In einer Welt hoher Unsicherheit ist der Versuch, Vorhersagen oder Prognosen für die Zukunft aufzustellen, nur von begrenztem Nutzen. Dagegen ist es ausgesprochen sinnvoll, mehrere plausible Zukunftsszenarien zu entwickeln, ihre Auswirkungen zu untersuchen und mögliche Konsequenzen für die Politikgestaltung zu identifizieren. Szenarien sind alternative Zukunftsentwürfe in der Form von Momentaufnahmen oder Geschichten, die einen Zukunftskontext abbilden. Sie sind absichtlich fiktiv und beinhalten weder Vorhersagen noch Empfehlungen. Szenarien betrachten nicht, was in der Zukunft geschehen wird oder was geschehen sollte, sondern zeigen nur auf, was geschehen könnte. Partizipation und Dialog sind für ihre effektive Nutzung unerlässlich. Szenarien helfen uns, aus der Zukunft zu lernen, um unser Verständnis der Gegenwart anzupassen und zu aktualisieren. Dazu ist es notwendig, ihren Zweck zu bestimmen, sie zu analysieren, Implikationen aufzuzeigen und strategische Maßnahmen zu ergreifen.
Zurück in die Zukunft
2. Szenarien: ein Nutzerleitfaden
Abstract
Einleitung
In diesem Kapitel soll erläutert werden, wie die Szenarioplanung von verschiedenen interessierten Gruppen genutzt werden kann – jenen, die Gedanken zu nicht eingetretenen Zukunftsentwicklungen nutzen wollen, um die sicher eintretende Zukunft mitzugestalten. Diejenigen, die sich für die Anwendung der strategischen Vorausschau interessieren oder eigene Szenarien entwerfen möchten, seien an die zahlreichen Ressourcen verwiesen, die es zu diesem Thema gibt.1
Warum ist es wichtig, über die Zukunft nachzudenken?
Bildungssysteme sind derzeit mehreren Belastungen ausgesetzt, u. a. wirtschaftlichen Verwerfungen, internationalen Spannungen, Polarisierung und schwindendem Vertrauen, starker Zuwanderung und Bevölkerungsalterung. Da die heutigen Herausforderungen unmittelbar angegangen werden müssen, nehmen sich die Regierungen häufig nicht die Zeit, sich vom Hier und Jetzt zu lösen und sich mit der Zukunft zu befassen (Fuerth, L. und E. Faber, 2012[1]). Doch die Zukunft wird nicht weniger große Herausforderungen bereithalten: Klimabedingte Krisen, die weitere Digitalisierung von Volkswirtschaften und Gesellschaften sowie neue Formen politischer Turbulenzen im In- und Ausland könnten zu einer Zukunft führen, die sich stark von unseren allgemeinen Erwartungen unterscheidet.
Was bedeutet es, in einem solch schwierigen Kontext zukunftsfest zu sein? In einer Welt hoher Unsicherheit ist der Versuch, Vorhersagen oder Prognosen für die Zukunft aufzustellen, nur von begrenztem Nutzen. Dagegen ist es ausgesprochen sinnvoll, mehrere plausible Zukunftsszenarien zu entwickeln, ihre Auswirkungen zu untersuchen und mögliche Konsequenzen für die Politikgestaltung zu identifizieren. Ferner ist es wichtig, über den Rahmen der traditionellen Silostrukturen hinauszublicken und zu untersuchen, welche unerwarteten Schnittstellen und Interaktionen es zwischen verschiedenen Entwicklungen gibt. Veränderungen können tiefgreifender sein und rascher voranschreiten, als sie mit unseren deliberativen (und bisweilen langwierigen) politischen Entscheidungsprozessen bewältigt werden können. Wenn Veränderungen exponentiell zunehmen, muss dies auch für die Fähigkeit von Bildungssystemen gelten, darauf zu reagieren.
Wie denkt man über die Zukunft nach?
Die strategische Vorausschau ist eine Disziplin, in der Gedanken zur Zukunft strukturiert betrachtet werden. Ziel dabei ist es, Mittel und Wege zu finden, die eine bessere Entscheidungsfindung in der Gegenwart ermöglichen. Sie beruht auf dem Grundsatz, dass unsere Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, immer begrenzt ist, dass es aber dennoch möglich ist, kluge Entscheidungen zu treffen, wenn wir uns vielfältige Zukunftsentwicklungen vorstellen und sie nutzen. Strategische Vorausschau ist immer dann erforderlich, wenn die Veränderungen des jeweiligen Zukunftskontexts mit einer hohen Unsicherheit behaftet sind. Dies gilt sowohl für bereichsübergreifende nationale Entscheidungen als auch für Entscheidungen in bestimmten Sektoren oder Politikbereichen wie der Bildung. Die strategische Vorausschau bietet drei wesentliche Vorteile:
Antizipation: Es gilt, Veränderungen zu erkennen und sich auf sie vorzubereiten, blinde Flecken zu vermeiden und Entwicklungen zu berücksichtigen, die rein intuitiv zwar nicht relevant, wahrscheinlich oder wirkungsvoll erscheinen, uns aber überraschen könnten.
Innovative Strategien: Es werden Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die unter neuen Gegebenheiten sinnvoll sind und unser Verständnis der Gegenwart anpassen oder aktualisieren.
Zukunftssicherheit: Bestehende Planungen, Strategien oder Maßnahmen werden unterschiedlichen Bedingungen unterworfen und Stresstests unterzogen.
In der Praxis der strategischen Vorausschau wird häufig von „Nutzern“ gesprochen. Das ist darauf zurückzuführen, dass mehrere Zukunftsbilder untersucht werden, die einem bestimmten Personenkreis helfen. Im Gegensatz dazu wird bei Vorhersagen und Prognosen versucht, eine einzig richtige Zukunft zu identifizieren, die für alle gleich ist. Der in dieser Publikation ins Auge gefasste Nutzer ist die Bildungseinrichtung oder -organisation der Leser*innen – zum Beispiel eine Schule, ein Bildungsministerium oder eine Kommune.
Kasten 2.1. Zukunftsdenken im Bildungsbereich: Finnland
Antizipation des Kompetenzbedarfs und Ansichten zur Zukunft von Schule und Bildung
Zukunftsdenken fällt in Finnland auf fruchtbaren Boden. Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor werden Megatrends und treibende Kräfte identifiziert und von der nationalen bis zur kommunalen Ebene Szenarien und Visionen entwickelt. Im Parlament gibt es einen ständigen Ausschuss für die Zukunft, jede Regierung veröffentlicht einen Zukunftsbericht und die Ministerien bereiten eigene Zukunftsprüfungen vor. Das Büro des Premierministers und der finnische Innovationsfonds Sitra koordinieren ein nationales Vorausschau-Netzwerk, in dem sich eine Vielzahl von Akteuren aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zusammengeschlossen haben.
Der Bildungssektor bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Das schulische Umfeld ist komplex und von raschem Wandel geprägt. Zukunftsdenken wird seit Langem dazu genutzt, Bildungsinhalte zu antizipieren und die Möglichkeiten und Herausforderungen für die Entwicklung von Lehren und Lernen besser zu verstehen. Ein Beispiel dafür ist das nationale Forum zur Antizipation des Kompetenzbedarfs (National Forum for Skills Anticipation), ein Sachverständigengremium, das Hunderte von Vertreter*innen aus dem Wirtschaftssektor, dem Bildungsbereich, der Forschung und der Verwaltung an einen Tisch bringt, um Veränderungen im Kompetenzbedarf zu antizipieren. Die vom Forum ausgearbeiteten Ergebnisse hinsichtlich des quantitativen und qualitativen Kompetenzbedarfs und die von ihm unterbreiteten Vorschläge zur Entwicklung der Bildungsangebote werden derzeit von verschiedenen Parteien analysiert und diskutiert.
Ein weiteres Beispiel war das Barometer „Zukunft des Lernens 2030“ (Future of Learning 2030), das 2009 von der nationalen Bildungsbehörde Finnlands (Finnish National Agency for Education vormals Finnish National Board of Education) ins Leben gerufen wurde. Es diente dazu, die Reform der Kernlehrpläne zu unterstützen. In den darauffolgenden Jahren wurde es mehrmals neu aufgelegt.
