Die Hochrangige Sachverständigengruppe zur Messung von wirtschaftlicher Leistung und sozialem Fortschritt (High-level Expert Group – HLEG) stützt sich auf die Analysen und Empfehlungen der Kommission zur Messung von wirtschaftlicher Leistung und sozialem Fortschritt aus dem Jahr 2009 (Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission – SSF). Sie beleuchtet die Bedeutung von Indikatoren für Lebensqualität für die Politik und regt einen aktiveren Dialog zwischen ökonomischer Theorie und statistischer Praxis an. Der Bericht zeigt die der statistischen Praxis zugrunde liegenden Annahmen sowie ihre Folgen in der realen Welt auf. Seine Kernaussage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Wahl der Messgröße hat Auswirkungen auf unser Handeln. Wenn wir uns an den falschen Messgrößen orientieren, ergreifen wir die falschen Maßnahmen. Fehlen entsprechende Messgrößen, werden Probleme vernachlässigt, so als würden sie nicht existieren.
Es gibt keinen Einzelindikator, der alle Dimensionen der Lebensqualität abbildet wie das BIP die marktwirtschaftliche Leistung. Deshalb wurde das BIP als Proxy verwendet, und zwar sowohl für das wirtschaftliche Wohlergehen (d. h. die Verfügbarkeit von Waren) als auch für das allgemeine Wohlergehen (das auch von Bevölkerungsmerkmalen und nicht marktlichen Tätigkeiten abhängt). Dafür ist das BIP nicht geeignet. Um die Gesundheit eines Landes zu beurteilen, muss man über das BIP hinausgehen und es durch ein umfassenderes Indikatoren-Dashboard ergänzen, das über die Wohlstandsverteilung in der Gesellschaft sowie die soziale, wirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit Auskunft gibt. Die Herausforderung besteht darin, dieses Dashboard so zu konzipieren, dass es klein genug ist, um leicht verständlich zu sein, aber auch umfassend genug, um die für uns wichtigsten Dimensionen der Lebensqualität abzubilden.
Die Krise von 2008 und ihre Folgen zeigen, warum eine solche Perspektivenerweiterung nötig ist: Der Einbruch des BIP nach der Krise war kein vorübergehendes, einmaliges Ereignis, wie dies die konventionellen makroökonomischen Modelle prognostiziert hatten. Die Auswirkungen sind nach wie vor zu spüren, was den Schluss nahelegt, dass die Krise einen beträchtlichen dauerhaften Kapitalverlust nach sich zog. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Verlust an Maschinen und Bauten, sondern auch an „verborgenem Kapital“, was sich in einem Rückgang arbeitsplatzbasierter Ausbildungen niederschlägt, in Langzeitfolgen für die jungen Menschen, die in einer Rezession in den Arbeitsmarkt eintraten, und in einem geringeren Vertrauen in das Wirtschaftssystem, das auf den Nutzen einiger weniger „ausgerichtet“ scheint.
Andere Messgrößen, insbesondere bessere Messkonzepte für die wirtschaftliche Unsicherheit in der Bevölkerung, hätten vor Augen geführt, dass die Folgen der Rezession sehr viel tiefgreifender waren, als es die BIP-Statistiken vermuten ließen. Die Länder hätten dann vermutlich entschiedener reagiert, um die negativen Folgen der Krise abzufedern. Wenn durch das BIP der Eindruck entsteht, dass sich die Wirtschaftslage verbessert, wie dies 2010 in vielen Ländern der Fall war, unterbleiben die nötigen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen, die man ergreifen würde, wenn Indikatoren anzeigen, dass sich die Lage für den Großteil der Bevölkerung immer noch wie eine Rezession anfühlt. Wenn es keine Messgrößen für das Ausmaß der wirtschaftlichen Unsicherheit der Menschen gibt, werden auch keine Maßnahmen zur Stärkung des Sicherheitsnetzes bzw. des Sozialschutzes ergriffen.
Diese Versäumnisse der Politik angesichts der Krise wurden durch die übermäßige Fokussierung auf den mit höheren öffentlichen Ausgaben einhergehenden Anstieg der Staatsverschuldung verstärkt. Dabei hätte es sich bei diesen Ausgaben auch um Investitionen handeln können, die sich auf der Aktivseite der Bilanz des Staatssektors bzw. der Länder niederschlagen. Gleiches gilt für Messgrößen der Arbeitslosigkeit, die nicht das gesamte „ungenutzte“ Arbeitskräftepotenzial abbilden. Die „Agenda zur Wohlstandsmessung jenseits des BIP“ wird zuweilen als „wachstumsfeindlich“ beschrieben, das ist sie aber nicht: Durch die Nutzung eines Indikatoren-Dashboards, das die Werte der Gesellschaft widerspiegelt, hätte man höchstwahrscheinlich ein stärkeres BIP-Wachstum erreicht, als dies in den meisten Ländern nach 2008 de facto der Fall war.
Dieses Buch befasst sich auch mit den Fortschritten, die seit 2009 bei der Umsetzung der Empfehlungen der Kommission zur Messung von wirtschaftlicher Leistung und sozialem Fortschritt erzielt wurden, und zeigt Bereiche auf, denen Statistikämter, Wissenschaftler und Politikverantwortliche größeres Augenmerk widmen müssen. Die VN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, die 2015 von der internationalen Staatengemeinschaft vereinbart wurden, gehen weit über die Agenda zur Wohlstandsmessung jenseits des BIP hinaus. Als Richtschnur für die Politik ist dieser Zielkatalog, der 169 Unterziele und mehr als 200 Indikatoren für das „globale Monitoring“ umfasst, jedoch zu umfangreich. Die Länder werden im Rahmen dieser umfassenden Agenda Prioritäten setzen und ihre statistischen Kapazitäten ausbauen müssen. Letztere sind selbst in fortgeschrittenen Volkswirtschaften unzureichend, um die Umsetzung der vereinbarten Ziele zu überwachen. Die internationale Gemeinschaft sollte in den Ausbau der statistischen Kapazitäten von Entwicklungsländern investieren, insbesondere in Bereichen, in denen zur Beurteilung globaler Phänomene länderspezifische Daten erforderlich sind, wie z. B. beim Klimawandel oder der globalen Einkommensverteilung.
