In diesem Kapitel wird zusammengefasst, wie ungeeignete Messgrößen (und Modelle) die Beurteilung der Finanzkrise von 2008 und die Reaktion auf diese möglicherweise beeinträchtigt haben, und welche Lehren daraus gezogen werden können. Es wird argumentiert, dass das BIP möglicherweise ein zu optimistisches Bild des Zustands der Wirtschaft vor der Krise und in der Erholungsphase gezeichnet und auch die Nachhaltigkeit des Wachstums überbewertet hat. Das Problem war, dass zu viele Analysten nicht über das BIP hinausblickten. Mit besseren Messgrößen und insbesondere auch geeigneten Indikatoren, die das zunehmende Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit in der Bevölkerung angemessener erfasst hätten, wäre uns vielleicht bewusst geworden, dass die Folgen des Abschwungs sehr viel tiefgreifender waren, als es die BIP-Statistiken vermuten ließen. Entsprechend hätten die Regierungen vielleicht deutlicher reagiert, um die negativen Folgen der Krise abzufedern. In diesem Kapitel liegt das Augenmerk auf zwei Unzulänglichkeiten der Standardmessgrößen: Zum einen wird nur die Passivseite des Sektors Staat beleuchtet, während die Aktivseite der Bilanz des Staatssektors (und des Landes) ignoriert wird. Zum anderen bleiben Indikatoren der ungenutzten Ressourcen am Arbeitsmarkt (die über die Standardmessgrößen der Arbeitslosigkeit hinausgehen) unberücksichtigt. Außerdem wird die Notwendigkeit hervorgehoben, das bestehende Datenmaterial durch Kennzahlen für die wirtschaftliche Unsicherheit und das subjektive Wohlbefinden zu ergänzen und Veränderungen im Human- und Sozialkapital in die Modelle einzubeziehen.
Jenseits des BIP
Kapitel 2. Messung von Wirtschaftsabschwüngen
Abstract
2.1. Einleitung
Wie weiter oben dargelegt, begann die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung als Teil der Keynesianischen Wirtschaftslehre. Es bestand die Hoffnung, mit genaueren BIP-Messungen den Konjunkturzyklus besser steuern und lange Rezessionsphasen vermeiden zu können. Einige hofften auch, auf der Basis dieser Informationen Modelle konstruieren zu können, um Rezessionen zu antizipieren und Präventivmaßnahmen zu ergreifen, die diesen entgegenwirken. Daher ist es angemessen, mit einer Thematik zu beginnen, deren Ursprung hier liegt. Geben die von uns verwendeten Messgrößen die Kosten oder Größenordnung von Konjunkturabschwüngen, wie der Großen Rezession, korrekt wieder? Liefern diese Kennzahlen insgesamt die Informationen, die erforderlich sind, um beurteilen zu können, ob eine bestimmte Wirtschaft für einen Wirtschaftsabschwung anfällig ist?
Diese Frage ist vielleicht von besonderer Bedeutung, da der Bericht der Kommission nur wenige Monate nach der Insolvenz von Lehmann Brothers im September 2008, die die Finanzkrise auslöste, veröffentlicht wurde. Die Tragweite der Krise war in den Köpfen der Kommissionsmitglieder noch präsent. Ihnen wurde klar, dass das BIP keine Messgröße für Nachhaltigkeit ist. Im Vorfeld der Großen Rezession war offensichtlich, dass das BIP-Wachstum der Vereinigten Staaten auf einem Berg privater Schulden basierte, der selbst z. T. die Folge einer Überbewertung der Vermögenswerte (insbesondere Immobilien) war. Das ist ein gigantisches Marktversagen. Im vorliegenden Kapitel wird zusammengefasst, wie unangemessene Messgrößen (und Modelle) die Beurteilung der Krise und die Reaktionen auf diese beeinflusst haben könnten und welche Lehren daraus gezogen werden können.
2.2. Die Wahl der richtigen Messgrößen
Wie in Kapitel 1 dargelegt wurde, begannen die Schwierigkeiten mit dem Informationsgehalt wirtschaftlicher Standardmessgrößen bereits vor der Krise. Viele Menschen dachten, dass sich ihre Wirtschaft in einem besseren Zustand befindet, als dies tatsächlich der Fall war. In den Vereinigten Staaten, wo die Krise ihren Ursprung hatte, wurde ein kräftiges BIP-Wachstum verzeichnet. Dabei war allerdings klar, dass dieses BIP-Wachstum zu einem großen Teil auf einer Preisblase an den Immobilienmärkten basierte, die zur Folge hatte, dass private Haushalte und Unternehmen mehr konsumierten und investierten als es vor dem Hintergrund einer solideren Analyse der Marktbedingungen gerechtfertigt gewesen wäre. Klar war auch, dass die gute Haushaltsposition der US-amerikanischen Regierung z. T. den Steuereinnahmen zu verdanken war, die durch die Immobilienspekulationsblase generiert wurden.1
Der BIP-Indikator hat den Zustand der Wirtschaft und die Nachhaltigkeit des Wachstums zu optimistisch dargestellt. Das eigentliche Problem bestand jedoch darin, dass zu wenige Analysten über das BIP hinausblickten.2 Ein Indikatoren-Dashboard, wie von der Kommission vorgeschlagen, das auch Messgrößen enthält, die genaue Informationen über die Schwachstellen im Finanzsektor liefern, wäre in dieser Situation gewiss hilfreich gewesen. Von noch grundlegenderer Bedeutung wäre es aber gewesen, dass Analysten und Entscheidungsträger ihre ideologischen Scheuklappen ablegen, die ihnen den Blick für ein besseres Verständnis der Funktionsweise des Wirtschaftssystems versperrten.
Sobald Anzeichen dafür vorhanden sind, dass sich die Wirtschaft in einer Immobilienblase befinden könnte – wenn beispielsweise das Verhältnis zwischen dem Medianwert der Immobilienpreise und den Medianeinkommen anormal hoch ist3 –, sollte vielleicht eine Reihe von Indikatoren für die finanzielle Gesundheit der Wirtschaft und des Bankensystems eines Landes näher untersucht werden. Immobilienpreisblasen werden mit einem raschen Anstieg der Bankkreditvergabe assoziiert. Eine einfache Analyse des Anteils der Haushalte, die sich bei der Refinanzierung ihrer Hypothek möglicherweise Schwierigkeiten gegenübersahen oder keine Anreize hatten, ihre Kredite im Fall eines deutlichen Einbruchs der Wohnimmobilienpreise zurückzuzahlen, hätte die finanziellen Schwachstellen der Wirtschaft aufgedeckt.4
Dies veranschaulicht, dass bei der Auswahl der relevanten Indikatoren Sorgfalt geboten ist. Einige Analysten untersuchten die durchschnittlichen Wohnimmobilienpreise im Vergleich zur durchschnittlichen Verschuldung der privaten Haushalte: Wenn alle Haushalte identisch wären, hätte es keine Krise gegeben, da selbst ein massiver Preisrückgang die Hypotheken nicht gefährdet hätte. Es gab (und gibt normalerweise) jedoch große Unterschiede in der Verteilung des (Netto-)Wohnimmobilienvermögens unter den Eigentümern. Wenn viele Wohnimmobilien die darauf lastenden Hypotheken nur noch knapp abdecken, dauert es nicht lange, bis viele Immobilien „unter Wasser geraten“, was bedeutet, dass der Wert der Hypothek den Marktwert der Immobilie übersteigt), wodurch private Haushalte Ausfallrisiken ausgesetzt werden. Wenn Banken übermäßig hoch verschuldet sind, reichen bereits wenige Hypothekenkreditausfälle für eine Bankenunterkapitalisierung. Der Großteil der für diese Bestandsaufnahme erforderlichen Daten – die signalisiert hätten, dass sich die US-amerikanische Wirtschaft in einer prekären Lage befindet – war bereits vor der Krise verfügbar, wenn auch in einigen Fällen nicht so rechtzeitig, wie es notwendig gewesen wäre. Es gab aber kein „Krisen-Dashboard“, auf das sich Politiker oder normale Bürger hätten berufen können. In Ermangelung eines solchen Dashboards glaubten die meisten Marktteilnehmer (und -experten) nur allzu gerne, dass alles in Ordnung sei und dass die Marktpreise nicht deutlich von den „Fundamentaldaten“ abweichen konnten.5
Die ökonomische Standardtheorie trug dazu bei, dass bedeutende Risiken für die Wirtschaft unzureichend beurteilt wurden. In makroökonomischen Modellen, die schwerpunktmäßig mit „repräsentativen Akteuren“ arbeiten, wird die Verteilung der Aktiva und Passiva unter den Akteuren ignoriert, da sie im Wesentlichen davon ausgehen, dass die Verteilung keine Rolle spielt. Laut dieser Theorie waren nur Durchschnittswerte erforderlich. Das gilt auch für den Finanzsektor, der in den Standardmodellen nur am Rande berücksichtigt und wenn überhaupt, durch eine „repräsentative Bank“ vertreten wurde. Ein derartiger Ansatz ignorierte natürlich die Risiken, die finanzielle Verflechtungen zwischen Banken mit sich bringen, sowie die möglichen Folgen einer Insolvenzkaskade, bei der der Konkurs eines Finanzinstituts (wie Lehmann Brothers) weitere Insolvenzen nach sich zieht. Natürlich haben Wirtschaftswissenschaftler lange vor Ausbruch der Krise genau vor dieser Art von Risiken gewarnt (Allen und Gale, 2000; Stiglitz und Greenwald, 2003).