Das Barometer stützte sich auf Techniken der Zukunftsforschung wie die Delphi-Methode. Dabei wurden die unterschiedlichen Ansichten verschiedener Gruppen in drei Panels erfasst und erörtert. Bei seiner zweiten Auflage wurden fünf Szenarien erstellt, um die verschiedenen potenziellen Diskontinuitäten, die die Zukunft bereithalten könnte, weiter zu beleuchten. Die im Barometer hervorgehobenen Aspekte wurden in der Lehrplangestaltung aufgegriffen. Dazu gehörten beispielsweise die sich wandelnde Rolle von Lehrkräften und Schüler*innen, verschwimmende Grenzen zwischen Gesellschaft und Schule und innerhalb der Schule selbst sowie die Bedeutung transversaler Kompetenzen beim Lehren und Lernen.
Weitere Informationen:
Vorausschau-Aktivitäten und Zukunftsarbeit, Büro des Premierministers, Finnland, https://vnk.fi/en/foresight.
Methoden der strategischen Vorausschau
In der strategischen Vorausschau kommen viele verschiedene Methoden zur Anwendung. Es ist beispielsweise möglich, Signale für zukünftige Veränderungen zu erkennen (Horizon-Scanning)2 oder wünschenswerte Zukunftsvisionen zu entwerfen und die zu ihrer Verwirklichung notwendigen Schritte auszuarbeiten. Eine weitere Methode besteht darin, Roadmaps für die zukünftige Technologieentwicklung zu erstellen. Für die Zwecke dieses Kapitels kommt zwei Methoden besondere Bedeutung zu: Trends und Szenarien.
Trends sind ein unerlässlicher Teil des Zukunftsdenkens. Sie zeigen mehrere Möglichkeiten auf, wie Vergangenheit und Gegenwart zur Zukunft führen können, da sie prognostizieren, was geschehen könnte, falls ein bestimmter Trend anhalten sollte. Trends helfen uns, den Unterschied zwischen dem, was konstant ist, was sich gerade verändert und was sich ständig wandelt, zu erkennen. Häufig stellen sie auch unsere Annahmen und unsere Voreingenommenheit bezüglich des wirklichen Geschehens infrage. Publikationen wie Bildung, Trends, Zukunft (OECD, 2019[4]) bieten den Vorteil, dass sie die Bedeutung umfassenderer Entwicklungen außerhalb eines bestimmten Bereichs aufzeigen, da die größten Systembrüche außerhalb des betreffenden Systems entstehen können.
Szenarien sind absichtlich fiktiv und beinhalten weder Vorhersagen noch Empfehlungen. Partizipation und Dialog sind für ihre effektive Nutzung unerlässlich.
Szenarien sind alternative Zukunftsentwürfe (in der Regel drei oder vier zum Vergleich) in der Form von Momentaufnahmen oder Geschichten, die einen Zukunftskontext abbilden. Sie sind absichtlich fiktiv und beinhalten weder Vorhersagen noch Empfehlungen. Sie werden konstruiert, um in der Gegenwart zu lernen und Maßnahmen zu ergreifen. Erreicht wird dies, indem Hypothesen über mögliche zukünftige Entwicklungen aufgestellt, geprüft und angepasst werden.
Szenarien sind mehr als nur eine Trendextrapolation. Sie können Trends berücksichtigen, indem sie beschreiben, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn sich ein oder mehrere Trends fortsetzen (oder ändern) sollten. Für sich genommen haben Szenarien keinen Eigenwert. Einen Nutzen entfalten sie erst, wenn sie im Rahmen eines strategischen Dialogs entwickelt bzw. verwendet werden.
Warum brauchen wie Szenarien?
In der strategischen Vorausschau sind Szenarien besonders weitverbreitet. Es gibt sogar mehrere Denkschulen, die sich damit befassen, wie sie entwickelt und genutzt werden sollten. Für die Leser*innen dieser Publikation sind Szenarien jedoch ganz allgemein ein besonders nutzbringender Ansatz der strategischen Vorausschau. Dies ist auf die folgenden drei Aspekte zurückzuführen:
Erkundung: Szenarien bieten Expert*innen einen sicheren Raum, unterschiedliche Meinungen zu vertreten und die Hypothesen der anderen infrage zu stellen. Da wir wissen, dass ein Szenario keine Zukunft ist, deren Eintreten erwartet wird, können wir in unseren Diskussionen freier sein. Es ist nicht möglich oder gar wünschenswert, in einer Diskussion über verschiedene Szenarien „richtig“ zu liegen. Dies ist ein Grund dafür, warum nicht nur ein Szenario, sondern gleich mehrere entwickelt werden. Wenn wir die Zukunft erkunden, können wir uns von unseren tief verwurzelten Annahmen befreien, die sich als unbegründet und schädlich erweisen könnten, wenn sie nicht hinterfragt werden.