Der Einkommens- und Vermögensungleichheit kommt heute in der politischen Debatte ein zentraler Stellenwert zu, was 2009 nicht der Fall war. In manchen Bereichen sind jedoch nach wie vor beträchtliche Fortschritte nötig. Dies gilt z. B. für die Messung der Entwicklungen an beiden Enden der Einkommensverteilung, die Berücksichtigung verschiedener Datenquellen und die Messung der gemeinsamen Verteilung von Einkommen, Verbrauch und Vermögen auf individueller Ebene. Bei einer Analyse der Ungleichheit müssen auch die Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen („horizontale Ungleichheiten“) untersucht und die Ungleichheiten innerhalb der Haushalte bzw. die Verteilung und Kontrolle der Ressourcen betrachtet werden, was insbesondere im Hinblick auf das Vermögen relevant ist. Außerdem sollten nicht nur die Ungleichheiten bei den Ergebnissen, sondern auch die Chancenungleichheit in den Blick genommen werden. Chancenungleichheit ist noch inakzeptabler als es Ungleichheiten bei den Ergebnissen sind. Die Trennlinie zwischen diesen beiden Konzepten ist allerdings unscharf, da nicht alle Faktoren, die die Ergebnisse beeinflussen und von individuellen Anstrengungen unabhängig sind, erfasst werden. Wichtig ist auch, dass die Bemühungen fortgesetzt werden, Daten zu wirtschaftlichen Ungleichheiten in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu berücksichtigen, damit Messgrößen zur Verteilung des BIP-Wachstums zur Verfügung stehen, die ebenso zeitnah sind wie die Statistiken zur gesamtwirtschaftlichen Produktion.
Ein weiterer Themenschwerpunkt dieses Buchs sind Messgrößen, die in amtlichen Statistiken nach wie vor nicht systematisch berücksichtigt werden. Ein Beispiel hierfür sind Indikatoren des subjektiven Wohlbefindens, die für die Beurteilung der nicht monetären Kosten und Vorteile staatlicher Programme und Maßnahmen von entscheidender Bedeutung sind. Seit 2009 werden diese Messgrößen in amtlichen Erhebungen mit großen Stichproben stärker berücksichtigt. Es sollten jedoch weitere Anstrengungen unternommen werden, um die vielen verbleibenden Messprobleme und Forschungsfragen zu klären. Ein weiteres Beispiel ist die Messung der wirtschaftlichen Unsicherheit. Dies ist ein „neuer“ Bereich, in dem wesentlich größere Anstrengungen nötig sind, um Messgrößen zu entwickeln, die Schocks mit ihren Auswirkungen auf die Bevölkerung sowie die zur Verfügung stehenden Puffer abbilden. Die Krise von 2008 führte nicht nur zu einem Verlust an wirtschaftlicher Sicherheit, sondern auch zu einem Vertrauensverlust, da der Umgang mit der Krise in weiten Teilen der Bevölkerung als unfair empfunden wurde. Dieser Verlust an Vertrauen (in andere und in Institutionen) ist ein dauerhaftes Vermächtnis der Krise. Er ist mitverantwortlich für die politischen Umbrüche, die derzeit weltweit zu beobachten sind. Auch auf die Messung der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit und der Schockresilienz von Systemen wird in diesem Zusammenhang eingegangen. Dies sind Prioritäten für die Forschung und die statistische Praxis, die Beiträge aus mehreren Disziplinen sowie unterschiedliche Herangehensweisen erfordern.
Dieses Buch enthält zwölf Empfehlungen für das weitere Vorgehen in all diesen Bereichen, die als Ergänzung der Empfehlungen im Bericht von Stiglitz, Sen und Fitoussi (2009) zu betrachten sind.
Fest steht, dass mehrere Messgrößen nötig sind. Dies allein genügt jedoch nicht. Es ist auch wichtig, diese Indikatoren im Politikprozess zu verankern, damit sie den Wechsel der Legislaturperioden überdauern. In diesem Buch wird ausgehend von den Erfahrungen verschiedener Länder erläutert, wie Indikatoren für Lebensqualität gegenwärtig in den verschiedenen Phasen des Politikzyklus genutzt werden. So z. B., wenn es darum geht, Handlungsprioritäten aufzuzeigen, das Für und Wider verschiedener Strategien zur Verwirklichung von Politikzielen abzuwägen, die zur Umsetzung der jeweiligen Strategien erforderlichen Ressourcen bereitzustellen, die Umsetzung von Maßnahmen in Echtzeit zu überwachen und die Ergebnisse von Politikmaßnahmen und Programmen zu prüfen, um Entscheidungen über eventuelle Anpassungen zu treffen. Außerdem wird beschrieben, welche Schritte einzelne Länder diesbezüglich unternommen haben. Diese Initiativen, die erst in jüngster Zeit umgesetzt wurden, versprechen eine effektivere Politik, da sie das traditionelle Silodenken aufbrechen. Dies wiederum könnte bewirken, dass die Bevölkerung der Politik erneut zutraut, das zu verwirklichen, was uns allen wichtig ist: eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft.