. Ohne Deutschland, Irland und Luxemburg; auf Basis des Pro-Kopf-BIP 2019 in jeweiligen KKP.

Quelle: OECD (2020), „Municipal Waste“, OECD Environment Statistics (Datenbank).

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Preisliche und steuerliche Maßnahmen, wie sie in Deutschland unter Anwendung des Verursacherprinzips ergriffen wurden, sind effektive und effiziente Instrumente zur Internalisierung von Umweltkosten und zur Schaffung von Anreizen für kreislaufwirtschaftliche Aktivitäten. Solche Maßnahmen fördern Technologie- und Geschäftsmodellinnovationen (Aghion, P. et al., 2016[87]) und können die Digitalisierung in der Abfallwirtschaft beschleunigen. Dass selbst ein geringer Preis einem übermäßigen Verbrauch entgegenwirken kann, zeigt das Beispiel der 2016 mit dem Handel getroffenen Vereinbarung, Plastiktüten kostenpflichtig zu machen: Im Folgejahr ging der Plastiktütenverbrauch um ein Drittel zurück (Europäische Kommission, o.J.[88]). Derartige Maßnahmen sind oft nur mit geringen Verwaltungskosten verbunden. In Irland z. B. konnte der Plastiktütenverbrauch durch die Einführung einer Plastiktütensteuer in Höhe von 15 Cent um etwa 90 % reduziert werden und die damit einhergehenden Verwaltungskosten beliefen sich nur auf 3 % der Steuereinnahmen (Convery, F., S. McDonnell und S. Ferreira, 2007[89]). Ein weiteres Beispiel sind Abwasserabgaben, die in Deutschland 1981 eingeführt wurden. Sie tragen zur Verbesserung der Abwasserbehandlung und zu einem Rückgang der Abwassereinleitungen bei (Rademaekers et al., 2011[90]).

Die Bauwirtschaft verursacht in Deutschland den größten Abfallstrom und ist damit eine wichtige Branche für kreislaufwirtschaftliche Ansätze. Rund 90 % der Bau- und Abbruchabfälle werden recycelt, im Gebäudesektor werden jedoch kaum Sekundärstoffe verwendet. Beim Recycling der Bau- und Abbruchabfälle werden folglich in erster Linie hochwertige Produkte in geringwertige Rohstoffe umgewandelt. Steuern oder Abgaben auf in der Bauwirtschaft verwendete neue Rohstoffe, wie Kies und Sand, könnten die Nachfrage nach recycelten Materialien ankurbeln (EUA, 2020[91]). In Dänemark, Schweden und dem Vereinigten Königreich wurde der Einsatz neuer Rohstoffe mit wirtschaftlichen Instrumenten reduziert (Söderholm, 2011[92]). Um die Auswirkungen auf die Wohnungsbaukosten abzufedern, könnten die Einnahmen zur Senkung der Abfallbehandlungskosten verwendet werden. Einem Marktversagen aufgrund unvollständiger Informationen können die Länder z. B. durch eine Subventionierung digitaler Lösungen zur Überwachung der Herkunft und Qualität von Bauprodukten und -materialien entgegenwirken (Börkey, P. und E. Barteková, erscheint demnächst[93]).

Das Haushaltsabfallmanagement könnte mit Steuern und Abgaben verbessert werden. Die Regierung hat sich vor Kurzem verpflichtet, die Lebensmittelverschwendung in Deutschland bis 2030 zu halbieren, da jährlich 55 kg Lebensmittel pro Kopf weggeworfen werden. Für die meisten Lebensmittel gilt ein reduzierter Mehrwertsteuersatz von 7 %. Eine Möglichkeit, Lebensmittelabfallvermeidung zu fördern, besteht darin, diese Steuervergünstigung schrittweise abzuschaffen und die Auswirkungen auf einkommensschwache Haushalte durch Sozialleistungen abzufedern. Dies würde auch zur Verringerung der Treibhausgasemissionen in der Viehzucht beitragen und den Verwaltungsaufwand und wirtschaftliche Verzerrungen verringern, wie im Wirtschaftsbericht Deutschland 2014 erörtert wurde (OECD, 2014[94]).

Ein noch stärkerer Rückgriff auf mengenabhängige Abfallgebührensysteme (Pay-as-you-throw-Systeme) als derzeit wäre ambitionierter, würde aber auch stärkere Anreize zur Abfallvermeidung schaffen. Korea führte 2013 ein verpflichtendes Recycling von Lebensmittelabfällen ein, für das spezielle biologisch abbaubare Müllsäcke verwendet werden. Damit konnte die Recyclingquote bei Lebensmittelabfällen auf 95 % gesteigert werden. Die Gebühren für die Müllsäcke bieten den Haushalten einen Anreiz zur Kompostierung der Abfälle und decken 60 % der Kosten des Systems (Weltwirtschaftsforum, 2016[95]). Die Stadt San Francisco erhebt bei privaten Haushalten und Unternehmen Abfallentsorgungsgebühren basierend auf Mülltonnengröße, Entsorgungshäufigkeit und Abfallart. Die Entsorgungsgebühren für die Restmülltonne sind etwa zehnmal so hoch wie die Gebühren für die Recycling- und Komposttonnen. Darüber hinaus bietet die Stadt auch Anreize, um zu verhindern, dass falsche Abfälle in die Recycling- und Komposttonnen geworfen werden. So können Unternehmen beispielsweise eine Gutschrift erhalten, wenn sie sicherstellen, dass keine falschen Abfälle in ihre Tonnen gelangen (Heinrich, 2017[96]).

1.6. Während der Erholung ist ein inklusiver und flexibler Arbeitsmarkt unerlässlich

Die Krise droht bestehende Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt zu verstärken. Geringverdienende und Frauen sind durch die steigende Arbeitslosigkeit besonders gefährdet, da sie in einigen stark betroffenen Branchen einen vergleichsweise hohen Anteil der Beschäftigten stellen (Abbildung 1.25). Zudem sind sie häufiger geringfügig beschäftigt und haben damit keinen Anspruch auf Kurzarbeit (Kalina, T. und C. Weinkopf, 2018[97]; Hammerschmid, A., J. Schmieder und K. Wrohlich, 2020[98]). Auch junge Arbeitskräfte sind gefährdet, weil es möglicherweise längerfristig weniger Neueinstellungen geben wird und ein Abschluss während einer Rezession langanhaltende Scarring-Effekte nach sich ziehen kann. Geringer qualifizierte Absolvent*innen beruflicher Bildungsgänge leiden besonders unter den ungünstigen Ausgangsbedingungen und werden sich künftig mit einer geringeren Beschäftigungsstabilität und dauerhaften Verdiensteinbußen konfrontiert sehen (Umkehrer, 2019[99]).