Kontext: Szenarien ermutigen uns, darüber nachzudenken, wie die Zukunft sein wird und wie es wäre, wenn sich das Paradigma, das unser Denken maßgeblich bestimmt, ändern würde. Während sich Prognosen und Vorhersagen eher auf einzelne Messgrößen oder Ereignisse konzentrieren, bieten uns Szenarien die Möglichkeit, die Zukunft als Ganzes, d. h. das Gesamtbild zu betrachten.
Narrativ: Szenarien können zu wirkungsvollen Instrumenten werden, um innerhalb einer Organisation ein gemeinsames Handlungsbewusstsein zu erzeugen. Da Szenarionarrative eine Reihe von Zukunftserfahrungen schaffen, die nicht nur eigene Figuren und Ereignisse, sondern auch eine eigene Logik haben, sind gute Szenarionarrative so einprägsam, dass sie in das Selbstverständnis einer Organisation einfließen können.
Kasten 2.2. Zukunftsdenken im Bildungsbereich: Singapur
Langfristiges Denken und Planen
Ende der 1980er Jahre begann die Regierung Singapurs, Kapazitäten im Bereich der strategischen Vorausschau zu entwickeln. Den Anfang bildete die Szenarioplanung im Verteidigungsministerium. In der Folgezeit wurde die Szenarioplanung als Instrument für den langfristigen politischen Denkprozess und die Entwicklung im öffentlichen Dienst eingeführt.
Das Centre for Strategic Futures (CSF) wurde 2009 als Denkfabrik für Vorausschau in der Strategiegruppe des Büros des Premierministers gegründet, um die langfristigen Denk- und Planungskapazitäten im gesamten öffentlichen Dienst zu stärken. Dazu wurden losgelöst vom Tagesgeschäft neue Methoden des Zukunftsdenkens evaluiert, unvorhergesehene Ereignisse (Black-Swan-Ereignisse) identifiziert und Notfallpläne entwickelt. Das CSF unterhält zudem ein Netzwerk von Fachleuten und strategischen Planer*innen, darunter verschiedene Vorausschau-Einheiten von Ministerien und Behörden, Alumni der Zukunftswissenschaften und internationale Vordenker*innen.
Ein zentrales Ergebnis der strategischen Vorausschau ist die Entwicklung einer zukunftsgerichteten Geisteshaltung und Kultur im öffentlichen Dienst. Im Bildungsbereich haben bestimmte treibende Kräfte wie der rasche technische Fortschritt, drohende Ungleichheit und die sich ändernden Lebensziele junger Menschen einen großen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir die Bevölkerung auf die Zukunft vorbereiten. So hat das Bildungsministerium in den letzten Jahren die Reformbewegung „Learn for Life“ ins Leben gerufen, die sechs sukzessiv eingeführte Stoßrichtungen umfasst:
„Joy of Learning“ (Freude am Lernen), in deren Mittelpunkt zielgerichtetes Lernen steht, das nicht einfach nur den schulischen Leistungen Bedeutung beimisst, sondern von Interesse und Leidenschaft geleitet ist.
„One Secondary Education, Many Subject Bands“ (Eine Sekundarbildung, viele Niveaustufen) ermöglicht es Schüler*innen, verschiedene Fächer in einem ihren Fähigkeiten entsprechenden Tempo zu lernen.
„Education as an Uplifting Force“ (Aufstieg durch Bildung) stärkt die Bildung in ihrer Funktion, soziale Unterschiede auszugleichen. Dazu wurden erhebliche Investitionen in die Vorschulerziehung und Stipendienprogramme getätigt, um sicherzustellen, dass alle Zugang zu Bildung haben und sie sich leisten können.
