Die Welt unterliegt einem ständigen Wandel. Dabei gibt es immer eine Vielzahl von Zukunftsmöglichkeiten. Sie spiegeln sich in unseren Zukunftsvorstellungen, -hoffnungen und -ängsten wider. Um uns auf die Zukunft vorzubereiten, müssen wir nicht nur wahrscheinliche Veränderungen, sondern auch unerwartete Entwicklungen in Betracht ziehen. Dieser Bericht, der bei den wegweisenden Szenarien des OECD-Programms Schooling for Tomorrow ansetzt, stellt vier Szenarien für die Bildung im Jahr 2040 vor und zeigt damit nicht einen Weg in die Zukunft auf, sondern mehrere. Mithilfe dieser Szenarien können mögliche Chancen und Herausforderungen im Bildungsbereich ermittelt werden. Wir können sie nutzen, um uns besser vorzubereiten und bereits jetzt geeignete Maßnahmen zu ergreifen.
Zurück in die Zukunft
1. Zurück in die Zukunft: Vier OECD-Szenarien für Schule und Bildung
Abstract
Bildung für eine Welt im Wandel
Die Welt verändert sich. Die Zahl der Geburten steigt ebenso wie die Lebenserwartung. Der beispiellose weltweite wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel, der durch die Digitalisierung angestoßen wurde, geht mit einer stärkeren Vernetzung der Märkte und einer größeren ethnischen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt unserer Gesellschaften einher. Diese Veränderungen sind nicht bloß kosmetischer Art, sondern stellen einen grundlegenden Wandel der wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse und unserer Lebensweise dar.
Der Bildung kommt dabei die Aufgabe zu, die Kompetenzen und Fähigkeiten zu vermitteln, die nötig sind, um in der modernen Welt erfolgreich zu sein. Dies macht sie zu einem wirkungsvollen Instrument zur Verringerung der Chancenungleichheit. Doch obwohl im OECD-Raum praktisch alle Kinder und Jugendlichen Schulen der Primarstufe und Sekundarstufe I besuchen, wächst die Ungleichheit – sowohl zwischen als auch innerhalb von Ländern. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist heute so groß wie seit 30 Jahren nicht mehr.
Wenn die Bildung auch in Zukunft ihrem Auftrag gerecht werden soll, die Menschen in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung und ihrem Engagement als mündige Bürger zu fördern, muss sie sich weiterentwickeln. Sie muss relevant bleiben, damit sie unsere Kinder weiterhin bei der Entwicklung ihrer Identität und der Integration in die Gesellschaft unterstützen kann. In einer komplexen, sich rasch wandelnden Welt ist es hierfür u. U. erforderlich, das formelle und informelle Lernumfeld neu zu organisieren und Bildungsinhalte und -angebote neu zu gestalten. Dies gilt angesichts der Bevölkerungsalterung wohl nicht nur für die Grundbildung, sondern auch für das lebenslange Lernen.
Bildung kann das Leben benachteiligter Menschen verbessern, indem sie ihnen die Kompetenzen vermittelt, die nötig sind, um in der modernen Welt Erfolg zu haben. Darüber hinaus kann sie auch der zunehmenden Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft entgegenwirken und Einzelne und Gruppen zur aktiven Teilhabe an zivilgesellschaftlichen Prozessen und demokratischen Institutionen befähigen. Mit dem Zugang zu Bildung und Wissen eröffnen sich nicht nur Chancen für den Einzelnen und die Gesellschaft, sondern auch Möglichkeiten, die Zukunft unserer globalisierten Welt aktiv zu gestalten.
Die Zukunft ist grundsätzlich nicht vorhersehbar. Vergegenwärtigen Sie sich eine Entwicklung der letzten 20 Jahre, die Sie nicht für möglich gehalten hätten. Sei es die Corona-Pandemie, die Erfindung und Omnipräsenz von Smartphones oder etwas anderes – solche Entwicklungen zeigen, dass die Zukunft stets Überraschungen bereithält. Auch das schwierige Jahr 2020 hat uns vor Augen geführt, dass sich vermeintlich sichere Zukunftsannahmen schlagartig ändern können. Dies stellt uns zwar vor Herausforderungen, ist aber zugleich ein Aufruf zum Handeln und eine Mahnung, uns besser vorzubereiten – sowohl auf die erwarteten Entwicklungen und als auch auf unerwartete.