Abbildung 1.25. In einigen betroffenen Sektoren stellen Geringverdienende, Frauen und junge Arbeitskräfte einen hohen Anteil der Beschäftigten

Demografische und beschäftigungsbezogene Merkmale in verschiedenen Sektoren, 2018

Quelle: Eurostat, Verdienststrukturerhebung

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Während des Abschwungs sollte die Regierung Vorsicht walten lassen, wenn es darum geht, die Vorschläge für eine starke Mindestlohnanhebung und zur Stärkung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen umzusetzen. Durch die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 und dessen schrittweise Anhebung auf 9,35 EUR pro Stunde sind die Löhne am unteren Ende der Einkommensverteilung gestiegen, ohne dass dies negative Beschäftigungseffekte nach sich gezogen hätte (Caliendo, M., C. Schröder und L. Wittbrodt, 2019[100]). Während eines Abschwungs ist das Risiko negativer Effekte jedoch größer (Boeri, T., P. Cahuc und A. Zylberberg, 2015[101]). Diesen Risiken hat die zuständige, sozialpartnerschaftlich besetzte Mindestlohnkommission bei ihrer Empfehlung, den Mindestlohn ab 1. Januar 2021 zunächst auf 9,50 EUR und dann bis Mitte 2022 langsam schrittweise auf 10,45 EUR anzuheben, Rechnung getragen. Die Pläne des Arbeitsministeriums, die (freiwillige) Tarifbindung zu erhöhen, haben das Potenzial, die Beschäftigung anzukurbeln, und decken sich mit den Erfahrungen von OECD-Ländern in Bezug auf Tarifvertragssysteme mit „organisierter Dezentralisierung“, die durch ein hohes Maß an Koordination zwischen den Verhandlungspartnern gekennzeichnet sind (OECD, 2019[102]). Der Vorschlag einer weiteren Stärkung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen hingegen muss im Hinblick auf die Repräsentation der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, öffentliche Interessen und Flexibilität gut durchdacht werden, da er sowohl auf Unternehmen als auch auf Arbeitskräfte, die nicht Mitglied in Arbeitgeberverbänden bzw. Gewerkschaften sind, negative Auswirkungen haben könnte (OECD, 2018[103]).

Das Steuer- und Transfersystem sollte stärker auf die Förderung eines Aufstiegs in besser entlohnte Tätigkeiten ausgerichtet werden

Unter Geringverdiener*innen, die häufig in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt sind (Kalina, T. und C. Weinkopf, 2018[97]), ist die Aufstiegsmobilität bei den Löhnen gering (Grabka, M. und C. Schröder, 2019[104]). Etwa die Hälfte aller geringqualifizierten Arbeitskräfte ist im Niedriglohnbereich beschäftigt und ihre Verdienstmöglichkeiten würden sich durch eine Höherqualifizierung verbessern (Kapitel 2). Falls der derzeitige Abschwung anhält oder sich die Verbraucherpräferenzen verändern und eine Reallokation von Arbeitskräften auf Unternehmens- und Sektorebene erforderlich wird, ist es wichtig, die Fort- und Weiterbildung bzw. die Abstimmung von Arbeitsangebot und -nachfrage zu fördern. Aktive Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik sind in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs in der Regel effektiver und kommen insbesondere Frauen und Langzeitarbeitslosen zugute (Card, D., J. Kluve und A. Weber, 2018[105]).

Die Ausgestaltung bzw. der Entzug verschiedener Transfers bringen bei geringem Einkommen hohe effektive Grenzsteuersätze mit sich, sodass es sich nicht lohnt, mehr zu arbeiten und besser bezahlte Stellen anzunehmen (Bertelsmann Stiftung, 2017[47]). Bei kinderlosen Haushalten ist dies auf die hohen Transferentzugsraten in der Grundsicherung bei monatlichen Einkommen von mehr als 100 EUR zurückzuführen. Bei Haushalten mit Kindern könnte der Kinderzuschlag langsamer entzogen werden (OECD, 2014[94]). Trotz der vor Kurzem umgesetzten Kinderzuschlagsreformen sind die effektiven Grenzsteuersätze nach wie vor hoch (Abbildung 1.26). Ein langsamerer und besser koordinierter Entzug von SGB II-Leistungen, Kinderzuschlag und Wohngeld könnte die effektiven Grenzsteuersätze glätten bzw. senken und das Arbeitsangebot insgesamt erhöhen (SVR, 2019[27]). Dadurch würde die Einkommensspanne, bei der ein Leistungsanspruch besteht, ausgeweitet werden. Höhere Steuereinnahmen infolge eines Beschäftigungsanstiegs könnten die damit einhergehenden zusätzlichen Ausgaben aber teilweise ausgleichen. Dieser Ansatz könnte jedoch auch zu einem Rückgang der geleisteten Arbeitsstunden führen, insbesondere bei den Zweitverdiener*innen, bei denen es sich in der Regel um Frauen handelt (Bruckmeier, K., J. Mühlhan und J. Wiemers, 2018[106]). Dies ist generell ein Problem, wenn Transferleistungen am Haushaltseinkommen festgemacht werden (Immervoll, H. und M. Pearson, 2009[107]). Daher bleibt es auch in Zukunft wichtig, die Steuerbelastung von Zweitverdiener*innen wie in früheren Wirtschaftsberichten empfohlen (Tabelle 1.12) zu verringern, um die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen (OECD, 2018[108]). Erreicht werden kann dies z. B., indem ein gesonderter Steuerfreibetrag eingeführt wird und sich die Krankenkassenbeiträge nach der Zahl der erwachsenen Haushaltsmitglieder richten.

Abbildung 1.26. Das Transfer- und Sozialleistungssystem schafft kaum Anreize, mehr zu arbeiten

Effektiver Grenzsteuersatz bei Prozent des Durchschnittsverdiensts, 2019

Anmerkung: Die vertikale Achse zeigt den effektiven Grenzsteuersatz in Prozent für einen Verdienstanstieg um jeweils 10 Prozentpunkte bei unterschiedlichen Niveaus des Bruttoerwerbseinkommens. Die Szenarien mit Kindern beruhen auf der Annahme von zwei Kindern im Alter von 4 und 6 Jahren. Es wird unterstellt, dass sich die jährlichen Wohnkosten auf 20 % des Durchschnittsverdiensts belaufen. Für den OECD-Medianwert und OECD-Perzentilwerte wurden alle OECD-Länder mit Ausnahme Deutschlands berücksichtigt. Die Werte basieren auf den Bestimmungen, die am 1. Januar 2019 in Kraft waren. Die orange Kurve berücksichtigt auch die im Juli 2019 und 2020 umgesetzten Kinderzuschlagsreformen: Das Elterneinkommen wird seither zu 45 % statt bisher 50 % auf den Kinderzuschlag angerechnet und der abrupte Wegfall des Leistungsanspruchs wurde abgeschafft. Bei Alleinerziehenden wiederum werden die als Kindeseinkommen geltenden Unterhaltszahlungen nun zu 45 % statt zu 100 % angerechnet. Die Anhebung des Kinderzuschlags im Juli 2019 wurde nicht berücksichtigt.

Quelle: OECD-Berechnungen aus dem OECD-Steuer- und -Transfermodell, http://oe.cd/taxBEN.