Wir wollen uns hier aber auf die Ereignisse nach der Krise konzentrieren. Es geht uns darum, das Ausmaß der Effekte des Wirtschaftsabschwungs zu evaluieren. Im Kern lautet unser Argument, dass wir mit besseren Indikatoren – darunter auch angemessenen Messgrößen für die wachsende wirtschaftliche Unsicherheit der Bürger – hätten erkennen können, dass die Folgen des Abschwungs sehr viel tiefgreifender waren, als die BIP-Statistiken es signalisierten. In Kenntnis der Lage hätten die Regierungen vielleicht auch deutlicher reagiert, um die negativen Folgen der Krise abzufedern.
Jüngste Analysen haben auch gezeigt, dass unsere ökonometrischen Modelle den Rückgang des BIP in Rezessionsphasen6 und die danach eintretende Aufhellung der Wachstumsaussichten zu niedrig ausweisen (Stiglitz, 2014, 2016a und 2016b). Häufig ist das (je nach verwendetem Modell) darauf zurückzuführen, dass die Wohlstands- oder Kapitalverluste, die aus der Vernichtung von oder niedrigeren Investitionen in Wirtschafts-, Human- und Sozialkapital resultieren, systematisch unterschätzt werden. Das betrifft gleichermaßen die Verluste, die direkte Folgen des Abschwungs sind,7 wie auch die Verluste, die sich indirekt aus unangemessenen Politikreaktionen ergeben. Diese Kapitalformen generieren sowohl Markt- als auch Nichtmarktleistungen. Sie sind für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Wohlergehens im Allgemeinen, aber auch als Antriebskräfte für das künftige BIP-Wachstum von entscheidender Bedeutung.
2.3. Nicht erfasstes Vermögen
Dass sich das Gesamtvermögen infolge der Großen Rezession verringert hat, wurde in den Jahren nach Beginn des Abschwungs offensichtlich. Abbildung 2.1 zeigt die Entwicklung des Pro-Kopf-BIP in den Vereinigten Staaten und im Euroraum zwischen 1991 und 2019 anhand einer einfachen Extrapolation der Vorkrisenleistung für den Zeitraum nach 2009. Die durchgezogene Linie gibt das aktuelle Niveau des realen Pro-Kopf-BIP wider (gemäß den OECD-Prognosen für den Zeitraum 2018-2019). Die gepunktete Linie entspricht einer (linearen) Kurve, der historische Datenreihen (1991-2006) zugrunde liegen. Die Rauten veranschaulichen den jährlichen prozentualen Unterschied zwischen dem tatsächlichen und dem projizierten Pro-Kopf-BIP in jedem Jahr. Bei den Quadraten handelt es sich um kumulative Unterschiede seit 2009.
Auch wenn unterschiedliche Extrapolationsmodelle abweichende Messergebnisse ergeben können, zeigt sich hier doch sehr eindeutig, dass zwischen dem Niveau, auf dem sich die Wirtschaft jetzt befindet, und der Lage, in der sie auf der Basis früherer Trendentwicklungen hätte sein können, eine enorme Lücke klafft.8 Diese ist im Euroraum größer als in den Vereinigten Staaten, in beiden Fällen aber signifikant. Wie lässt sich diese Lücke erklären?
Viele Faktoren waren im Spiel. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Euroraum war das Arbeitsvolumen vor allem in den Jahren unmittelbar nach der Krise rückläufig. Wie aus den Konten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hervorgeht, nahmen die Investitionen ebenfalls ab, was eine geringere Kapitalakkumulation und weniger Sachkapitaleinsatz je Arbeitskraft zur Folge hatte. In krisengeschädigten Ländern wurden bei den öffentlichen Investitionen besonders starke Kürzungen vorgenommen, was die künftigen Wirtschaftsaussichten der Länder wahrscheinlich negativ beeinflusst hat. Parallel dazu gab es auch bei den Investitionen des privaten Sektors oft drastische Kürzungen. Diese waren auf die pessimistischen Zukunftsaussichten und Ungewissheiten zurückzuführen. Außerdem wirkte sich der Konjunkturabschwung negativ auf den Cashflow der Unternehmen aus und die Schwachstellen des Finanzsystems reduzierten das Kreditangebot, was bei finanzschwachen Unternehmen einen Rückgang der Investitionen zur Folge hatte. Im Gefolge der Krise hatten internationale Organisationen und private Unternehmen die Prognosen des BIP-Wachstums in krisengeschädigten Ländern generell deutlich überschätzt, was u. a. darauf zurückzuführen war, dass der Rückgang der Investitionstätigkeit unterschätzt wurde. Auch in diesem Punkt scheinen die politisch Verantwortlichen im Anschluss an die Krise den Dominoeffekt dieser Maßnahmen auf die privaten Investitionen und die künftigen Wirtschaftsaussichten nicht ausreichend berücksichtigt zu haben.9
Der Unterschied zwischen dem erfassten BIP und dem BIP, das auf der Basis historischer Veränderungen im Arbeitsvolumen und (ökonomischen) Sachkapital aus der Vergangenheit „vorausgesagt“ werden konnte, lässt sich aber nicht so einfach erklären. Außerdem werden bestimmte Elemente des Kapitals nur unzureichend erfasst. Hierbei handelt es sich z. B. um Veränderungen beim Human- und Sozialkapital, denen in makroökonomischen Modellen normalerweise nicht Rechnung getragen wird, die aber Hauptbestimmungsfaktoren nicht nur für die Lebensqualität der Menschen, sondern auch für das langfristige BIP-Wachstum sind. Und in der Tat hat es in beiden Kapitalformen möglicherweise erhebliche Verluste gegeben, die zusammen einen beachtlichen Rückgang darstellen.
2.3.1. Humankapital und Wissen
Am einfachsten zu erkennen – und als eine Komponente zu verstehen, der wir generell nicht Rechnung tragen – sind Veränderungen beim Humankapital.10 Die Statistiken zum Humankapital beziehen sich zwar generell schwerpunktmäßig auf die formale Bildung, doch ist das Lernen am Arbeitsplatz mindestens genauso wichtig (oder vielleicht noch wichtiger). Es umfasst sowohl die vom Arbeitgeber organisierten Fortbildungen am Arbeitsplatz, als auch die Aneignung von Kompetenzen allein durch die Arbeitserfahrung. Bei einer hohen Arbeitslosigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, bilden sich viele Menschen einfach nicht weiter. Wenn große Teile der Bevölkerung keine Arbeit haben, kann das Lernen am Arbeitsplatz nicht so ausgeprägt sein. Selbst Personen mit hohem Kompetenzniveau werden feststellen, dass ihre am Arbeitsplatz erworbenen Kompetenzen in der Tat nachlassen, wenn sie über längere Zeit arbeitslos sind. Modelle, die die durch die Ausübung einer Berufstätigkeit oder einen vergleichsweise längeren Verbleib an einem Arbeitsplatz erworbenen Kompetenzen schätzen, würden uns eine Vorstellung von der Größenordnung dieses Verlusts an Humankapital geben. Wir können die Größenordnung dieser Verluste einschätzen, wenn wir die Situation jener Menschen betrachten (in der Regel junge Menschen mit Bildungsabschluss), die in einer Rezessionsphase ins Erwerbsleben eintreten. Die niedrigeren Löhne und das höhere Niveau der Arbeitslosigkeit unter neuen Absolventen, die in Rezessionsphasen in die Erwerbsbevölkerung eingetreten sind, hinterlassen „Narben“, die ihre berufliche Laufbahn ein Leben lang beeinträchtigen. Konkret haben sie im Vergleich zu Kohorten, die dem Arbeitsmarkt in Expansionsphasen beigetreten sind, wahrscheinlich ein wesentlich niedrigeres Lebenseinkommen (Garrouste und Godard, 2016; Kahn, 2010; Oreopoulos, von Wachter und Heisz, 2012).11
In krisengeschädigten Ländern war auch die formale Bildung betroffen, wenn auch in weniger sichtbarer Form. Während der BIP-Anteil der öffentlichen Ausgaben zwischen 2008 und 2014 (im Durchschnitt und in den meisten OECD-Ländern) geringfügig zunahm, ging er in den von der Krise am stärksten heimgesuchten Ländern, wie Italien und Spanien, (um 0,2 Punkte oder mehr) zurück (Abbildung 2.2, oberer Teil). In absoluter Rechnung betrachtet, war der Rückgang der öffentlichen Bildungsausgaben natürlich größer, da das BIP weniger stark nach unten oder oben fluktuierte als vor der Krise. Die Auswirkungen der Krise auf die privaten Bildungsausgaben sind weniger klar. Zum einen haben finanzschwache Haushalte ihre Bildungsausgaben gekürzt, zum anderen sind aber viele junge Menschen länger in Bildung geblieben, weil weniger Arbeitsplätze zur Verfügung standen, d. h. die Opportunitätskosten der Bildung sind niedriger. In Italien und Spanien wurden die Kosten für die Bildung durch die Kürzung der öffentlichen Bildungsausgaben einfach auf die privaten Haushalte übertragen, deren Ausgaben folglich zunahmen.
Insgesamt könnte die Rezession den Wissensstand beeinträchtig haben, was insbesondere das institutionelle Wissen in Organisationen/Unternehmen betrifft. Studien haben gezeigt, dass dieses Wissen einen Großteil des Wachstums der Multifaktorproduktivität ausmacht (OECD, 2013a). Die in einem Wirtschaftsabschwung stark zunehmenden Insolvenzen zerstören dieses institutionelle Wissen. Und auch wenn kein Wissen zerstört wird, hat sich das Tempo der Schaffung neuen Wissens verlangsamt, da die öffentlichen wie auch die privaten Wissensinvestitionen zurückgeschraubt werden. Angesichts der Tatsache, dass die Folgen dieser Investitionsrückgänge aber erst Jahre später spürbar werden, ist es oft sehr viel einfacher, bei diesen Ausgaben zu kürzen, als beispielsweise beim Gehalt. Dies zeigt, wie wichtig es ist, bessere Messgrößen des Humankapitals zu entwickeln, die alle Wissensformen umfassen, und diese Kennzahlen in konventionelle Wachstumsrechnungsmodelle einzubeziehen.12 Diese Thematik wird im Kapitel von De Smedt, Giovannini und Radermacher im Begleitband zu dieser Publikation näher untersucht.
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Humankapitals ist die Gesundheit. Ob die Wirtschaftskrise und die in ihrem Gefolge umgesetzten makroökonomischen Maßnahmen den Gesundheitszustand der Bevölkerung in den betroffenen Ländern verschlechtert haben, ist eine Frage, die von Wissenschaftlern, darunter auch Mitgliedern der HLEG diskutiert wird. Auf der einen Seite sprechen viele Gründe dafür, dass sich der psychische Gesundheitszustand von Personen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, verschlechtert, was z. T. den emotionalen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit und insbesondere dem empfundenen Stress, zuzuschreiben ist. Lange Phasen der Arbeitslosigkeit können auch extrem negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen haben. So kann ein Teufelskreis entstehen, in dem ein schlechter Gesundheitszustand trübe Beschäftigungsaussichten und niedrige Einkommen nach sich zieht, was den bereits prekären Gesundheitszustand einer Person weiter verschlimmern kann. Desgleichen können Kürzungen bei den Gesundheitsleistungen infolge von Sparmaßnahmen in einigen europäischen Ländern (allen voran Griechenland) langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung haben (Kentikelenis et al., 2014). Es sind auch Belege dafür vorhanden, dass diese Folgen für die Gesundheit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auch noch Jahre nach der Krise direkt beeinflussen (IWF, 2013). Die niedrige Erwerbsquote in den Vereinigten Staaten erklärt sich z. T. aus dem schlechten Gesundheitszustand eines Großteils der Nichterwerbstätigen, von denen nahezu die Hälfte verschreibungspflichtige Schmerzmittel einnimmt (CEA, 2016; Krueger, 2017).
Auf der anderen Seite konnte in anderen empirischen Studien jedoch kein signifikanter Effekt der Rezession auf den Gesundheitszustand festgestellt werden. Die meisten OECD-Länder verzeichneten höhere öffentliche und private Gesundheitsausgaben (in Prozent des BIP) (Abbildung 2.2, unterer Teil).13 In den Vereinigten Staaten hatte der Rückgang der Lebenserwartung in der weißen Bevölkerung mittleren Alters bereits lange Zeit vor der Krise begonnen und scheint sich seither nicht verstärkt zu haben. Am stärksten betroffen waren gering qualifizierte Personen, die dem von Case und Deaton (2015) als „Tod aus Verzweiflung“ bezeichneten Phänomen zum Opfer fielen. Die meisten OECD-Länder verzeichneten 2015 einen Rückgang der Lebenserwartung. Dabei handelte es sich jedoch um eine einmalige Entwicklung, die sich 2016 bereits wieder umkehrte. Der Rückgang betraf vor allem die ältere Generation (die den Arbeitsmarkt bereits verlassen hatte) und war auf eine außergewöhnlich starke Grippe-Epidemie (EuroMOMO, 2018) zurückzuführen. Es bedarf weiterer Daten und Analysen, um diese Veränderungen beim Gesundheitszustand und damit verbundene Ungleichheiten zu überwachen und die Faktoren zu ermitteln, die ihnen zugrunde liegen.
2.3.2. Sozialkapital
Eine Kapitalkategorie, der unzureichend Aufmerksamkeit gewidmet wurde, ist das Sozialkapital, und insbesondere das Vertrauen in Institutionen. Ein starker Abschwung ist an sich ein Beleg dafür, dass unser Wirtschaftssystem nicht gut gesteuert wird. In jeder Gesellschaft wird die Steuerung des Wirtschaftssystems einer politischen und beruflichen Elite anvertraut. In einer Rezession behält die Elite in der Regel jedoch ihre Arbeitsplätze, während andere sie verlieren. Dies war insbesondere in den Vereinigten Staaten der Fall, wo Personen mit Managementverantwortung im Finanzsektor im Vorfeld der Krise unverhältnismäßig stark vom Wirtschaftssystem profitierten, aber in keinerlei Weise zur Verantwortung gezogen wurden, noch nicht einmal in den vielen Fällen, in denen sie ein sozial verwerfliches Verhalten an den Tag legten.14 Normale Bürger verloren indessen nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihr Zuhause und noch vieles mehr. Viele hatten den Eindruck, dass das Wirtschaftssystem darauf ausgerichtet war, nur einigen wenigen zugutezukommen. Familien der Arbeiter- und Mittelschicht hatten das Gefühl, dass sie für ihre harte Arbeit nur unzureichend belohnt wurden. Ihnen war versprochen worden, dass sich ihr Lebensstandard mit der Globalisierung, den neuen Technologien und der Liberalisierung des Finanzsystems erhöhen würde. In Wirklichkeit führten diese Veränderungen im Wirtschaftssystem nicht zur versprochenen Wachstumsbeschleunigung. Das Wachstum, das erzielt wurde, kam in unverhältnismäßig starkem Maße den obersten Schichten der Bevölkerung zugute. Dies hatte nicht nur eine wachsende Ungleichheit zur Folge, sondern mündete auch in eine der größten Krisen in einem Dreivierteljahrhundert.
Selbst der Aufschwung hat möglicherweise zu einem Vertrauensverlust geführt, da die Politiker das Ende der Rezession zu einem Zeitpunkt angekündigt haben, an dem die meisten Menschen noch weiter unter ihren Folgen litten. Kurzum, es gab viele Gründe für den Vertrauensverlust in die Wirtschaft und die Institutionen. Im weiteren Verlauf dieser Publikation wird der Zusammenhang zwischen Vertrauen und Wirtschaftsleistung ausführlicher beschrieben. An dieser Stelle sei einfach festgehalten, dass dieser Vertrauensverlust als Erosion des Sozialkapitals betrachtet werden kann, die einen weiteren Erklärungsfaktor für das nicht erfasste Kapital darstellt. Eine Rechnungslegungsmethode, die die Veränderungen beim Wirtschafts-, Human- und Sozialkapital zuverlässig verfolgt, würde das Fundament für ein besseres Verständnis der Kosten wirtschaftlicher Abschwungphasen bilden. Das wiederum könnte Regierungen dazu veranlassen, in einer Rezession energischere Maßnahmen zu ergreifen.
2.4. Wirtschaftliche Sicherheit und subjektives Wohlbefinden
Die nicht erfassten Kapitalkomponenten, die wir weiter oben erörtert haben, können als Faktoren betrachtet werden, die das Wohlergehen der Menschen und das Wachstum des BIP steigern können. Neben diesen Effekten gibt es aber noch mehrere andere Bereiche, in denen unser System von Wirtschaftsindikatoren die wahren Konsequenzen (d. h. die Kosten) von Rezessionen nicht angemessen widerspiegelt.
Beispielsweise haben wir weiter oben festgestellt, dass die wirtschaftliche Sicherheit ein wichtiger Aspekt des individuellen Wohlbefindens ist. Menschen geben große Beträge für Versicherungen aus, um sich gegen viele Risiken abzusichern. Allerdings gelingt es den Märkten nicht, Versicherungen gegen einige der größten Risiken anzubieten, wie beispielsweise den Arbeitsplatzverlust. Als Reaktion darauf haben die Länder eine Vielzahl von Sozialversicherungssystemen eingerichtet, darunter insbesondere die Arbeitslosenversicherung. Sie basiert auf dem Gedanken einer Bündelung der Risiken verschiedener Arbeitnehmergruppen. In einer Reihe europäischer Länder wie auch in den Vereinigten Staaten wurden die Arbeitslosenleistungen in den Anfangsjahren der Krise erhöht, um den negativen Einkommenseffekt des Anstiegs der Arbeitslosigkeit abzufedern. In den meisten Ländern hat allerdings nur ein Teil der Erwerbslosen Zugang zur Arbeitslosenversicherung. Beispielsweise sind Menschen, die ins Erwerbsleben eintreten, in den meisten Ländern nicht abgesichert, auch wenn sie u. U. viel Geld und viel Zeit in ihre Bildung investiert haben, in der Hoffnung, dadurch einen angemessenen Arbeitsplatz zu bekommen.15 Hinzukommt, dass nur sehr wenige Länder Versicherungen gegen Unterbeschäftigung anbieten, von der beispielsweise Selbstständige betroffen sein können, wenn ihre Einkommen unter dem Einfluss von Umsatzeinbußen schrumpfen. Wegen des unzureichenden Versicherungsschutzes können einige Menschen überdies ihre Wohnung verlieren, wenn ihre Erwerbseinkommen zurückgehen. Wenige Länder bieten Hypothekenkredite, die es Kreditnehmern ermöglichen, ihre Rückzahlungen aufzuschieben, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren.
Je länger eine Rezession andauert, desto höher sind die Kosten für die wirtschaftliche Sicherheit der Bevölkerung. Bessere Kennzahlen zur Messung der wirtschaftlichen Unsicherheit hätten die großen Verluste aufgedeckt, die einzelne durch die Krise in dieser Hinsicht erlitten haben.
Generell hat sich das individuelle Wohlbefinden in den Ländern, die am stärksten von der Rezession heimgesucht wurden, drastisch verschlechtert.16 Betroffen waren in diesen Ländern vor allem Personen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, und junge Menschen, die keine Stelle bekamen. Die Lebenszufriedenheit von Personen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, fällt Eigenangaben zufolge schlechter aus, selbst nach Bereinigung um ihre niedrigen Einkommen. Diese negativen Effekte bestehen im Zeitverlauf fort. Unter den Arbeitslosen sind auch Trauer-, Stress- und Schmerzerfahrungen sehr viel häufiger, positive Gefühle, wie Freude, Zufriedenheit und Optimismus, dagegen seltener. Diese subjektiven Erfahrungen legen den Schluss nahe, dass die Kosten der Arbeitslosigkeit höher sind als die Einkommensverluste derjenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Gründe hierfür sind mit der Arbeitslosigkeit einhergehende, nicht finanzielle Effekte sowie die Befürchtungen und Ängste, die die Arbeitslosigkeit in den übrigen Teilen der Gesellschaft auslöst.
Untersuchungen haben ergeben, dass es für diese Verhaltensmuster ziemlich offensichtliche Erklärungen gibt. Für den Einzelnen ist der Beruf ein wichtiger Teil seiner Identität und seines Selbstwertgefühls. Eine Person, die ihre Familie nicht ernähren kann, verliert ihr Gesicht und das Ansehen ihrer Familie sowie ihres Umfelds. Mit anderen verbunden zu sein, ist auch für das Wohlbefinden von Menschen wichtig. Der Arbeitsplatz ist eine der Hauptquellen der Vernetzung in unserer Gesellschaft. Personen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, fühlen sich daher stärker isoliert und unglücklicher (De Neve, 2018). Messgrößen des subjektiven Wohlbefindens, deren Bedeutung im Bericht der Kommission hervorgehoben wurde, hätten dies signalisiert.
2.5. Volkswirtschaften erholen sich nie vollständig von einem starken Abschwung
Kurzum, hätten sich die Politikverantwortlichen auf ein Indikatoren-Dashboard gestützt, das die Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft umfassender widerspiegelt, wären sie sich der Stärke des Konjunkturabschwungs und seiner Folgen für das gesellschaftliche Wohlergehen deutlicher bewusst geworden. Der Rückgang des „wahren Vermögens“ des Landes dürfte in jenen Ländern besonders besorgniserregend gewesen sein, die von der Krise am stärksten in Mitleidenschaft gezogen worden waren, wie Griechenland, Spanien, Irland, Italien und Portugal, da die Krise das wirtschaftliche Potenzial dieser Länder für die Zukunft geschwächt hat.
Länder, die tiefe Rezessionen erleben, erholen sich möglicherweise nie vollständig. Abbildung 1.1 und Abbildung 1.2 veranschaulichen, was auf dem Spiel steht. Selbst wenn das BIP-Wachstum wieder einsetzt, wird es nie kräftig genug sein, um die Lücke zu schließen zwischen dem Niveau, auf dem die Wirtschaft tatsächlich stand und dem Niveau, das sie erreicht hätte. Und selbst wenn das Wachstum zu seinem Vorrezessionsniveau zurückkehrt (ohne die entstandene BIP-Lücke zu schließen), ist der abgezinste Gegenwartswert der Verluste enorm.17
Über die Effekte der Krise auf das BIP-Niveau hinaus wird derzeit darüber debattiert, ob sich die langfristigen Auswirkungen einer tiefen Rezession auch in der künftigen Wachstumsrate niederschlagen. Aus jüngsten Analysen geht hervor, dass sich Volkswirtschaften zwar nie bis zum Vorkrisen-BIP erholen, die langfristige Wachstumsrate aber unberührt bleibt.18 Dies wäre Standardwachstumstheorien entsprechend auch zu erwarten, weil darin das Tempo des technologischen Wandels systemexogen ist (d. h. sozusagen ein „Geschenk des Himmels“). Wie wir aber weiter oben dargelegt haben, beeinträchtigen tiefe Abschwungphasen die Humankapitalbildung und damit auch die Fähigkeiten eines Landes, in Forschung zu investieren. Dies kann wiederum das Wachstum über einen längeren Zeitraum in Mitleidenschaft ziehen. Abbildung 2.1 veranschaulicht, dass die BIP-Wachstumsraten nach der Rezession sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Euroraum niedriger waren als vor der Rezession. Zwar hatte die Wachstumsverlangsamung bereits vor der Krise eingesetzt,19 doch kann sie sich durch die Krise durchaus verschärft haben. Die Immobilienblase platzte zwei Jahre vor Ausbruch der Krise und die vollen Auswirkungen traten erst einige Zeit später zutage. In einem Umfeld, das von einem übermäßigen Ressourcenfluss in den Immobiliensektor geprägt ist, würden mit der Krise einhergehende Verzerrungen das langfristige Wachstumspotenzial eines Landes sowieso schwächen. Grundsätzlich ist die Frage, ob sich das Wachstum einer Wirtschaft letztendlich erholen kann, nicht so wichtig wie die Frage, wie lange dieser Prozess dauert. Je länger die Erholung auf sich warten lässt, desto größer ist der (diskontierte) kumulative Verlust. Entsprechend können Maßnahmen, die rascher für eine Wiederherstellung der Vollbeschäftigung in der Wirtschaft sorgen, den kumulativen Verlust erheblich verringern.
2.6. Zweckentfremdung existierender Messgrößen: unangebrachte Fokussierung auf staatliche Verbindlichkeiten
Die andere Seite der Medaille in den Diskussionen über die Auswirkungen unseres Messsystems betrifft die Kosten der Reaktion auf die Krise. Viele Länder haben diese Kosten möglicherweise überschätzt, weil sie die Statistiken unangemessen verwendet haben. Ein Standardinstrument, das im letzten Dreivierteljahrhundert zur Steuerung des Konjunkturzyklus verwendet wurde, ist der Anstieg der Staatsausgaben. In einem tiefen Wirtschaftsabschwung mit hoher Arbeitslosigkeit kann dieser Anstieg eine Zunahme des BIP zur Folge haben, die die ursprünglichen Ausgaben um ein Vielfaches übersteigt (Blanchard und Leigh, 2013). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn eine solche Politik in konzertierter Aktion in verschiedenen Ländern umgesetzt wird.20 In einem Wirtschaftsabschwung gehen die Steuereinnahmen allerdings zurück. Zugleich sind insbesondere in Ländern, die über umfassende soziale Sicherungsnetze verfügen, die öffentlichen Ausgaben bereits hoch, wodurch sich die Haushaltsdefizite vergrößern. Staatsausgaben, die nicht von Steuererhöhungen flankiert werden, führen unweigerlich zu weiteren Zunahmen des Staatsdefizits. Einige Länder, die sich zu einseitig auf diesen Anstieg des öffentlichen Defizits und Schuldenstands konzentrieren, sprachen sich gegen eine Erhöhung der Staatsausgaben als Reaktion auf den Abschwung aus. Nach einer strengen Interpretation des Wachstums- und Stabilitätspakts müssten die Regierungen der Länder des Euroraums in der Tat dafür sorgen, ihre Defizite selbst in Rezessionsphasen unter 3 % des BIP zu halten. De facto war es aber so, dass viele Länder des Euroraums die Defizitgrenze von 3 % infolge der Krise überschritten. In einigen von ihnen liegt die Staatsverschuldung über dem Schwellenwert von 60 %.21 Unabhängig vom Nutzen, den diese Defizit- und Schuldengrenzen als Fundament für ein dauerhaftes langfristiges Wachstum und die Minderung grenzüberschreitender finanzieller und wirtschaftlicher Probleme innerhalb der Eurozone haben, ist klar, dass sie das Wirksamwerden automatischer Stabilisatoren (tendenzielle Erhöhung öffentlicher Defizite bei nachlassendem Wachstum) gerade in dem Moment behindern, in dem diese Stabilisatoren am stärksten gebraucht werden. In der Praxis hat die Durchsetzung dieser Auflagen dazu geführt, dass die staatliche Haushaltspolitik von einem antizyklischen zu einem prozyklischen Kurs übergegangen ist. Dies hatte eine Verschärfung des Wirtschaftsabschwungs zur Folge, ein Effekt, der in den von der Krise heimgesuchten Ländern am deutlichsten zutage trat.