Vielfältige Zukunftsmöglichkeiten
Das Jahr 2020 hatte für Vordenker*innen der Zukunft seit jeher einen besonderen Reiz. Um die Jahrhundertwende beflügelte die ferne Zukunft im Jahr 2020 die Phantasie zu den unterschiedlichsten Vorhersagen. So wurde z. B. vorausgesagt, dass die Menschen in fliegenden Häusern leben werden, oder auch, dass sie dank Teleportation gar keine Verkehrsmittel mehr brauchen werden. Selbst Mitte des 20. Jahrhunderts lagen Zukunftsprognosen für das Jahr 2020 noch voll im Trend. Sie waren durch den kürzeren Zeitabstand jedoch nicht zutreffender geworden, wie folgendes Beispiel zeigt:
„Im Jahr 2020 könnten wir gut ausgebildete Tiere als Angestellte haben, auch Affenchauffeure.“ (RAND Corporation Long-Range Forecasting Study, 1968)
Die meisten unserer Zukunftsvorstellungen sind linear und basieren auf einer Fortschreibung aktueller Trends. Trends können sich aber auch abschwächen, verstärken, verändern oder enden. Selbst langfristige Entwicklungen können durch unvorhergesehene Ereignisse unterbrochen werden. Über zurückliegende Entwicklungen herrscht überdies oft Uneinigkeit, und selbst wenn Einigkeit besteht, erweist sich die Zukunft selten einfach als eine Fortschreibung früherer Entwicklungsmuster. Außerdem wissen wir nicht im Voraus, welche Trends anhalten und welche sich verändern werden und in welchem Kontext dies geschehen wird. Manchmal liegen wir mit unseren Prognosen einfach falsch.
„Das Pferd wird bleiben, das Automobil ist nur eine Modeerscheinung.“ (Präsident der Michigan Savings Bank zum Anwalt des Erfinders des Automobils Henry Ford im Hinblick auf Investitionen in die Ford Motor Company, 1903)
Da weder konkrete Fakten noch Daten über die Zukunft vorliegen, kann sie nur im Dialog greifbar werden. Die Zukunft kann nicht passiv beobachtet werden. Es bedarf vielmehr einer aktiven Diskussion, um Erkenntnisse über sie zu gewinnen und gemeinsam entscheiden zu können, welche Maßnahmen in der Gegenwart ergriffen werden sollten. Sich verschiedene Zukunftsszenarien vorzustellen, heißt also begreifen, dass nicht nur ein Weg in die Zukunft führt, sondern viele (OECD, 2001[1]).
Szenarien sind mehr als die Extrapolation eines bestimmten Trends. Sie berücksichtigen Trends u. U., indem sie beschreiben, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn sich einer oder mehrere Trends fortsetzen (oder verändern). Für sich genommen haben Szenarien keinen Eigenwert. Einen Nutzen entfalten sie erst, wenn sie im Rahmen eines strategischen Dialogs entwickelt bzw. verwendet werden.
Die Szenarien des OECD-Programms Schooling for Tomorrow
2001 wurde im Rahmen des OECD/CERI-Programms Schooling for Tomorrow ein Bericht mit sechs Zukunftsszenarien veröffentlicht. In diesen Szenarien wurde der Gesamtzusammenhang der strategischen Bildungsziele und der damit verknüpften komplexen und langfristigen Veränderungsprozesse in den Blick genommen, um zu beleuchten, wie sich die Bildung in den kommenden Jahren entwickeln könnte und wie die Bildungspolitik zur Gestaltung dieser Zukunft beitragen könnte. Diese fiktiven Szenarien enthielten weder Vorhersagen noch Empfehlungen. Sie wurden – wie alle Szenarien – entwickelt, um Erkenntnisse zu gewinnen und in der Gegenwart geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Dazu wurden Hypothesen über mögliche künftige Entwicklungen aufgestellt, geprüft und entsprechend angepasst.
Die Autor*innen des Berichts bemängelten damals, dass das vorausschauende Denken im Bildungsbereich im Vergleich zu anderen Politikbereichen relativ wenig entwickelt sei, obwohl ein grundlegendes Merkmal der Bildung darin besteht, dass sich ihr Nutzen über einen sehr langen Zeitraum hinweg entfaltet ((OECD, 2001[1]), S. 77)). Seither sind fast zwanzig Jahre vergangen, in denen Zukunftsdenken auch im Bildungsbereich Einzug gehalten hat. In der Regel geht es aber mit ehrgeizigen Visionen und Roadmaps für die gewünschte Zukunft einher. Diese ehrgeizigen Visionen dienen als Grundlage, um die politische Agenda festzulegen und bei verschiedenen Akteursgruppen einen Dialog über die zur Verwirklichung dieser Visionen erforderlichen Lehrpläne, pädagogischen Ansätze und Systemleistungen anzustoßen.
Die Stärke einer solchen Herangehensweise liegt darin, dass ihr Hauptaugenmerk auf der Verwirklichung der angestrebten Zukunft liegt. Damit werden Systeme aber nicht auf unvorhergesehene Schocks vorbereitet. Die Tatsache, dass die Zukunft stets Überraschungen bereithält, bleibt dabei nämlich außen vor. Um in einem schwierigen und unsicheren Umfeld zukunftsfest zu werden, müssen verschiedene plausible Zukunftsszenarien entwickelt, deren mögliche Auswirkungen untersucht und eventuelle Implikationen für die Politik aufgezeigt werden. Dies ist das Ziel der vorliegenden Publikation, die bei den Szenarien von Schooling for Tomorrow aus dem Jahr 2001 ansetzt. Der vorliegende Bericht befasst sich mit dem Zukunftsdenken in verschiedenen Politikbereichen, überprüft und aktualisiert die vor knapp zwanzig Jahren entwickelten Szenarien und entwirft davon ausgehend vier neue Szenarien zur Zukunft von Schule und Bildung.