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Tabelle 1.12. Frühere Empfehlungen und ergriffene Maßnahmen in den Bereichen Arbeitsmarktinklusion und Bildung

Empfehlungen	Ergriffene Maßnahmen
Die berufliche Qualifizierung ungelernter Erwachsener stärker fördern. Finanzielle Anreize dafür schaffen, dass Arbeitgeber Geringqualifizierten am Arbeitsplatz Lernmöglichkeiten bieten.	Das Qualifizierungschancengesetz, das seit 2019 in Kraft ist, stärkt die Weiterbildungschancen von Arbeitnehmern, deren Arbeitsplätze vom Strukturwandel betroffen sind oder die eine Weiterbildung in einem Engpassberuf anstreben, unabhängig von Alter, Qualifikation und Unternehmensgröße. Arbeitgeber können während der Weiterbildung von Beschäftigten einen Lohnkostenzuschuss erhalten. Mit dem Gesetz wurde darüber hinaus die Beratungsfunktion der Bundesagentur für Arbeit gestärkt. Im Jahr 2020 wurde das „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ verabschiedet, um die Weiterbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten im gegenwärtigen, mit Digitalisierung und Klimawandel einhergehenden Strukturwandel weiter zu stärken. Zu den im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zählen u. a. höhere Weiterbildungszuschüsse für Unternehmen, wenn ein größerer Anteil der Beschäftigten des Unternehmens eine Weiterbildung benötigt, eine Vereinfachung der Antragstellung sowie die Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Förderung einer beruflichen Nachqualifizierung von Arbeitnehmern ohne Berufsabschluss.
Mehr Weiterbildungsprogramme für eine modulare Qualifizierung im Rahmen des lebensbegleitenden Lernens anbieten und die Anerkennung am Arbeitsplatz erworbener Kompetenzen fördern. Sicherstellen, dass modulare Weiterbildungsangebote eine Vollqualifikation ermöglichen.	Im Rahmen des Pilotprojekts „ValiKom“ wurde ein Verfahren entwickelt, mit dem berufsrelevante Kompetenzen, die außerhalb des formalen Bildungssystems erworben wurden, bewertet und zertifiziert werden. Es stützt sich auf Selbsteinschätzung und Fremdbewertung, um erworbene Kompetenzen zu dokumentieren und die Gleichwertigkeit der Kompetenzen mit einem anerkannten Ausbildungsabschluss zu überprüfen. Ende 2018 startete das BMBF das Projekt ValiKom-Transfer, an dem 30 Kammern beteiligt sind und das die Validierungsverfahren auf weitere Berufe ausweitet. Im Juni 2019 vereinbarten die Partner der Nationalen Weiterbildungsstrategie, die Möglichkeit einer rechtlichen Verankerung des Validierungsverfahrens zu prüfen.
Transparenz des Erwachsenenbildungsmarkts verbessern und den Zugang zu Beratung über Erwachsenenfort- und -weiterbildung erleichtern. Die Ergebnisse der Programme zur finanziellen Förderung der Erwachsenenbildung genau verfolgen.	Die Nationale Weiterbildungsstrategie zielt darauf ab, breiten Bevölkerungsteilen den beruflichen Aufstieg zu erleichtern, die Fachkräftebasis zu stärken und die Beschäftigungsfähigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt nachhaltig zu fördern.
Der Kinderzuschlag, der Eltern gezahlt wird, die Wohngeld beziehen, sollte langsamer entzogen werden.	2019 wurde der Kinderzuschlag im Rahmen einer Reform von maximal 170 EUR pro Monat und Kind auf 185 EUR angehoben. Für Alleinerziehende wurde die Anrechnungsrate von Unterhaltszahlungen von 100 % auf 45 % gesenkt. Im Januar 2020 wurde der abrupte Wegfall des Kinderzuschlagsanspruchs abgeschafft und durch ein allmähliches Auslaufen des Leistungsanspruchs ersetzt, und die Anrechnungsrate von Elterneinkommen wurde von 50 % auf 45 % gesenkt.
Die Unterschiede beim Beschäftigungsschutz zwischen unbefristeten und befristeten Arbeitsverhältnissen verringern. Beschäftigungsschutzbestimmungen für reguläre Arbeitsverträge lockern, z. B. durch eine Verkürzung der Kündigungsfrist. Die Möglichkeiten zum Abschluss mehrerer aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge mit demselben Arbeitnehmer begrenzen und die Durchsetzung der Arbeitsstättenverordnung für Arbeitskräfte in nichtregulären Beschäftigungsverhältnissen stärken.	Die Überlassungshöchstdauer von Leiharbeitnehmern ist seit 2017 auf 18 Monate begrenzt.
Steuer- und Abgabenvorteile von Minijobs gezielt auf Geringverdiener ausrichten. Bei Ausübung mehrerer Beschäftigungen sollten keine Steuer- und Abgabenvorteile gewährt werden.	Keine.
Den Zugang von Zuwanderern zur Beschäftigung im öffentlichen Sektor verbessern.	Keine.
Schulungsmöglichkeiten und Anerkennung der Qualifikationen von Zuwanderern verbessern.	Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das seit 2020 in Kraft ist, wurden die Anerkennungs- und Verwaltungsverfahren vereinfacht und beschleunigt. Außerdem wurde in der Bundesagentur für Arbeit die Zentrale Servicestelle Berufsanerkennung eingerichtet, die Fachkräfte im Ausland in Bezug auf die Anerkennung berät. Ab 2019 wurde der Zugang zu Sprachkursen und Weiterbildungsförderungen verbessert.
Die aktuell zweimonatige Mindestelternzeit, die der zweite Elternteil nehmen muss, damit ein Paar die maximale Elterngeldbezugsdauer ausschöpfen kann, erhöhen.	Keine.
Die Einkommensteuerbelastung von Zweitverdienern reduzieren. Krankenkassenbeiträge an der Zahl der erwachsenen Haushaltsmitglieder ausrichten.	Keine.
Die Qualitätsstandards in der Kinderbetreuung und frühkindlichen Bildung anheben. Grundschulen zu qualitativ hochwertigen Ganztagsschulen ausbauen.	Das Gute-Kita-Gesetz wurde 2019 im Rahmen von Einzelverträgen mit den 16 Bundesländern umgesetzt. Damit werden bis 2022 Mittel in Höhe von 5,5 Mrd. EUR für Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität der Kindertagesbetreuung, zur Senkung der Kita-Gebühren und zur Anpassung der Kinderbetreuung an den Bedarf vor Ort bereitgestellt. Das Konjunkturpaket 2020 sieht für den Ausbau von Ganztagsschulen zusätzliche Mittel für Bundesländer vor, die 2020/2021 Mittel für Investitionen abrufen. Für den Ausbau der frühkindlichen Bildung im Jahr 2020/2021 werden zusätzliche Mittel in Höhe von 1 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt.
Schulen mit einem vergleichsweise hohen Anteil an Schülern mit ungünstigem sozioökonomischem Hintergrund sollten mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, insbesondere im Sekundarbereich I.	Für die im Jahr 2019 ins Leben gerufene gemeinsame Initiative von Bund und Ländern zur Unterstützung von Schulen im Primar- und Sekundarbereich I in sozial schwierigen Lagen „Schule macht stark“ werden ab dem Schuljahr 2021-2022 über einen Zeitraum von zehn Jahren 250 Mio. EUR bereitgestellt.
In Berufsschulen die allgemeinbildenden Fächer stärken und die starke Arbeitsmarktorientierung der Berufsbildung beibehalten. Absolventen beruflicher Bildungsgänge des Sekundarbereichs II den Hochschulzugang erleichtern.	Mit der Novelle des Berufsbildungsgesetzes werden 2020 international vergleichbare Abschlussbezeichnungen eingeführt, die Teilzeitberufsausbildung gestärkt und eine größere Durchlässigkeit bei aufeinander aufbauenden Berufsausbildungsprogrammen gewährleistet.

