Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands, mit fast 3 650 000 Einwohner*innen die größte Stadt des Landes und eines der 16 Bundesländer. Die Stadt hat zwar mehr als 2 Millionen Arbeitskräfte, ist aber aufgrund der dezentralen Wirtschaft Deutschlands weder die Finanzhauptstadt noch die Stadt mit den meisten Hauptsitzen von Großunternehmen. Die Bevölkerung Berlins ist seit 2000 um mehr als 8 % gewachsen. Die Stadt ist eine der vielfältigsten in ganz Deutschland und rund ein Drittel der Einwohner*innen hat einen Migrationshintergrund.
In den letzten zehn Jahren hat sich der Arbeitsmarkt in Berlin deutlich angespannt. Die Arbeitslosenquote ist von 13 % im Jahr 2010 auf 5,5 % im Jahr 2019 gesunken. Nach einem Jahrzehnt des raschen Beschäftigungswachstums, das vom Dienstleistungssektor angetrieben wurde, ist der Berliner Arbeitsmarkt nun in eine neue Phase eingetreten. Für die Arbeitgebenden wird es immer schwieriger, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Seit 2010 hat sich die Zahl der offenen Stellen fast verdreifacht und hat 2019 rund 115 000 Stellen erreicht. Letztlich wird diese Entwicklung zu Lohnwachstum in Sektoren führen, in denen ein Arbeitskräftemangel besteht, und könnte das Produktivitätswachstum von Unternehmen, die offene Stellen nicht besetzen können, verringern.
Die Anspannung auf dem Berliner Arbeitsmarkt erhöht die Bedeutung des lokalen Weiterbildungssystems aus zwei Gründen. Erstens muss das System das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften erhöhen, die den Qualifikationsbedarf der Berliner Arbeitgebenden decken können. Zweitens besteht die Gefahr einer Verschärfung der sozialen Spaltung, da die Löhne in den hochqualifizierten Sektoren wahrscheinlich unverhältnismäßig stark steigen werden. Es ist daher wichtig, dass Arbeitnehmende mit niedrigem und mittlerem Bildungsniveau weitergebildet werden, um für lokale Arbeitgebende attraktiv zu bleiben.
Während die Pandemie in den letzten zwei Jahren im Mittelpunkt des politischen Diskurses stand, sah sich Berlin bereits davor mit Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert, die ein effektives Weiterbildungssystem erfordern. Die Krise hat diese Herausforderungen in den Vordergrund gerückt. Das Bildungsniveau in Berlin ist zwar gestiegen, liegt aber nach wie vor unter dem vieler anderer OECD-Metropolen. Hinzu kommt, dass viele Einwohner*innen Berlins ihre Qualifikationen nicht optimal nutzen. Rund 41 Prozent der Erwerbstätigen sind unter- oder überqualifiziert für ihre erwerbstätige Beschäftigung, der zweithöchste Wert unter 13 großen OECD-Metropolregionen. Solche Qualifikationsdefizite und -lücken betreffen nicht nur Arbeitnehmende, sondern wirken sich auch negativ auf Arbeitgebende und damit auf das lokale Wirtschaftswachstum aus. So haben Berlins Arbeitgebende zunehmend Schwierigkeiten, freie Stellen mit geeignetem Personal insbesondere im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen zu besetzen.
Die Pandemie verstärkt auch Arbeitsmarkttrends, die die sozioökonomische Ungleichheit in Berlin noch verschärfen könnten. Als Katalysator für den technologischen Wandel beschleunigt COVID-19 Megatrends wie die Digitalisierung und die Automatisierung in der Produktion. Bereits vor der Pandemie war Berlin einem höheren Automatisierungsrisiko ausgesetzt als viele andere OECD-Metropolen. Fast die Hälfte aller Arbeitnehmenden in Berlin (47 %) könnte direkt von der Automatisierung betroffen sein, verglichen mit weniger als 30 % der Arbeitnehmenden in Städten wie Oslo oder London. Betroffene Arbeitnehmende benötigen maßgeschneiderte Unterstützung durch Qualifikationsentwicklung und Weiterbildungsangebote schon bevor sie arbeitslos werden.
Die Herausforderungen für den Berliner Arbeitsmarkt erfordern verstärkte Anstrengungen zur Verbesserung und Zukunftssicherung des Berliner Weiterbildungssystems. Arbeitgebende spielen eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Ausbildungs-, Lern- und Kompetenzentwicklungsmöglichkeiten in Deutschland. Allerdings investieren Berlins Arbeitgebende noch nicht genug in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden. Nur 14 % der Erwerbsbevölkerung nahm 2019 in Berlin an einer berufsbezogenen Weiterbildung teil, die niedrigste Teilnahmequote unter allen Bundesländern.