Die vier OECD-Szenarien zur Zukunft von Schule und Bildung
Das auf die Einführung folgende Kapitel 2 gibt einen kurzen Überblick über die Methoden der strategischen Vorausschau. Es beschreibt die verschiedenen Aspekte der Vorausschau und legt dar, warum sich Vorausschau und Zukunftsdenken für die Planung und Entwicklung zukunftsfester Systeme eignen. Strategische Vorausschau ist immer dann erforderlich, wenn im Hinblick auf die künftigen Veränderungen eines Bereichs ein hohes Maß an Unsicherheit besteht. Dies gilt für bereichsübergreifende nationale Entscheidungen ebenso wie für Entscheidungen in bestimmten Sektoren oder Politikbereichen wie der Bildung. Am Beispiel der beiden sehr unterschiedlichen Bildungssysteme Finnlands und Singapurs wird schließlich konkret veranschaulicht, was strategische Vorausschau im Bildungsbereich bewirken kann.
Kapitel 3 skizziert einige der wichtigsten Entwicklungen in der Bildungspolitik und -praxis der letzten Jahrzehnte. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der „Vermassung“ und Expansion der Bildung, die immer mehr Menschen erreicht und sich zunehmend auf das gesamte Leben erstreckt. Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit den wachsenden Bildungserwartungen und ihren Auswirkungen auf verschiedene Bereiche der schulischen Bildung und des Unterrichts, angefangen von Evaluierungs-, Beurteilungs- und Zertifizierungsprozessen bis hin zu Maßnahmen in Bezug auf Unterricht und Lehrkräfte. Auch die Veränderungen der Governance im Bildungsbereich und deren Auswirkungen auf Planung, Umsetzung und Zukunftserwartungen des Sektors werden erörtert.
Kapitel 4 beschreibt vier Szenarien zur Zukunft von Schule und Bildung im Jahr 2040. Der Zeithorizont dieser Szenarien liegt also bei etwa zwanzig Jahren – lang genug für einen signifikanten Wandel, der über den unmittelbaren Handlungshorizont der Politikverantwortlichen hinausgeht, aber auch kurz genug, um nicht nur Zukunftsforscher*innen und Visionär*innen anzusprechen. Die alternativen Zukunftsszenarien sind 1. der Ausbau der schulischen Bildung, 2. die Auslagerung der Bildungsangebote und die damit einhergehende Stärkung der Bildungsmärkte, 3. Schulen als Bildungshubs und 4. das Ende des schulbasierten Lernens und der schulischen Bildung im Allgemeinen.
Kapitel 5 befasst sich abschließend mit den wichtigsten Implikationen und Spannungsfeldern, die sich aus den Szenarien ergeben. Außerdem wird untersucht, welche Grundsatzfragen diese vielfältigen Zukunftsmöglichkeiten aufwerfen. Die Ziele, auf die Schulen hinarbeiten, sind ebenso vielfältig und komplex wie die möglichen Entwicklungen, die sich im schulischen Alltag und seinen Prozessen abzeichnen. Eindeutige Antworten liefert dieses Kapitel nicht. Die ergeben sich erst, wenn die Szenarien in einem konkreten Zusammenhang verwendet und reflektiert werden. Es werden vielmehr Bereiche aufgezeigt, die größeres Augenmerk verdienen und in denen weitere Diskussionen lohnend sein könnten.
Zu guter Letzt
Da die Methoden der bildungspolitischen Vorausschau noch nicht ausgereift sind, bedarf es weiterhin beträchtlicher Anstrengungen, um ein entsprechendes Instrumentarium zu entwickeln, das den bildungspolitischen Entscheidungen zugrunde gelegt werden kann. Ein solches Instrument sind Szenarien. Sie nehmen erst im Dialog, den sie auf verschiedenen Ebenen und unter wichtigen Akteuren anstoßen, vor dem Hintergrund der Gegebenheiten des jeweiligen Landes Gestalt an. Szenarien sollten nicht als ausgefeilte, abgeschlossene Zukunftsentwürfe betrachtet werden, sondern als Ausgangspunkt für eine echte Auseinandersetzung. Dieses Buch soll Fragen aufwerfen, Denkanstöße liefern und ein kritisches und kreatives Nachdenken über die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten im Bildungsbereich fördern.
Ein Großteil der Arbeiten des CERI zielt auf eine stärker evidenzbasierte bildungspolitische Entscheidungsfindung ab, die Entwicklungen in anderen Ländern sowie anderen Zeithorizonten Rechnung trägt, langfristig ausgerichtet ist und größere Zusammenhänge in den Blick nimmt. Dieser Tradition ist auch die vorliegende Publikation verpflichtet.
Literaturverzeichnis
[1] OECD (2001), What Schools for the Future?, Schooling for Tomorrow, OECD Publishing, Paris, https://dx.doi.org/10.1787/9789264195004-en.