Reformen in der Wohnungsbaupolitik können zur Förderung von Arbeitskräftemobilität, Inklusion und Dekarbonisierung beitragen

Unter dem Einfluss günstiger Finanzierungsbedingungen, eines anhaltenden Wirtschaftswachstums, einer stärkeren Zuwanderung, einer wachsenden städtischen Bevölkerung und einer schwachen Angebotsreaktion (Abbildung 1.27) begannen die Wohnimmobilien- und Mietpreise 2011 rascher zu steigen als im OECD-Durchschnitt und ab 2016 beschleunigte sich der Anstieg. Zwar ist Wohnraum nach wie vor vergleichsweise erschwinglich, für einkommensschwache Haushalte stellen die Wohnkosten, einschließlich Neben- und Energiekosten, jedoch eine große Belastung dar (OECD, o.J.[109])_. Ein Anstieg der Mieten und Wohnimmobilienpreise zieht negative Verteilungseffekte nach sich, insbesondere in einem Land wie Deutschland, das einen hohen Mieteranteil aufweist (Causa, O., N. Woloszko und D. Leite, 2019[110]; Baldenius, T., S. Kohl und M. Schularick, 2019[111]). Die Zahl der erteilten Baugenehmigungen ist seit 2009 stetig gestiegen, was darauf schließen lässt, dass das Wohnungsangebot auf die Nachfrage reagiert und leicht steigt, wenngleich 2019 weniger Baugenehmigungen erteilt wurden als Mitte bis Ende der 1990er Jahre. Eine stärkere Angebotsreaktion auf Basis der umfassenden Wohnraumoffensive von 2018 (Tabelle 1.13) ist weiterhin von entscheidender Bedeutung.

Deutschland zählt zu den OECD-Ländern mit den höchsten Aufwendungen für Wohngeldzahlungen, weist aber einen geringen Sozialwohnungsbestand auf (Abbildung 1.28, Teil A). Transferierbare Wohngeldleistungen sind im Hinblick auf die Mobilität generell vorzuziehen, sie sind jedoch kein Garant für qualitativen Wohnraum und können zu einem Anstieg der Mietpreise führen (Kangasharju, 2010[112]). Die Fördermittel des Bundes für den sozialen Wohnungsbau in Höhe von 5 Mrd. EUR im Zeitraum 2018-2021 sowie 1 Mrd. EUR jährlich im Zeitraum 2022-2024 sind zu begrüßen, es ist allerdings wichtig, die Förderung stärker auf einkommensschwache Haushalte auszurichten (Teil B). Ein stärkerer Rückgriff auf die derzeit kaum genutzte Fehlbelegungsabgabe reicht angesichts des begrenzten Sozialwohnungsbestands möglicherweise nicht aus (Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2018[113]). Die Einführung regelmäßiger Bedürftigkeitsprüfungen und ein Übergang zu marktorientierten Mieten bei steigendem Einkommen würden Einnahmen für eine Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus generieren und Mieter*innen, deren Lebensbedingungen sich verbessert haben, dazu ermutigen, in andere Wohnungen zu ziehen. Eventuelle Fehlanreize, die eine ökonomische Besserstellung verhindern könnten, und die Auswirkungen auf die soziale Durchmischung der jeweiligen Wohngebiete müssten sorgfältig überwacht werden.

Schärfere Mietpreiskontrollen, wie der vor Kurzem in Berlin eingeführte Mietendeckel, sollten vermieden werden. Seit Einführung der Mietpreisbremse im Jahr 2015, die den Anstieg der Mietpreise in angespannten Märkten verlangsamt, ist Deutschland in puncto Mietpreiskontrolle am oberen Ende des Spektrums zu verorten (Abbildung 1.27, Teil B). Mietpreiskontrollen tragen zu einem ausgewogeneren Machtverhältnis zwischen Mieter*innen und Vermieter*innen bei, können aber auch mit negativen Effekten wie einer geringeren Bautätigkeit, weniger Sanierungen oder Fehlbelegungen einhergehen (OECD, 2020[114]). Neubauten sind von der Mietpreisbremse ausgenommen und negative Auswirkungen auf den Wohnungsbau wurden bislang nicht beobachtet (Mense et al., 2018[115]). Durch die Unsicherheit im Hinblick auf eine eventuelle künftige Ausweitung der Regelung könnte sich das Wohnraumangebot aber auf längere Sicht verringern. Eine Begrenzung der Mieten – insbesondere ein Mietenstopp – kann zu einer verstärkten Umwandlung von Mietwohnungen in selbstgenutzte Immobilien führen (Kholodilin, K. und S. Kohl, 2019[116]) und strenge mietrechtliche Bestimmungen behindern u. U. die Wohn- und Arbeitsmobilität (Causa, O. und J. Pichelmann, 2020[117]).

Abbildung 1.27. Das Wohnungsangebot reagiert kaum auf die Preise

Anmerkung: Teil A zeigt die geschätzte langfristige Angebotselastizität von 1980Q1 bis 2017Q4. In Teil B ist der Medianwert durch eine dicke schwarze Linie gekennzeichnet. Die hohen/niedrigen Werte der „Whisker“ entsprechen entweder 1,5 Mal dem Interquartilsabstand oder dem Extremwert der Stichprobe, je nachdem, was weiter vom Medianwert entfernt ist. Alle Indikatoren sind im Querschnitt mittelwertbereinigt und werden im Verhältnis zum Maximalwert ausgedrückt. Die Daten beziehen sich auf 2017 oder das letzte verfügbare Jahr, mit Ausnahme der Daten zu den erschließbaren Flächen und zur Veränderung der bebauten Fläche je Einwohner, die sich auf 1992 bzw. 1990 beziehen. Die Querschnittsstichprobe umfasst 25 Länder, außer beim Hilfsindikator Flächennutzungsrestriktionen (24 Länder) und beim Mietpreiskontrollindex (19 Länder). Der Grenzsteuersatz entspricht dem durchschnittlichen effektiven Grenzsteuersatz für Wohnungseigentümer, die ihre Wohnung ohne Kredit erwerben. Der Mietpreiskontrollindex stammt aus Kholodilin (2018_[25]). „Erschließbare Flächen“ entspricht dem Anteil der unbebauten Flächen ohne Wasseranschluss in den einzelnen Ländern im Jahr 1992. Der Hilfsindikator Flächennutzungsrestriktionen erfasst Bestand und Umfang der Flächennutzungsvorschriften auf nachgeordneten Verwaltungsebenen. Je höher der Indikatorwert, desto stärker dezentralisiert sind die Entscheidungen im Bereich der Flächennutzungsplanung, was erwiesenermaßen mit mehr Restriktionen einhergeht (Ahrend, R., C. Gamper und A. Schumann, 2014[118]). „Grundsteuer“ steht für den Anteil der Grundsteuer am Gesamtsteueraufkommen.