Diese Fokussierung auf staatliche Verbindlichkeiten ist aus unserer Sicht ein weiteres Beispiel für eine Zweckentfremdung von Daten. Ausschlaggebend für die Zukunft eines Landes ist seine Bilanz, zusammen mit den Bilanzen aller institutionellen Sektoren, wie private Haushalte, Unternehmen, Staat und übrige Welt. Bilanzen weisen sowohl das Vermögen als auch die Verbindlichkeiten aus. Wenn sich höhere staatliche Ausgaben in höheren Investitionen niederschlagen – in Menschen, Technologie oder Infrastruktur – dürften sich die Bilanzdaten nicht verschlechtern, da Aktiva und Passiva um denselben Betrag steigen. Es ist einfach ein Fehler, nur auf die Sollseite der Bilanz zu blicken. Kein Analyst würde bei der Prüfung der wirtschaftlichen Aussichten eines Unternehmens so vorgehen. Und wir sollten es beim Staat auch nicht tun.
Es gibt allerdings einen großen Unterschied zwischen der Bilanz des Staats und der Bilanz eines Unternehmens (oder privaten Haushalts). Anders als der Staat erfassen Unternehmen die Multiplikatoreffekte ihrer höheren Ausgaben auf ihre Einnahmen nicht. Wenn ein Unternehmen Geld aufnimmt, um Aktiva zu erwerben, verbessert sich seine Bilanz, wenn die Investitionsrendite höher ist als die Kapitalkosten – und nur dann. (Natürlich sehen sich private Haushalte in der Regel höheren Kapitalkosten gegenüber als der Staat, wodurch der Renditeschwellenwert noch höher liegt.) Das trifft aber nicht auf den Staatssektor zu, der auch von den höheren Steuereinnahmen profitiert, die durch die fiskalische Expansion erwirtschaftet werden. Insbesondere in einem tiefen Abschwung (in dem die Multiplikatoren hoch und die Zinssätze niedrig sind) könnte sich die Bilanz des Sektors Staat selbst bei einer unter dem Zinssatz für Staatsanleihen liegenden Investitionsrendite verbessern.22
Man könnte argumentieren, dass sich die Situation weniger positiv darstellt, wenn die Investitionserträge dem Staat nicht zufließen. Aber selbst in diesem Fall dürfte die Bilanz des Landes insgesamt durch diese Investition verbessert werden. Ob sich die Kreditaufnahme im Ausland für ein Land lohnt, hängt im Wesentlichen davon ab, wie es die Finanzmittel investiert. Nimmt ein Land im Ausland Mittel für den laufenden Konsum auf, verschlechtern sich die Bilanzdaten des Landes und die Aussichten für die künftigen Generationen trüben sich ein, falls makroökonomische Effekte ausbleiben. Nimmt ein Land dagegen Finanzmittel auf, um Investitionen mit hoher Rendite zu finanzieren, verbessern sich die Bilanzdaten des Landes. Beispielsweise richtete sich die Kritik an den hohen Beträgen, die die Vereinigten Staaten insgesamt jedes Jahr im Ausland aufnahmen – was in den Jahren vor der Krise zu einem Leistungsbilanzdefizit von über 5 % führte –, dagegen, dass ein Großteil der Mittel für Konsumzwecke und für Investitionen mit geringer Rendite verwendet wurde, wie den Bau qualitativ minderwertiger Häuser inmitten der Nevada-Wüste. In einem solchen Fall verschlechtert sich die Bilanz des Landes.23
Es gibt einen weiteren Grund dafür, sich über den Staat hinaus einen Gesamtüberblick über die Bilanzposition aller Sektoren einer Wirtschaft zu verschaffen. Das Land als Ganzes kann nämlich insgesamt selbst bei scheinbar solider Haushaltsposition des Staats hohe Defizite und Schuldenstände ausweisen, die möglicherweise privaten Haushalten und Unternehmen zuzuschreiben sind. In einer Krise werden diese privaten Schulden oft rasch zu öffentlichen Schulden. Das gilt insbesondere für Bankverbindlichkeiten. Wir haben das im Fall Irlands erlebt, wo staatlich gesicherte Bankschulden dazu geführt haben, dass die Staatsschuldenquote in kurzer Zeit von weniger als 30 % im Jahr 2007 auf über 130 % im Jahr 2012 gestiegen ist.24 In den meisten Fällen ist diese Schuldenumschichtung vom privaten in den öffentlichen Sektor das Ergebnis innenpolitischer Spannungen. Dies ist z. B. der Fall, wenn der politisch machtvolle Finanzsektor den Staat unter Druck setzt Banken zu retten, mit dem Argument, dass anderenfalls das ganze Land in Schwierigkeiten gerät. Mittlerweile besteht ein Konsens, dass es sich hierbei um fadenscheinige Gründe handelt. Der Staat sollte Anteils- und Anleiheinhaber oder Banker nicht für ihre Zahlungsausfälle entschädigen, sondern nur (bei Bedarf) Verbindlichkeiten übernehmen, um die Einlagekunden zu schützen. Und obwohl einige Regierungen, wie die der Vereinigten Staaten, Gesetze verabschiedet haben, um solchen Rettungsaktionen in Zukunft entgegenzuwirken, sieht die Realität so aus, dass weiterhin Rettungen vorgenommen werden, insbesondere wenn es um Banken geht, die zu groß (oder zu stark vernetzt) sind, um sie scheitern zu lassen.
Deshalb sollte zur Beurteilung der Finanzposition des Staats nicht nur die Bilanz des Staatssektors herangezogen werden, sondern auch das Risiko beurteilt werden, dass private Verbindlichkeiten in Zukunft in öffentliche Verbindlichkeiten umgewandelt werden. Eben aus diesem Grund enthält die G20 Data Gap Initiative auch die Empfehlung, die Transaktionen aufzuzeichnen, die zwischen verschiedenen Wirtschaftssektoren (private Haushalte, Unternehmen, Staat und übrige Welt) stattfinden, um herauszufinden, wann finanzielle Schwachstellen in einem Sektor auf einen anderen übergreifen können.
2.6.1. Aufstellung von Kapitalbilanzen
Heute stellen nur wenige Länder diese Vermögensbilanzen für den Sektor Staat und die übrigen Sektoren auf. Informationen über die vom Staat gehaltenen Finanzaktiva (wie Barguthaben, Aktienbesitz und Gegenwert der Beteiligungen der öffentlichen Hand an staatlichen Unternehmen) und über die von anderen Sektoren gehaltenen Finanzaktiva sind in der Regel erhältlich. Anders ist es bei nichtfinanziellen Vermögenswerten (d. h. Sachwerten), wie Infrastrukturnetzen, Schulen und Gesundheitsversorgungszentren.
Auch die Passivseite der Bilanzen weist Probleme auf. Neben den in der Bilanz erfassten staatlichen Verbindlichkeiten existieren möglicherweise außerbilanzielle Verbindlichkeiten aus vertraglichen Zahlungsverpflichtungen der Regierung (Verpflichtung zu Rentenzahlungen an ehemalige Bedienstete oder zu Investitionen im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften), Eventualverbindlichkeiten aus Garantien gegenüber Finanzinstituten sowie implizite Verbindlichkeiten, die auch ohne Vertragsform, ein „Versprechen“ künftiger Leistungen an Bürger (und andere Institutionen) darstellen.
Auch die Unterscheidung zwischen dem Sektor Staat und anderen Einheiten des öffentlichen Sektors (wie Zentralbanken und Staatsunternehmen) ist problematisch. Grund sind die engen Verflechtungen zwischen diesen Einheiten und dem Staat, insbesondere im Fall von Vehikeln, die für den Umgang mit in Not geratenen Finanzinstituten eingerichtet wurden (Barnes und Smyth, 2013). Es handelt sich hierbei um eine Art „Schuldentransfer“ vom privaten auf den öffentlichen Sektor, wie weiter oben erörtert.
Mit der Umsetzung einiger der Empfehlungen der G20 Data Gap Initiative ließe sich ein exakteres Bild darüber erstellen, wie sich das Gesamtvermögen eines Landes und die Finanzlage des Staats entwickeln. Dies geht aber nicht weit genug, da derzeit nicht alle Kapitalformen berücksichtigt werden. Auf der Basis der derzeit verfügbaren Daten können umfassendere Bilanzen erstellt werden, obwohl dabei Ermessungsentscheidungen getroffen werden müssten. Eine dieser Entscheidungen betrifft die Festlegung der „Grenze des staatlichen Vermögens“. Heute gehören Bauwerke (Brücken, Gebäude usw.), Ausrüstungen (Maschinen), FuE-Ausgaben, Grund und Boden sowie Bodenschätze in den nationalen Bilanzen zum staatlichen Vermögen (auch wenn sie selten vollständig gemessen werden). Andere Vermögenswerte könnten in diese Kategorie aufgenommen werden, wie beispielsweise das Humankapital – als Resultat der Ausgaben für Bildung und Ausbildung – oder funktionierende Ökosysteme, die durch öffentliche Ausgaben für die Umwelt gefördert wurden.25 Der Großteil der Gesundheitsausgaben, insbesondere für Kinder, sollte ebenfalls in die Kategorie der Investitionen aufgenommen werden.
VGR-Experten diskutieren schon seit vielen Jahren über diese Fragen. Sie werden in den meisten Fällen nicht aus Prinzip, sondern aus pragmatischen Gründen ausgeklammert. Neue Vermögenswerte werden nur hinzugefügt, wenn sich solide und vergleichbare Messgrößen entwickeln lassen und Daten zur Verfügung stehen.26 In der Frage, wie sich die einzelnen staatlichen Ausgabekategorien am besten erfassen lassen und wie rasch getätigte Investitionen in Zukunft abgeschrieben werden können, gehen die Meinungen wahrscheinlich auseinander.
Diese Probleme müssen und können überwunden werden, und es können Daten generiert werden, um umfassendere nationale und Sektorbilanzen zu erstellen. Grundsätzlich sollten Posten, die als Investitionen betrachtet werden, günstiger behandelt werden als andere, vor allem in einem Wirtschaftsabschwung, in dem die Finanzmittel knapp sind.
2.6.2. Reaktionen auf Staatsdefizite und -schulden
In den vorigen Absätzen wurde erläutert, warum nach konventionellen Maßstäben gemessene Defizite und Schulden kein vollständiges Bild des realen Nettovermögens des Staats und seiner Veränderungen zeichnen. Eine in dieser Publikation häufig wiederholte Botschaft lautet, dass die Wahl der Messgröße Auswirkungen auf unser Handeln hat. Wenn öffentliche Vermögenswerte nicht vollständig gemessen werden, finanzielle Verbindlichkeiten des Staats dagegen voll und ganz erfasst werden, liegt ein unverhältnismäßig starker Fokus auf der Sollseite der Staatsbilanzen. Das Gleiche gilt für unvollständige Kapitalkonten und nationale Bilanzen. Dieser Sachverhalt hat zu wirtschaftspolitischen Entscheidungen beigetragen, wie beispielsweise der Einführung der Defizitgrenze von 3 % und der Schuldengrenze von 60 % im Rahmen des Wachstums- und Stabilitätspakts des Euroraums. (Diese Richtwerte sind das Ergebnis eines politischen Prozesses und basieren nicht auf einer Wirtschaftstheorie oder soliden empirischen Befunden.) Während der Großen Rezession nahmen die Haushaltsdefizite infolge der automatischen Stabilisatoren (eine natürliche Reaktion in einem Wirtschaftsabschwung, wenn die Staatsausgaben steigen und die Steuereinnahmen sinken) und der expansiv ausgerichteten Politik einiger Länder in den Jahren bis 2010 zu. Diese Maßnahmen wurden dann aber aufgrund von Befürchtungen über einen Anstieg der Staatsverschuldung korrigiert. Mit dem Beginn der Eurokrise haben einige Länder den Zugang zu Finanzmitteln verloren und waren gezwungen, zu einer extremen Austeritätspolitik überzugehen – die den Wirtschaftsabschwung und die damit verbundenen Belastungen noch weiter verschärfte. Selbst in Ländern wie den Vereinigten Staaten, wo die Aufnahme von Kapital einfach war, wurden expansive Maßnahmen stark eingeschränkt, was zumindest teilweise darauf zurückzuführen war, dass ungeeigneten Messgrößen eine übermäßig große Bedeutung beigemessen wurde.
Auch wenn die Austeritätspolitik keine unvermeidliche Folge irreführender Statistiken war, haben letztere dennoch zu den durch die Krise auferlegten Härten und ihren langfristigen Folgen beigetragen.
2.7. Arbeitslosigkeit: Unvollständiges Bild des verfügbaren Arbeitskräftepotenzials
Bei den Diskussionen in dieser Publikation geht es größtenteils um die Messung des menschlichen Wohlergehens und um die Grenzen des BIP als Proxy-Indikator der Lebensqualität. Aber auch andere Statistiken, von denen einige in das Dashboard von Indikatoren aufzunehmen sind, anhand derer beurteilt wird, in welchem Zustand sich die Wirtschaft befindet, müssen mit gleicher Sorgfalt analysiert werden. Lassen Sie uns einen der wichtigsten Indikatoren eines Wirtschaftsabschwungs näher untersuchen: das Niveau der Arbeitslosigkeit.
Die Arbeitslosigkeit wird generell im Rahmen von Arbeitskräfteerhebungen gemessen, in denen Personen gefragt werden, ob sie in der Referenzwoche der Erhebung nicht erwerbstätig waren, aktiv nach Arbeit gesucht haben und im Fall eines Arbeitsangebots für eine Arbeitsaufnahme verfügbar waren. Personen, die all diese Bedingungen erfüllen, gelten als arbeitslos. Allerdings könnte dieser Ansatz insbesondere in Zeiten, in denen die Wirtschaft in einen tiefen Abschwung abgleitet, die Rezession zu optimistisch darstellen.
Personen, die monatelang einen Arbeitsplatz suchen und keinen finden, geben die Suche häufig auf. Sie werden zu sogenannten „entmutigten Arbeitskräften“. Nach den oben aufgelisteten Kriterien sind sie nicht arbeitslos, sind aber mit Sicherheit auch nicht in Beschäftigung. Desgleichen gibt es viele Personen, die gezwungenermaßen teilzeitbeschäftigt sind und lieber Vollzeit arbeiten würden. Breiter gefasste Messgrößen der Arbeitslosigkeit, die auch entmutigte Arbeitskräfte und unfreiwillige Teilzeitkräfte umfassen, ergeben ein deutlich höheres Niveau an ungenutzten Arbeitskräfteressourcen (Abbildung 2.3). Es könnten noch andere Anpassungen vorgenommen werden, um den wahren Zustand des Arbeitsmarkts besser wiederzugeben. Einige Personen, die keine Stelle finden, beantragen Erwerbsminderungsrenten, da diese Leistungen in der Regel höher sind als die Arbeitslosenunterstützung.27 Diese Personen leiden möglicherweise wirklich an einer Behinderung, sobald ihnen aber ein angemessener Arbeitsplatz angeboten wird, nehmen sie ihn an. Viele Personen, die gerne einer Beschäftigung nachgehen würden, beschließen (wie weiter oben dargelegt), an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen und suchen nicht weiter nach einem Arbeitsplatz. Dadurch kann das Humankapital zwar erhöht werden, die Schwäche des Arbeitsmarkts wird jedoch in jedem Fall als zu niedrig ausgewiesen, weil dieser Personenkreis in der gemessenen Arbeitslosenquote ausgeklammert ist.
Die Teilzeitbeschäftigung wirft ein weiteres messtechnisches Problem auf. Internationalen Standards zufolge wird eine Person als erwerbstätig eingestuft, selbst wenn sie nur eine Stunde pro Woche arbeitet. In einer Rezession arbeiten aber viele Personen weniger Stunden als gewünscht. Daher wäre die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden in vielerlei Hinsicht eine bessere Messgröße für den Zustand des Arbeitsmarkts.28
Wie bereits festgehalten wurde, können tiefe Wirtschaftsabschwünge bestimmte Gruppen der Gesellschaft besonders hart treffen. In vielen OECD-Ländern stieg die Arbeitslosenquote junger Menschen ungefähr doppelt so stark wie die der Gesamtbevölkerung (Abbildung 2.4). Benachteiligte Bevölkerungsgruppen wurden besonders hart getroffen. In den Vereinigten Staaten erhöhte sich die Arbeitslosenquote der Afro-Amerikaner etwa doppelt so stark wie die Gesamtarbeitslosenquote. Unter den jungen Afro-Amerikanern betrug der Anstieg das Vierfache. Die Arbeitslosenquote der Afro-Amerikaner ist nur zweimal auf ein Niveau gesunken, das als akzeptabel betrachtet werden könnte: Ende der 1990er Jahre und dann im Jahr 2007, als sie auf etwa 8 % fiel. Eine hohe Arbeitslosenquote in dieser Bevölkerungsgruppe gibt besonderen Anlass zur Besorgnis, da sie das soziale Gefälle vergrößert – ein Thema, das weiter unten erörtert wird.
Die statistische Fachwelt hat bei der Messung des Arbeitskräfteüberhangs zwar Fortschritte erzielt (siehe Anhang), doch reichen die ergriffenen Maßnahmen noch immer nicht aus, um dafür Sorge zu tragen, dass die Politiker und Medien dieser Messgröße die gleiche Aufmerksamkeit schenken wie der Standardarbeitslosenquote. Dies hat u. a. zur Folge, dass wir möglicherweise eine zu optimistische Vorstellung von der Lage am Arbeitsmarkt haben, als durch die Realität gerechtfertigt ist.
2.8. Schlussbemerkungen
Die Vergangenheit zählt. Zu Beginn der Krise im Jahr 2008 bestand die Hoffnung, dass die Wirtschaft nach Verbesserung der Bankbilanzen wieder zu ihrem normalen Niveau zurückkehrt. Das BIP-Wachstum würde seinen normalen Verlauf wieder aufnehmen und die Wirtschaft würde den in der Zwischenzeit akkumulierten Rückstand aufholen. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Selbst in den Vereinigten Staaten, wo die Arbeitslosenquote stark gesunken ist, liegt das BIP weit unter dem Niveau, das es ohne Krise erreicht hätte: Nichts deutet darauf hin, dass die verlorene Zeit aufgeholt wurde.
Die in diesem Kapitel beschriebene Zerstörung des „verborgenen Vermögens“ wurde durch die Rezession von 2008-2009 ausgelöst. Diese Zerstörung wird langfristige Folgen haben und erklärt einen Teil der Kluft, die sich zwischen dem Stand der Wirtschaft von heute und der Situation gebildet hat, in der sich die Wirtschaft ohne die Krise befunden hätte. Dieses „verborgene Vermögen“, das Niveau und Veränderungen der Produktivität in Zukunft bestimmt, kann geschätzt werden, um die einzelnen Komponenten der Produktivität besser zu verstehen. Ziel ist es, Maßnahmen zu konzipieren, die einen weiteren Rückgang der Produktivität abfedern könnten. Beispielsweise könnte der Rückgang der Produktivität in Zukunft verringert werden, wenn die begrenzte Menge an Arbeit, die in einer Krise noch zur Verfügung steht, aufgeteilt wird, wie dies in Deutschland der Fall war. Aber selbst umfassende Messgrößen des Human-, Sozial- und Sachkapitals erfassen möglicherweise die Effekte eines tiefen Abschwungs auf die Gesellschaft nicht vollständig, wie beispielsweise die Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Menschen denken, fühlen und handeln.
Die Erfahrungen der Großen Depression und Großen Rezession veranschaulichen, wie wichtig es ist, über ein gutes Indikatoren-Dashboard zu verfügen. Dadurch wird es möglich zu evaluieren, was im Land vor sich geht, zielführende wirtschaftliche Maßnahmen zu formulieren und die Folgen dieser Maßnahmen zu beurteilen. Ein für normale Zeiten angemessenes Dashboard muss in Krisenzeiten u. U. angepasst werden, um die Situation genau zu verfolgen und auf sich rasch wandelnde Umstände zu reagieren.
Die Kosten der Krise für die Menschen sind sehr hoch. Einige dieser Kosten werden von konventionellen Statistiken jedoch nicht erfasst. In den meisten Ländern wird die Wirtschaft nie wieder das Niveau erreichen oder sich dem Niveau annähern, das sie ohne Krise erreicht hätte, auch wenn das BIP-Wachstum inzwischen wieder zu seinem Vorkrisenniveau zurückgekehrt ist oder sich diesem Wert angenähert hat. In vielen fortgeschrittenen Ländern hat die Rezession das Produktivitätswachstum und die Kapitalakkumulation im Vergleich zum normalen Wirtschaftsverlauf gedämpft. Selbst unter Ausklammerung der vollständigen Kosten des menschlichen Leids sind die langfristigen Kosten der Rezession für das Wohlergehen der Menschen enorm.
Es ist durchaus möglich, dass ein angemessener Katalog an Indikatoren, der die wahre Tiefe des Abschwungs und seine langfristigen wirtschaftlichen Folgen widerspiegelt, es den Regierungen ermöglicht hätte, entschlossener zu reagieren und besonders auf jene Teile der Bevölkerung zu achten, die von der Rezession am stärksten in Mitleidenschaft gezogen wurden. Und die Tatsache, dass viele Regierungen aufgrund falscher Indikatoren eine Erholung zu einem Zeitpunkt angekündigt haben, an dem viele Menschen noch gar keine Verbesserung ihrer Lebensqualität verspürten, hat möglicherweise zum Vertrauensverlust in die öffentlichen Institutionen und zur Zunahme des Gefühls der Unzufriedenheit und Antiglobalisierungsbewegungen beigetragen, denen wir heute überall in der Welt begegnen.
Anmerkungen
← 1. Im vorangegangenen Kapitel wurde festgehalten, dass in den BIP-Messgrößen für die Ermittlung des relativen Werts verschiedener Waren und Dienstleistungen im allgemeinen Marktpreise zugrunde gelegt werden und dass es für die Statistiker der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen normalerweise unmöglich sein dürfte, etwaige Preisverzerrungen festzustellen. Daher sollte in Situationen, in denen Spekulationsblasen insbesondere im Immobiliensektor entstehen können, generell vor dem Einsatz des BIP als Indikator für den Zustand der Wirtschaft gewarnt werden: „Mit extremer Vorsicht verwenden“.
← 2. Natürlich analysierten viele auch Indikatoren jenseits des BIP. Der IWF warnte beispielsweise vor untragbar hohen Leistungsbilanzungleichgewichten und viele andere Institutionen warnten vor einer untragbar hohen staatlichen Verschuldung. Ironischerweise waren es nicht diese Ungleichgewichte, die die Wirtschaft zu Fall gebracht haben, sondern etwas alltäglichere und bereits stärker etablierte Phänomene, wie die schädliche und zu hohe Kreditvergabe durch den Finanzsektor und der Anstieg der privaten Verschuldung.
← 3. In den Vereinigten Staaten beispielsweise ist der mittlere Preis für neues Wohneigentum zwischen 1995 und 2016 um 130 % gestiegen, während das (äquivalenzgewichtete) mittlere verfügbare Haushaltseinkommen (in nominaler Rechnung) um 80 % zugenommen hat. Im gleichen Zeitraum stieg die Größe neuer Einfamilienhäuser (Median) von 178 auf 225 Quadratmeter. Wie von Robert H. Frank festgehalten wurde, sind gute Schulen (deren Budget in der Regel durch Grundsteuereinnahmen finanziert wird) in teureren Gegenden angesiedelt. Dies hat zur Folge, dass „Familien, die nicht dazu in der Lage sind, ein Haus zu einem Preis nahe am Median der lokalen Preisverteilung zu mieten oder zu erwerben, ihre Kinder in unterdurchschnittlich gute Schulen schicken müssen“ (Frank, 2011).
← 4. Die OECD veröffentlicht seit 2015 Messgrößen der Überschuldung privater Haushalte auf der Basis unterschiedlicher Schwellenwerte (z. B. ein Wert über 3 für das Verhältnis Verschuldung/ Einkommen und ein Wert über 0,75 für das Verhältnis Verschuldung/Vermögen). Für eine neuere Analyse, vgl. Balestra und Tonkin (2018).
← 5. Die Regierung, und insbesondere die Federal Reserve, hätte zahlreiche Politikmaßnahmen in die Wege leiten können, wenn sie die finanzielle Fragilität des Landes angemessen beurteilt hätte. Einige der ergriffenen Maßnahmen haben die Fragilität der Wirtschaft möglicherweise sogar noch erhöht.
← 6. Außerdem liegen die vorläufigen BIP-Schätzungen aus technischen Gründen systematisch unter den revidierten Schätzungen, was beispielsweise auf den Marktzutritt neuer Unternehmen und den Marktaustritt älterer Unternehmen zurückzuführen ist. Diese Aspekte müssen näher untersucht und die Zahlen entsprechend korrigiert werden. BIP-Echtzeitschätzungen auf der Basis von Scraping-Daten aus dem Internet könnten in Zukunft vor solchen systematischen Fehlern schützen (Buono et al., 2017, S. 118-120).
← 7. Ein nachhaltiges gesellschaftliches Wohlergehen hängt davon ab, ob es gelingt, den Vermögenszuwachs in angemessener Weise zu messen. Wenn das Vermögen steigt, können spätere Generationen dieselbe Lebensqualität aufrechterhalten, wie sie heute gegeben ist. Bei sinkendem Vermögen ist das nicht möglich. Zum Vermögen zählen Wirtschaftskapital (materielle und immaterielle Werte wie Wissen und Forschung), Humankapital, Naturkapital (natürliche Ressourcen und die Umwelt) und Sozialkapital (Qualität des Zusammenhalts zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft).
← 8. Differenzen ähnlicher Größenordnung treten zutage, wenn das gegenwärtige Niveau des Pro-Kopf-BIP mit dem Niveau verglichen wird, das sich aus dem Vorkrisenwachstum des Produktionspotenzials ergibt. Es handelt sich hierbei um das BIP-Niveau, das unter Zugrundelegung der langfristigen Antriebskräfte des Wirtschaftswachstums zu erwarten wäre. Seit 2007 sind die OECD-Schätzungen des (jährlichen) Wachstums des Produktionspotenzials für die Vereinigten Staaten von 2,7 % (Mitte 2007) auf 1,7 % (Mitte 2018) und für den Euroraum von 1,9 % auf 1,4 % nach unten revidiert worden.
← 9. Eine Komponente des Sachkapitals, die normalerweise nicht gemessen wird, in Rezessionsphasen aber stärker zunehmen kann als in Normalzeiten, sind Wartungsleistungen. Wenn Arbeitskräften mehr Zeit zur Verfügung steht, können sie auch mehr Zeit mit Reparaturen und Instandhaltung verbringen.
← 10. In OECD (2001) wird Humankapital definiert als „Wissen, Fähigkeiten, Kompetenzen und sonstige Eigenschaften von Individuen, die für das persönliche, soziale und wirtschaftliche Wohlergehen relevant sind“.
← 11. Wenn sich Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten befinden, kürzen sie womöglich auch die formale Ausbildung am Arbeitsplatz. Leider gibt es wiederum keine guten Statistiken, die über das Niveau oder etwaige Veränderungen bei diesen Ausgaben Aufschluss geben, obwohl sie in einigen Ländern und Unternehmen wahrscheinlich ziemlich bedeutend sind.