„Learning Languages for Life“ (Sprachen fürs Leben lernen) unterstützt das Erlernen der verschiedenen Muttersprachen, die die multikulturelle Gesellschaft und das multikulturelle Erbe Singapurs widerspiegeln, sowie von Fremdsprachen, um die Schüler*innen auf die regionale und internationale Zusammenarbeit mit anderen Menschen vorzubereiten.
„Refreshing Our Curriculum“ (Aktualisierung unserer Lehrinhalte) verbessert die Charakterbildung und staatsbürgerliche Erziehung, stärkt die digitale Kompetenz für alle und unterstützt Schüler*innen dabei, Asien kennenzulernen.
„Skills Future for Educators“ (Zukunftsgerichtete Kompetenzentwicklung des Lehrpersonals) schließlich unterstützt Lehrkräfte dabei, Lernende fit für die Zukunft zu machen.
Da die Welt komplex und unsicher bleiben und Singapur auch in Zukunft mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sein wird, wird es künftig noch wichtiger sein, die Methoden der strategischen Vorausschau diszipliniert anzuwenden. Das CSF wird den öffentlichen Dienst weiterhin dabei unterstützen, seine langfristigen Denk- und Planungskapazitäten zu stärken, damit heute bessere Entscheidungen getroffen werden können und sich besser auf die Zukunft vorbereitet werden kann.
Quelle: Ministry of Education, (2020[5]).
Weitere Informationen:
Centre for Strategic Futures, Strategiegruppe, Büro des Premierministers, Singapur, https://www.csf.gov.sg/.
Wie werden Szenarien verwendet?
Kasten 2.3. Hindernisse im szenariobasierten Politikdialog
Hindernis Nr. 1: Es wird versucht, die Wahrscheinlichkeit der Szenarien abzuschätzen (entweder einzeln betrachtet oder im Vergleich zu anderen Szenarien). Dies kann sich auch darin äußern, dass ein bestimmtes Szenario vernachlässigt wird, weil sein Eintreten unwahrscheinlich erscheint.
Warum es auftritt: Dieses Hindernis ist häufig durch die irrige Annahme bedingt, dass Szenarien Prognosen oder Vorhersagen seien. Viele gehen auch davon aus, dass es sich nur lohnt, wahrscheinliche Zukunftsentwicklungen zu erörtern.
Warum es nicht hilfreich ist: Wenn versucht wird, die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, wird die Aufmerksamkeit nicht auf die Strategie, der die Szenarien dienen sollen, sondern auf ihre Validität selbst gerichtet. Es ist viel einfacher, die Arbeit anderer zu kritisieren als unsere eigene Strategie! Außerdem wird dadurch eine Prämisse der Szenarioplanung untergraben, nämlich zu akzeptieren, dass ein Großteil zukünftiger Entwicklungen nicht vorhersehbar ist und dass vieles geschehen wird, was aus heutiger Sicht unwahrscheinlich erscheint. Ferner ist es möglich, heute positive Erkenntnisse aus fiktiven zukünftigen Ereignissen zu ziehen, auch wenn sie nie wirklich eintreten werden.
Wie es angegangen werden kann: Dialogteilnehmer*innen können an Ereignisse erinnert werden, die sich in jüngerer Zeit ereignet haben und die ein Jahrzehnt früher fast unmöglich erschienen wären (davon gibt es viele). Außerdem kann es hilfreich sein, Fabeln heranzuziehen, die bekanntermaßen fiktiv sind, aber dennoch wertvolle Erkenntnisse liefern können. Szenarien sind Fiktionen über die Zukunft, aus denen wir lernen können. Eine weitere nützliche Technik besteht darin, die Frage zu stellen, welche Entwicklungen in der Gegenwart darauf hindeuten, dass das gegebene Szenario bereits Wirklichkeit wird.
Hindernis Nr. 2: Es wird versucht, die Maßnahmen zu identifizieren, die die problematisch erscheinenden Merkmale eines bestimmten Szenarios neutralisieren oder „lösen“ würden. Dazu kann es auch kommen, wenn die Teilnehmer*innen ein Szenario als „instabil“ beschreiben und nach Möglichkeiten suchen, ihr Zukunftsbild wieder näher an den Status quo oder aktuelle Erwartungen heranzubringen.
Warum es auftritt: Dieses Hindernis tritt auf, wenn die Teilnehmer*innen akzeptieren, dass ein Szenario eintreten könnte, es aber für unerwünscht halten und glauben, dass sie seine Verwirklichung verhindern oder die Entwicklung umkehren können, sobald es eingetreten ist. Im Politikdialog ist es nicht ungewöhnlich, dass die Beteiligten nicht unterscheiden können, was 1. die Politik insgesamt zu erreichen vermag und 2. ihre eigene Organisation allein und durch ihre derzeitigen Partnerschaften erreichen kann.
Warum es nicht hilfreich ist: Ein wesentliches Prinzip von Szenarien ist, dass die Nutzer*innen gezwungen werden sollten, sich zu überlegen, wie sie mit alternativen Zukunftsentwicklungen umgehen würden, die sie nicht selbst bestimmen können. Nur wer seine eigenen Grenzen versteht, kann konkrete Maßnahmen erkennen, die in der Zukunft Erfolg versprechend sind. Szenarien können äußerst aufschlussreiche Optionen für die öffentliche Politik insgesamt aufzeigen, doch wenn der Dialog den Nutzer*innen keine Anhaltspunkte für konkrete Maßnahmen liefert, wird die erhoffte Wirkung ausbleiben.
Wie es angegangen werden kann: Die Teilnehmer*innen sollten sich von der Gegenwart lösen und sich vorstellen, was sie machen würden, wenn sie heute einschlafen und in der vom Szenario beschriebenen Welt aufwachen würden. Es kann auch hilfreich sein, die Ansichten der Teilnehmer*innen mit verbalen Mitteln zu strukturieren. So kann man beispielsweise darauf bestehen, dass jeder zur Szenarioanalyse geäußerte Satz mit den Worten „Dies ist eine Welt, in der...“ beginnt.
Weitere Informationen:
Strategic Foresight, OECD, https://www.oecd.org/strategic-foresight /.
Literaturverzeichnis
[2] Airaksinen, T., I. Halinen und H. Linturi (2017), “Futuribles of learning 2030 – Delphi supports the reform of the core curricula in Finland”, European Journal of Futures Research, Vol. 5/2, http://dx.doi.org/10.1007/s40309-016-0096-y.
[1] Fuerth, L. und E. Faber (2012), Anticipatory Governance Practical Upgrades: Equipping the Executive Branch to cope with increasing speed and complexity of major challenges, National Defense University Press, Washington, D.C., https://ndupress.ndu.edu/Portals/68/Documents/Books/CTBSP-Exports/Anticipatory-Governance.pdf?ver=2017-06-16-105921-030.
[5] Ministry of Education (2020), “Learn for Life – Ready for the Future: Refreshing Our Curriculum and Skillsfuture for Educators”, Pressemitteilung, 04. März, Ministry of Education, Singapur, https://www.moe.gov.sg/news/press-releases/learn-for-life--ready-for-the-future--refreshing-our-curriculum-and-skillsfuture-for-educators (Abruf: 25. März 2020).
[3] Ministry of Education and Culture (2019), “Anticipation of skills and education needs in Finland”, Ministry of Education and Culture, Finnland, https://minedu.fi/documents/1410845/4150027/Anticipation+of+skills+and+education+needs/d1a00302-8773-bbe0-39a0-46e0d688d350/Anticipation+of+skills+and+education+needs.pdf.
[4] OECD (2019), Bildung, Trends, Zukunft 2019, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/738db6c1-de.
Anmerkungen
← 1. Zum Beispiel Ramírez, R. und A. Wilkinson (2016), Strategic Reframing: The Oxford Scenario Planning Approach, Oxford University Press, Oxford und New York.
← 2. Horizon-Scanning selbst kann auf unterschiedlichste Art und Weise durchgeführt werden. Alles hängt davon ab, nach welchen Leitfragen gesucht wird. Dies kann iterative Überprüfungen, automatisiertes Text-Mining, Expertenbefragungen und Web-Scraping umfassen. Der Zweck besteht nicht darin, die „richtigen“ Zukunftsvorstellungen zu finden, sondern vielmehr die in der Gegenwart auftretenden starken und schwachen Signale zu erkennen, die auf Veränderungen hindeuten und den Nutzer in der Zukunft überraschen und für ihn bedeutsam sein könnten.