Quelle: Cavalleri, Cournède und Özsöğüt, (2019[119]).

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Abbildung 1.28. Der Bestand an Sozialwohnungen ist gering und die Förderung könnte zielgenauer ausgerichtet werden

Anmerkung: Geförderte Mietwohnungen sind alle Wohnungen, die unter Marktwert vermietet werden, einschließlich Sozialwohnungen, von Arbeitgebern bereitgestellte Wohnungen und Wohnungen mit gesetzlich festgelegten Mieten.

Quelle: OECD-Berechnungen auf der Basis der OECD Affordable Housing (Datenbank).

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Seit 2008 ist der Primärenergieverbrauch in Gebäuden um 16 % gesunken, was großenteils den hohen Effizienzstandards für Neubauten zuzuschreiben ist (IEA, 2020[120]). Bei den jüngsten Beratungen zur Bündelung verschiedener einschlägiger Bestimmungen zu einem einheitlichen Gesetz verzichtete die Regierung allerdings auf eine weitere Anhebung der Standards, u. a. um den Anstieg der Baukosten einzudämmen. Tatsächlich haben die Energieeffizienzstandards in der Vergangenheit, ähnlich wie andere Standards auch, zum Anstieg der Baukosten beigetragen (Holm, A. und C. Sprengard, 2015[121]; Walberg, D., T. Gniechwitz und M. Halstenberg, 2015[122]). Sie verringern aber auch die Energiekosten. Die Bundesregierung wird die aktuellen Standards 2023 überprüfen und dabei auch den Bau- und Lebenshaltungskosten Rechnung tragen. Auch andere bestehende Standards sollten unter Berücksichtigung der Klimaschutzziele überprüft werden, so z. B. die Standards für Parkierungsanlagen in Städten (BMUB, 2015[123]).

Soll Deutschland bis 2050 das Ziel eines fast klimaneutralen Gebäudebestands erreichen, muss die jährliche Rate energetischer Gebäudesanierungen von derzeit 1 % auf mindestens 1,5 % erhöht werden (dena, 2019[124]). Die bestehenden Zuschüsse für energetische Sanierungen wurden im Klimaschutzprogramm 2030 und im Konjunkturprogramm der Regierung erhöht, in Bezug auf die widersprüchliche Anreizstruktur, bei der die Vermieter*innen die Sanierungskosten tragen, während die Mieter*innen von niedrigeren Energiekosten profitieren, besteht jedoch Nachbesserungsbedarf. Mieterhöhungen nach Gebäudesanierungen sollten nicht auf den Sanierungskosten, sondern auf den Energieeinsparungen basieren, wie dies im niederländischen Sozialwohnungssektor der Fall ist (Müller et al., 2016[125]), damit die Transparenz erhöht und ein Anstieg der Bruttomieten vermieden wird (Weber, I. und A. Wolff, 2018[126]). Auch durch die Einführung von Mindeststandards für bestehende Gebäude in Kombination mit einer gezielten Unterstützung einkommensschwächerer Wohnungseigentümer könnten Sanierungsmaßnahmen gefördert werden. Im Vereinigten Königreich etwa dürfen Wohnungen der Energieeffizienzklasse F oder darunter nicht mehr vermietet werden (Economidou, M. und P. Bertoldi, 2015[127]).

Tabelle 1.13. Frühere Empfehlungen und ergriffene Maßnahmen im Bereich der Wohnungspolitik

Empfehlungen	Ergriffene Maßnahmen
In dynamischen Städten das Wohnraumangebot verbessern und die Nachverdichtung in städtischen Gebieten fördern, z. B. mit Anreizen zu einer kompakten Bebauung von Industriebrachen.	2018 wurde eine umfassende Wohnraumoffensive auf den Weg gebracht, mit dem Ziel, bis 2021 1,5 Millionen neue Wohnungen zu bauen. Die Maßnahmen, die direkt auf eine Erhöhung des Wohnraumangebots abzielen, sehen Bundesmittel in Höhe von 5 Mrd. EUR für die soziale Wohnraumförderung im Zeitraum 2018-2021 vor, die Aufnahme der Typengenehmigung in die Musterbauordnung, eine steuerliche Sonderabschreibung für den Mietwohnungsneubau bis 2021, eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren sowie eine Folgekostenabschätzung für neue Baustandards und -normen. Durch die Grundsteuerreform haben Kommunen ab 2025 die Möglichkeit, für baureife, unbebaute Grundstücke einen höheren Hebesatz festzulegen. Bei der Städtebauförderung rückt seit 2020 die nachhaltige Entwicklung stärker in den Fokus, was auch den Wohnungsbau auf Brachflächen einschließt.
Die Wertansätze für die Grundsteuer aktualisieren, zugleich aber einkommensschwache Haushalte schützen.	2019 wurde eine Grundsteuerreform verabschiedet, die 2025 in Kraft treten wird. Sie sieht eine Aktualisierung der Wertansätze vor, wobei nach wie vor Grundstücke und Gebäude als Bemessungsgrundlage dienen. Die Reform ist aufkommensneutral gestaltet. Außerdem wurde eine Öffnungsklausel eingeführt, die es den Bundesländern ermöglicht, eigene Regelungen zur Erhebung der Grundsteuer festzulegen, und die Möglichkeit geschaffen, für baureife unbebaute Grundstücke höhere Hebesätze vorzusehen.
Die Besteuerung von Kapitalerträgen auf Gewinne aus der Veräußerung von Wohnimmobilien ausweiten, außer im Fall von selbstgenutztem Wohneigentum.	Keine.

Die hohe Teilzeitquote von Frauen trägt zum großen Verdienstgefälle zwischen Männern und Frauen bei

Das unbereinigte Verdienstgefälle zwischen Männern und Frauen hat sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert und lag 2019 bei 20 % (Statistisches Bundesamt, 2020[128]). Bei den Vollzeitbeschäftigten war der Verdienstabstand mit 16,2 % geringer, was darauf schließen lässt, dass Unterschiede bei der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ein Erklärungsfaktor sind (Abbildung 1.29, Teil A). Die sektorale und berufliche Segregation erklärt etwa 30 % des Verdienstgefälles, da Frauen in Niedriglohnbranchen bzw. ‑tätigkeiten überrepräsentiert sind (Boll, C. und A. Lagemann, 2018[129]). Am geringsten ist das geschlechtsspezifische Verdienstgefälle bei jungen Beschäftigten (Schrenker, A. und A. Zucco, 2020[130]). Es steigt, wenn Frauen das Gebäralter erreichen (Teil B). All dies trägt dazu bei, dass das geschlechtsspezifische Rentengefälle eines der höchsten in der EU ist und das Lebenserwerbseinkommen von Frauen und insbesondere Müttern deutlich niedriger ausfällt als das von Männern (Bönke et al., 2020[131]). Die Beschäftigungsquote ist vergleichsweise hoch, aber der hohe Anteil teilzeitbeschäftigter Frauen ist einer der Erklärungsfaktoren für den geschlechtsspezifischen Verdienstabstand (Abbildung 1.30, Teil A). Mit Kindern steigt die Inzidenz von Teilzeitarbeit (Teil B), da Frauen mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufwenden (OECD, 2017[132]).

Abbildung 1.29. Bei den Vollzeitbeschäftigten kaum verändertes Verdienstgefälle zwischen Männern und Frauen in den letzten zehn Jahren

Anmerkung: Das Verdienstgefälle zwischen Männern und Frauen wird definiert als die Differenz zwischen dem Verdienst von Männern und Frauen, geteilt durch den Verdienst von Männern.

1. Als Vollzeitbeschäftigte gelten Arbeitskräfte mit einer regulären Wochenarbeitszeit von mindestens 30 Stunden.

2. Für Dänemark, Korea, Norwegen und die Slowakische Republik beziehen sich die Daten für 25- bis 29-Jährige auf 1998 (anstatt 1999); für Irland auf 1997. Für Australien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Korea, Norwegen, Österreich und die Slowakische Republik beziehen sich die Daten für 35- bis 39-Jährige auf 2008 (anstatt 2009); für Belgien, Irland und die Tschechische Republik auf 2007. Für Österreich bezieht sich die Altersgruppe 25-29 Jahre auf 20- bis 29-Jährige und 35-39 Jahre auf 30- bis 39-Jährige.

Quelle: OECD (2020), Gender wage gap (Indikator); OECD (2013), Gleichstellung der Geschlechter – Zeit zu handeln.

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Seit 2019 besteht ein Rechtsanspruch auf Brückenteilzeit, der es Beschäftigten ermöglicht, nach einer Phase in Teilzeit zur Vollzeitbeschäftigung zurückzukehren. Es ist aber noch zu früh, um Auswirkungen der Maßnahme zu beobachten. Gleitzeit- und Telearbeitsregelungen gehen erwiesenermaßen mit einem Rückgang der Teilzeitquote von Müttern einher (Chung, H. und M. van der Horst, 2018[133]). Die Ausweitung der Telearbeit während der Pandemie hat deutlich gemacht, dass bislang viel Homeoffice-Potenzial ungenutzt blieb, und dies könnte dazu führen, dass Unternehmen und Arbeitskräfte künftig häufiger auf Telearbeitsregelungen zurückgreifen (Grunau, P., S. Steffes und S. Wolter, 2020[134]; Alipour, J., O. Falck und S. Schüller, 2020[135]). Die Politik könnte solche Regelungen weiter stärken, indem sie gegebenenfalls allen Beschäftigten einen gesetzlichen Anspruch auf flexible Arbeitsregelungen einschließlich Homeoffice gewährt oder die Sozialpartner dazu ermutigt, flexible Arbeitsformen tarifvertraglich zu verankern (OECD, 2017[136]). In den Niederlanden haben Arbeitnehmer das Recht, flexible Arbeitszeiten zu beantragen. Und von den Arbeitgebern wird erwartet, dass sie diesen Anträgen stattgeben, sofern kein schwerwiegender Grund dagegenspricht. Durch die Förderung flexibler Arbeitsregelungen kann die Lebensqualität sowohl von Frauen als auch Männern erhöht und das hohe geschlechtsspezifische Verdienstgefälle reduziert werden, insbesondere in Berufen, in denen lange Arbeitszeiten überproportional entlohnt werden (Zucco, 2019[137]). Auch Maßnahmen zur Förderung eines höheren Frauenanteils in MINT- und IKT-Berufen könnten zu einer Verringerung des Verdienstgefälles beitragen, da diese Tätigkeiten in der Regel gute Verdienstmöglichkeiten bieten und eine hohe Homeoffice-Eignung aufweisen (Kapitel 2).

Abbildung 1.30. Frauen arbeiten häufig in Teilzeit, insbesondere Mütter

Quelle: OECD Labour Force Statistics (Datenbank); OECD-Berechnungen basierend auf GSOEP v34.

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Bei Familienpolitik und Kinderbetreuungsmaßnahmen ist Deutschland auf dem richtigen Weg, von einer gerechten Aufgabenteilung ist man jedoch noch ein Stück weit entfernt

Die COVID-19-Pandemie hat deutlich gemacht, dass flexible Arbeitsregelungen kein Ersatz für Kinderbetreuungseinrichtungen sind. Dank des bereits erfolgten Ausbaus von Kitas und Ganztagschulen sind die Teilnahmequoten auf bzw. über den OECD-Durchschnitt gestiegen und die Erwerbsbeteiligung von Müttern hat sich erhöht (Gambaro, L., J. Marcus und F. Peter, 2019[138]; Zimmert, 2019[139]). Trotzdem konnte 2018 der Betreuungsbedarf von 12 % der Eltern mit Kindern unter 3 Jahren nicht gedeckt werden (Alt, C. et al., 2018[140]) und die Betreuungslücke weitet sich aus (Geis-Thöne, 2020[141]). Auch 6 % der Eltern mit Kindern im Vor- oder Grundschulalter benötigten längere Betreuungszeiten. Der geplante Ausbau ist also zu begrüßen, es muss jedoch noch mehr getan werden. In Zukunft wird es auf die Flexibilisierung der Betreuungszeiten ankommen. Einige Bundesländer planen im Rahmen von Verträgen mit der Bundesregierung, die Öffnungszeiten an den Betreuungsbedarf der Eltern anzupassen oder die Inanspruchnahme von Tagesmüttern und Tagesvätern zu fördern, die dank kleinerer Gruppen eine bedarfsgerechte und flexible Betreuung anbieten können.

Wenn keine Maßnahmen zur Erhöhung des Fachkräfteangebots ergriffen werden, könnte es bei einem raschen Ausbau der frühkindlichen Bildung zu Personalengpässen kommen. Bis 2030 wird Deutschland möglicherweise fast eine halbe Million zusätzlicher Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung benötigen, was deutlich über der in diesem Zeitraum erwarteten Zahl an Absolvent*innen einschlägiger Ausbildungen liegt (OECD, 2019[142]). Die Gehälter frühpädagogischer Fachkräfte, bei denen es sich zum überwiegenden Teil um Frauen handelt, sind relativ niedrig (Oberhuemer, P. und I. Schreyer, 2017[143]). Höhere Gehälter und bessere Karrierechancen könnten helfen, mehr Fachkräfte zu gewinnen, und zur Verringerung des Verdienstgefälles zwischen Männern und Frauen beitragen.

Durch eine Ausweitung der Elternzeit für Väter könnte eine partnerschaftliche Aufteilung der Kinderbetreuung gefördert und die Frauenerwerbstätigkeit erhöht werden (Huerta et al., 2013[144]; Tamm, 2019[145]; Patnaik, 2019[55]). Seit Einführung von mindestens zwei „Vätermonaten“ bei einem Elterngeldbezug von 14 Monaten im Jahr 2007 gehen deutlich mehr Väter in Elternzeit (Abbildung 1.31) und dank Elterngeld Plus, bei dem Elternzeit und Teilzeiterwerbstätigkeit kombiniert werden können, nehmen Väter offenbar etwas länger Elternzeit (Samtleben, C., C. Schäper und K. Wrohlich, 2019[146]). Trotzdem wird die Elternzeit immer noch zum überwiegenden Teil von Frauen in Anspruch genommen (Statistisches Bundesamt, 2018[147]). Es wäre möglich, die Mindestelternzeit des zweiten Elternteils zu erhöhen, wie dies im letzten Wirtschaftsbericht Deutschland empfohlen wurde (OECD, 2018[108]). Angesichts der Tatsache, dass Väter häufig angeben, aus finanziellen Gründen nicht länger Elternzeit zu nehmen (Samtleben, C., C. Schäper und K. Wrohlich, 2019[146]), könnten zudem die finanziellen Anreize gestärkt werden, zumal sowohl die Gesamtausgaben für Elterngeld als auch die Lohnersatzquoten für Väter in Elternzeit in Deutschland nur in etwa dem OECD-Durchschnitt entsprechen (OECD, o.J.[148]; OECD, o.J.[149]).

Abbildung 1.31. Beteiligung der Väter an der Elternzeit über dem OECD-Durchschnitt

Empfänger*innen des staatlichen Elterngelds bzw. Nutzer*innen der staatlichen Elternzeit, 2016

Anmerkung: Die Daten beziehen sich auf Empfänger*innen des staatlichen Elterngelds bzw. Nutzer*innen der staatlichen Elternzeit. Personen, die einen Mutterschafts- oder Vaterschaftsurlaub in Anspruch nehmen, wurden nicht berücksichtigt, es sei denn, dass im betreffenden Land nicht zwischen diesen beiden Optionen unterschieden wird (z. B. Island, Portugal). Die Daten beziehen sich nur auf Personen, die staatliche Programme in Anspruch nehmen, und nicht auf Personen, die ausschließlich arbeitgeberfinanzierte Elternzeit- oder Elterngeldprogramme nutzen. Die Daten für Deutschland beziehen sich auf 2015.

Quelle: OECD Family Database (Datenbank).

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Frauen sind in Führungspositionen nach wie vor in der Minderheit

Der geringe Frauenanteil in Führungspositionen trägt ebenfalls zum geschlechtsspezifischen Verdienstgefälle bei (Abbildung 1.32). Dank der 2015 eingeführten Frauenquote für Aufsichtsräte hat sich der Frauenanteil dort auf etwa 35 % erhöht, es gibt jedoch selbst in den von der Quotenregelung betroffenen Unternehmen nach wie vor nur wenige weibliche Führungskräfte (Kirsch, A. und K. Wrohlich, 2020[150]). In der im Juli 2020 beschlossenen nationalen Gleichstellungsstrategie wurden neun Ziele festgelegt, darunter die Förderung eines höheren Frauenanteils in Führungspositionen und Aufsichtsräten. Gegenwärtig diskutiert die Regierung den Vorschlag, die Frauenquote für Aufsichtsräte auszuweiten. Entgelttransparenzgesetze sind ein weiteres wichtiges Instrument zur Förderung der Geschlechtergleichstellung. Erste Daten zum 2017 in Deutschland beschlossenen Entgelttransparenzgesetz lassen auf Nachbesserungsbedarf schließen, da nur wenige Beschäftigte von ihrem Recht Gebrauch machen, Auskunft über das Entgelt von Kolleg*innen zu verlangen, und zahlreiche Unternehmen ihren Berichtspflichten nicht nachkommen (BMFSFJ, 2019[151]). Es ist möglicherweise notwendig, über den individuellen Auskunftsanspruch hinauszugehen und eine umfassendere allgemeine Berichtspflicht über das geschlechtsspezifische Verdienstgefälle vorzusehen, wie dies in Frankreich und dem Vereinigten Königreich der Fall ist. Derartige Instrumente sind relativ neu und Studien zu ihren Auswirkungen liegen bislang kaum vor. In Dänemark hat sich die Verdienstlücke durch die Berichterstattung mit nach Geschlecht aufgeschlüsselten Statistiken allerdings verringert.

Abbildung 1.32. Frauen in Führungspositionen unterrepräsentiert

Frauenanteil in Führungspositionen und Frauenanteil in der Erwerbsbevölkerung, alle Altersgruppen, 2018 oder letztes verfügbares Jahr

1. Der Begriff Führungspositionen basiert auf der Internationalen Standardklassifikation der Berufe (ISCO) und bezieht sich auf alle Führungskräfte (Berufshauptgruppe 1 von ISCO-08 bzw. ISCO-88).

Anmerkung: Für Kolumbien entspricht der Frauenanteil in Führungspositionen dem Frauenanteil unter Beschäftigten, die in der Internationalen Standardklassifikation der Berufe 1968 (ISCO-68) der Hauptberufsgruppe 2 (Leitende Tätigkeiten im Öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft) zuzuordnen sind; für Chile, Kanada und die Vereinigten Staaten entspricht der Frauenanteil in Führungspositionen dem Frauenanteil unter Beschäftigten, die in der Internationalen Standardklassifikation der Berufe 1988 (ISCO-88) der Berufshauptgruppe 1 (Angehörige gesetzgebender Körperschaften, leitende Verwaltungsbedienstete und Führungskräfte in der Privatwirtschaft) zuzuordnen sind. Für alle übrigen Länder entspricht der Frauenanteil in Führungspositionen dem Frauenanteil der Beschäftigten, die in der Internationalen Standardklassifikation (ISCO-08) der Berufshauptgruppe 1 (Führungskräfte) zuzuordnen sind.

Quelle: OECD Labour Force Statistics (Datenbank); ILOSTAT.