← 12. Es gibt seit Langem eine Kontroverse über die positiven und negativen Auswirkungen eines Wirtschaftsabschwungs. Einige Ökonomen, wie Joseph Schumpeter, vertreten die Auffassung, dass Rezessionen und Depressionen einen Reinigungseffekt haben, indem sie Unternehmen zu mehr Effizienz zwingen. Stiglitz (1994) argumentiert, dass die negativen Effekte auf Lern- und FuE-Aktivitäten diese sogenannten „Agency“-Vorteile mehr als aufwiegen.
← 13. Es ist jedoch auf die Feststellung weiter oben im Bildungskontext hinzuweisen: In den Ländern, die von der Krise am stärksten in Mitleidenschaft gezogen wurden, ging das Pro-Kopf-BIP zurück, sodass die Pro-Kopf-Ausgaben nachließen, selbst wenn der BIP-Anteil der Gesundheitsausgaben stabil blieb. Die Sparpolitik zog generell deutliche Kürzungen der öffentlichen Gesundheitsausgaben nach sich.
← 14. In Sitaraman (2017) wird beschrieben, wie einige Finanzinstitute wirtschaftlich so mächtig wurden, dass sie sich mittlerweile selbst bei illegalen Aktivitäten der Strafverfolgung durch Bußgeldzahlungen entziehen können.
← 15. In den Vereinigten Staaten haben sie sich oft stark verschuldet. Ein Hochschulabsolvent hat im Durchschnitt 37 000 USD Studienschulden (www.forbes.com/sites/zackfriedman/2018/06/13/ student-loan-debt-statistics-2018/#1efa9ee87310). Bei einigen Abschlüssen sind die Studienschulden sehr viel höher: Einer Gallup-Erhebung von 2017 zufolge geben 60 % der Jura-Absolventen von 2010 oder später an, mehr als 100 000 USD aufgenommen zu haben. Im Vergleich hierzu waren es in den 2000er Jahren etwa die Hälfte der Jura-Absolventen und in den 1990er Jahren ein Viertel (http://www.accesslex.org/sites/default/files/2018-01/Examining%20Value%2C%20Measuring%20 Engagement%20-%20A%20National%20Study%20of%20the%20Long-Term%20Outcomes%20of%20a%20Law%20Degree.pdf).
← 16. In OECD (2013d) wird dargelegt, dass die durchschnittliche Lebenszufriedenheit auf der Basis von Daten des Gallup World Poll in Griechenland um mehr als 20 % und in Italien und Spanien um Werte zwischen 12 % und 10 % nachgelassen hat. Demgegenüber ist sie in Deutschland, Israel, Mexiko, der Russischen Föderation und Schweden um über 4 % gestiegen. In diesem Bericht ist auch die Rede davon, dass „Gefühlszustände, wie Wut, Stress und Besorgtheit in OECD-Ländern immer stärker zunehmen und Freude und Zufriedenheit nachlassen“ (S. 88).
← 17. Unter der Annahme, dass die Lücke zwischen dem tatsächlichen und dem potenziellen BIP 10 % des BIP beträgt und dass diese Lücke in Zukunft fortbesteht, bedeutet eine Diskontierung dieser künftigen Verluste mit einem konservativen langfristigen Realzins von 2 %, dass der Gegenwartswert des BIP-Verlusts dem 5-fachen BIP entspricht – was im Fall Europas und der Vereinigten Staaten etwa 300 Bill. USD ausmacht.
← 18. In einer Reihe neuerer Artikel wird der Langzeiteffekt von Rezessionen auf das Produktionsniveau, nicht aber auf das Produktionswachstum hervorgehoben. Beispielsweise kamen Cerra und Saxena (2008) auf der Basis von Analysen aus 190 Ländern im Zeitraum 1960-2001 zu dem Schluss, dass das BIP im Anschluss an alle Krisen zu seinem früheren Wachstumspfad zurückkehrt.
← 19. Fernald et al. (2017) für die Vereinigten Staaten und Antolin-Diaz, Drechsel und Petrella (2017) für die G7-Länder.
← 20. Außerdem sind Multiplikatoren in tiefen Abschwungphasen nahezu per definitionem sehr viel größer als in Zeiten, in denen fast Vollbeschäftigung herrscht, wenn ein Anstieg der staatlichen Ausgaben durch Einsparungen an anderer Stelle ausgeglichen werden muss. In einem tiefen Abschwung müssen die Zentralbanken die Zinssätze nicht anheben (in der Krise von 2008 taten sie es auch nicht), da der Staat mehr ausgibt. Daher kommt es nicht zu einer Verdrängung privater Ausgaben. Es könnte eher zu einem Crowding-in kommen, da die Erwartung eines höheren BIP zu mehr Investitionen und Konsum führt. Die empirische Analyse von Caggiano et al. (2015) bestätigt, dass fiskalische Multiplikatoren in einer tiefen Rezession sehr viel stärker sind als in Expansionsphasen. Ferner geht aus der Analyse hervor, dass die durch eine fiskalische Expansion generierte Produktion mit zunehmender Rezessionstiefe steigt. Staatliche Ausgaben sind sehr effektiv, wenn sie am meisten benötigt werden. (Den Schätzungen der Autoren zufolge hätte ein zusätzlich investierter Dollar der US-Regierung während der Großen Rezession drei Jahre später eine Produktionssteigerung um bis zu 2,5 USD bewirkt.)
← 21. Ursprünglich wurden die Defizitobergrenze von 3 % und die Schuldenobergrenze von 60 % als Voraussetzungen für den Beitritt zum Euroraum festgelegt. Erst in der Folgezeit wurden sie als Kriterien für eine akzeptable makroökonomische Politik definiert.
← 22. Nicht alle werden diese Auffassung teilen. Staatliche Investitionen erfordern manchmal lange Planungshorizonte. Wenn sie also in einer Rezession überstürzt getätigt werden, kann die Qualität der Projekte darunter leiden. (Deshalb gehört zu einer guten Politikgestaltung ein Reservoir an Projekten, auf die im Fall eines Konjunkturabschwungs zurückgegriffen werden kann.) Ganz allgemein führt das Misstrauen gegenüber Regierungen und ihrer Ausgabenneigung dazu, dass einige nur die Investitionen des privaten Sektors als produktiv betrachten. Aus empirischen Forschungen geht allerdings hervor, dass der Staat beispielsweise mit Investitionen in Technologie und Infrastruktur im Durchschnitt hohe Renditen erzielt, die deutlich über den Kapitalkosten liegen.
← 23. Die Gesamtbilanz der Vereinigten Staaten verschlechterte sich von einem Defizit von 7 % des BIP im Jahr 2007 zu einem Defizit von 32 % im Jahr 2017 (OECD Annual National Accounts [Datenbank]), https://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=NAAG). Interessanterweise wurde ein Teil des aus dem Ausland in den Vereinigten Staaten investierten Geldes in ertragsarme Vermögenswerte investiert. Ein Teil des von den Vereinigten Staaten im Ausland investierten Geldes wurde dagegen in ertragsreiche Vermögenswerte investiert, wodurch sich die Nettovermögensposition des Landes weniger stark verschlechtert hat (25 Prozentpunkte des BIP in den zehn Jahren bis 2017), als angesichts der wiederkehrenden Leistungsbilanzdefizite zu erwarten gewesen wäre (deren kumulativer Wert 27 Prozentpunkte des BIP entsprach). Aus diesem Grund sind die Vereinigten Staaten gezwungen, Jahr für Jahr Mittel im Ausland aufzunehmen.
← 24. Vgl. https://ec.europa.eu/ireland/news/key-eu-policy-areas/economy_en. Indem sie nicht nur die Bruttostaatsverschuldung betrachten, zeigen Barnes und Smyth (2013), dass die Nettoverbindlichkeiten des irischen Staats zwischen 2007 und 2012 um 81 BIP-Punkte gestiegen sind. 2012 machten die nichtfinanziellen Vermögenswerte des irischen Staatssektors 35 % des BIP aus, wohingegen sich die bankbezogenen Eventualverbindlichkeiten auf 73 % des BIP beliefen.
← 25. Allerdings schaffen Bildungsausgaben meistens private und keine öffentlichen Vermögenswerte. Die Forderung des Staats bezieht sich ausschließlich auf die Möglichkeit, Steuern einzunehmen. Wie wir weiter oben erläutert haben, kann sich die Gesamtbilanz des Staats durch vielerlei Faktoren verbessern.
← 26. Es besteht auch die Befürchtung, dass Ausgabekategorien, die im Kapitalbudget nicht enthalten sind, zu kurz kommen.
← 27. Diese Haltung wurde von den Regierungen einiger Länder stark gefördert. Ein Beispiel sind die Niederlande, die in den 1980er Jahren die Arbeitslosenquote durch einen Transfer der Arbeitslosen aus der Arbeitslosenversicherung in Erwerbsunfähigkeits- oder Frühverrentungsprogramme verringern wollten.
← 28. Die insgesamt geleisteten Arbeitsstunden gingen in Italien zwischen 2009 und 2014 um 6 % zurück und erholten sich danach um etwa 3 %. In den Vereinigten Staaten ließ die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden 2010 geringfügig nach. In den letzten Jahren erhöhte sie sich kontinuierlich und erreichte im Zeitraum 2009-2016 einen kumulativen Anstieg von 10 % (OECD Employment Outlook [Datenbank], www.oecd.org/employment/emp/onlineoecdemploymentdatabase.htm).