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WICHTIGSTE ERKENNTNISSE (Kapitel „Zentrale Erkenntnisse für die Politik“)	EMPFEHLUNGEN (Zentrale Empfehlungen in Fettdruck)
Die Erholung durch makroökonomische Maßnahmen fördern
Die Fiskalpolitik ist stark expansiv; eine sofortige Wiedereinführung einer strengen Defizitbegrenzung gemäß der Schuldenbremse könnte die Erholung gefährden.	Im Fall einer schwachen Erholung zusätzliche Stützungsmaßnahmen ergreifen. Fiskalische Impulse schrittweise entziehen, wenn die Erholung richtig in Gang gekommen ist. An der geplanten Haushaltskonsolidierung festhalten und zugleich langfristige Herausforderungen angehen.
Die öffentliche Investitionstätigkeit steigern
Die öffentlichen Investitionen sind seit 2014 gestiegen, allerdings nicht in ausreichendem Maße, um den Sanierungs- und Investitionsstau im Infrastrukturbereich aufzulösen. Durch die Energiewende, die Digitalisierung und die Bevölkerungsalterung werden die Investitionsbedarfe künftig weiter zunehmen.	Ausgaben für hochwertige öffentliche Investitionen weiter erhöhen, u. a. über Finanzhilfen für die Kommunen. Prioritäre Förderung grüner Investitionen fortsetzen.
Kapazitätsengpässe im Baugewerbe und in den kommunalen Planungsämtern behindern die Bereitstellung neuer Infrastruktur.	Die kommunalen Planungskapazitäten durch kommunenübergreifende Zusammenarbeit, Schulungen und Neueinstellungen in wichtigen technischen Berufen ausbauen.
Infrastrukturplanung und -management sind insgesamt gut; einige Schwachstellen schmälern aber die Produktivitätssteigerungen, die durch öffentliche Investitionen erzielt werden.	Ein unabhängiges Beratungsgremium mit der Erstellung eines langfristigen strategischen Infrastrukturplans beauftragen. Die Planungsverfahren straffen und das öffentliche Beschaffungswesen durch bessere Datenerhebung und -zusammenführung optimieren.
Strukturreformen für eine nachhaltige Erholung umsetzen
Niedrige Erwerbseinkommen sind aufgrund hoher Sozialversicherungsbeiträge steuerlich stark belastet, die Umwelt- und Grundsteuern sind hingegen niedrig und Befreiungen von der Erbschaftsteuer und der Besteuerung von Kapitaleinkünften tragen zu einer hohen Vermögensungleichheit bei.	Die Besteuerung der Erwerbseinkommen verringern und im Gegenzug Erbschaftsteuerbefreiungen abschaffen, ermäßigte Mehrwertsteuersätze auf den Regelsatz anheben sowie Umweltsteuern, Grundsteuern und die Besteuerung von Kapitaleinkünften erhöhen.
Fortschritte bei der Verringerung der Treibhausgasemissionen wurden vor allem in der Stromerzeugung erzielt. Insbesondere im Verkehrssektor wird es hingegen schwierig werden, das für 2030 gesetzte Ziel zu erreichen.	Emissionsarme Alternativen schaffen durch den Ausbau der öffentlichen Verkehrsangebote und der Ladeinfrastruktur, durch stadtplanerische Anstrengungen, die für eine größere räumliche Nähe zwischen Wohnen, Arbeit und Freizeitangeboten sorgen, und durch mehr Möglichkeiten zur Arbeit im Homeoffice.
Im Verkehrs- und Wärmesektor wird derzeit eine merkliche Emissionsbepreisung eingeführt, die Energiebesteuerung ist aber teilweise immer noch inkohärent.	Die Emissionsbepreisung branchen- und energieträgerübergreifend stärker vereinheitlichen. Umweltschädliche Subventionen wie die Entfernungspauschale für Fernpendelnde abschaffen.
Für Neubauten gelten bereits hohe Energieeffizienzstandards, die Rate energetischer Gebäudesanierungen muss jedoch erhöht werden.	Mindestenergieeffizienzstandards für bestehende Gebäude anheben und die zulässigen Mieterhöhungen an den Energieeinsparungen festmachen.
Deutschland ist im OECD-Raum Spitzenreiter beim Recycling, produziert als Hocheinkommensland aber auch wesentlich mehr Müll als die meisten OECD-Länder.	Stärker auf Preisinstrumente zurückgreifen, um Abfallvermeidung zu fördern und Wiederverwendung und Recycling wirtschaftlich attraktiver zu machen.
Mehr Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglichen
Ein großer Teil der Erwerbsbevölkerung ist von Berufszugangsregelungen betroffen. Dies führt zu höheren Preisen, bremst die Arbeitsmarktdynamik und hindert Migrant*innen, ihre Kompetenzen zu nutzen.	Marktzutrittsbedingungen lockern, vorrangig in Branchen mit Angebotsengpässen (wie im Baugewerbe), und dabei die Stärken des dualen Berufsbildungssystems wahren.
Hohe effektive Grenzsteuersätze am unteren Ende der Einkommensverteilung schaffen Fehlanreize für eine stärkere Arbeitsmarktbeteiligung und können dazu führen, dass Beschäftigte im Niedriglohnsektor gefangen bleiben.	Die effektiven Grenzsteuersätze für Geringverdiener*innen durch einen langsameren und besser koordinierten Entzug von SGB II-Leistungen, Kinderzuschlag und Wohngeld senken.
Die Mieten sind in Deutschland relativ stark reguliert, was die Elastizität des Wohnungsangebots sowie die Arbeitskräftemobilität verringert.	Die Mietpreisbremsen auf Märkten, an denen das Angebot steigen muss, wie z. B. in Berlin, lockern.
Mehr Väter nehmen Elternzeit, in vielen Fällen aber nur die für den zweiten Elternteil vorgesehene Mindestzeit von zwei Monaten. Als Erklärung, warum sie nicht oder nicht länger in Elternzeit gehen, führen Väter oft finanzielle Gründe an.	Die Ausweitung der Elternzeit von Vätern fördern, z. B. durch Erhöhung der Mindestelternzeit des zweiten Elternteils oder der Lohnersatzquoten.
Das Verdienstgefälle zwischen Männern und Frauen ist höher als im OECD-Durchschnitt.	Das Entgelttransparenzgesetz ausweiten und eine allgemeine Berichtspflicht mit nach Geschlecht aufgeschlüsselten Lohn- und Gehaltsstatistiken von Unternehmen vorsehen.
Der Frauenanteil in Aufsichtsräten hat sich dank der Frauenquote deutlich erhöht, den Aufstieg ins Top-Management schaffen jedoch nach wie vor nur wenige Frauen.	Die Frauenquote für Aufsichtsräte auf mehr Unternehmen und auf Vorstände ausweiten.
Mütter arbeiten häufig in Teilzeit, selbst wenn die Kinder schon größer sind. Durch flexible Arbeitsregelungen kann Teilzeitarbeit verringert werden.	Einen gesetzlichen Anspruch auf flexible Arbeitsregelungen für alle Beschäftigten schaffen, sofern möglich einschließlich Homeoffice.

Literaturverzeichnis

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[113] Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2018), Soziale Wohnungspolitik, Gutachten, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Berlin, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Ministerium/Veroeffentlichung-Wissenschaftlicher-Beirat/gutachten-wissenschaftlicher-beirat-soziale-wohnungspolitik.pdf.

[60] Zerzawy, F., S. Fiedler und A. Mahler (2017), Subventionen für fossile Energien in Deutschland – Beitrag für eine transparente Berichterstattung im Rahmen der G20, Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft und Greenpeace, https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/2017-07-04_gpd_report_subventionen_fuer_fossile_energien_in_deutschland.pdf.

[139] Zimmert, F. (2019), “Early child care and maternal employment: empirical evidence from Germany”, IAB-Discussion Paper, No. 2/2019, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg, http://doku.iab.de/discussionpapers/2019/dp0219.pdf.

[137] Zucco, A. (2019), “Große Gender Pay Gaps in einzelnen Berufen hängen stark mit der überproportionalen Entlohnung von langen Arbeitszeiten zusammen”, DIW Wochenbericht, Nr. 10, S. 127-136, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin, https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.616015.de/19-10-1.pdf.