Finanzielle Ressourcen und Kapazitätsengpässe sind für die meisten Berliner Unternehmen ein großes Hindernis bei der Durchführung von Weiterbildungsmaßnahmen. Diese betreffen KMU, Kleinstunternehmen und Solo-Selbstständige am Stärksten. Nur 28 % der Unternehmen mit weniger als 10 Beschäftigten in Berlin bieten Weiterbildungsmöglichkeiten an, verglichen mit 76 % der größeren Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten. Verschärft wird das Problem dadurch, dass Berlin den höchsten Anteil an Selbstständigen (13,5 %) in Deutschland aufweist. Solo-Selbstständige machen 74 % aller Selbstständigen in Berlin aus, verglichen mit 54 % im Bundesgebiet, was die Teilnahme und die Investitionen in die Weiterbildung weiter einschränkt.
Berlin erkennt die Bedeutung von Qualifikationen und eines funktionierenden Weiterbildungssystems zur Unterstützung der Kompetenzentwicklung und des lokalen Arbeitsmarktes an. Im Jahr 2021 trat Berlins erstes Erwachsenenbildungsgesetz in Kraft. Darüber hinaus hat sich während der Pandemie der Austausch zwischen den zuständigen Ministerien in Berlin und anderen wichtigen Akteuren wie Arbeitgeberverbänden, Sozialpartnern und Bildungsanbietern intensiviert. Dennoch ist die Beteiligung an der Weiterbildungsmaßnahmen in Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern nach wie vor gering und liegt nur halb so hoch wie in den führenden OECD-Metropolen. Hinzu kommt, dass die allgemeine Erwachsenenbildung und die berufliche Weiterbildung getrennt voneinander definiert und verwaltet werden, obwohl eine bessere Integration erhebliche Vorteile mit sich bringen könnte.
Die Beseitigung der Hindernisse für den Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen, unterstützt durch eine langfristige, umfassende Qualifizierungs- und Weiterbildungsstrategie, könnte das Berliner Weiterbildungssystem weiter stärken. Um dieses auf die Zukunft vorzubereiten, könnte Berlin auf den folgenden politischen Empfehlungen aufbauen, die in diesem OECD-Bericht dargelegt werden:
Entwicklung einer langfristigen Strategie für das Berliner Weiterbildungssystem
Entwicklung einer neuen Strategie für Kompetenzentwicklung und Weiterbildung: Der rasche Wandel auf dem Arbeitsmarkt erfordert eine umfassende Strategie mit einer klaren Vision und Zielen für die Zukunft des Berliner Arbeitsmarktes und der Berliner Wirtschaft. Die Einrichtung eines neuen Beirats, dem Arbeitnehmende, Sozialpartner und Arbeitgebende angehören, könnte dazu beitragen, die strategische Ausrichtung der Qualifikationsentwicklungspolitik zu informieren und sicherzustellen, dass diese mit dem lokalen Qualifikationsbedarf in Einklang steht.
Förderung einer Kultur des lebenslangen Lernens: Eine stärkere Verknüpfung von allgemeiner Erwachsenenbildung und arbeitsbezogener Weiterbildung könnte dazu beitragen, die Bereitschaft der Lernenden zu erhöhen, langfristig Teil des Berliner Weiterbildungssystems zu bleiben. Die Nutzung des allgemeinen Erwachsenenbildungsangebots in Berlin könnte transversale Fähigkeiten unterstützen, die für einen arbeitsbezogenen Kontext wichtig sind, und das "Lernen lernen" fördern.
Weiterbildung für alle Menschen anbieten und diese auf die Bedürfnisse benachteiligter Gruppen zuschneiden
Sicherstellen, dass Lern- und Umschulungsmöglichkeiten die Arbeitnehmenden erreichen, die am stärksten vom Wandel auf dem Arbeitsmarkt bedroht sind: Dies könnte eine Ausweitung von kurzen, modularen Kursen und Online-Schulungen als Ergänzung zu traditionellen Lernmodulen beinhalten. Die Einführung von Weiterbildungsinstrumenten, die sich an Solo-Selbstständige richten und deren größeren Bedarf an Flexibilität Rechnung tragen, könnte den Zugang zu Weiterbildung und Teilnahme verbessern.
Ausweitung der Lernangebote sowohl für grundlegende als auch für digitale Kompetenzen: Zu den Möglichkeiten gehören die Einbettung der Vermittlung digitaler Kompetenzen in Programme der Erwachsenenbildung sowie die Ausweitung der Berliner Alphabetisierungskampagne und der Arbeit des Grundbildungszentrums Berlin. Darüber hinaus könnte Berlin sozialwirtschaftliche Programme ausbauen, die gezielte Unterstützung für Jugendliche bieten, die die Schule vorzeitig verlassen oder denen es an Grundkenntnissen mangelt.
Anpassung des Weiterbildungsangebots für Migrant*innen an deren spezifische Bedürfnisse: Eine stärkere Integration von Weiterbildungs-, Arbeitsmarkt- und Berufsberatungsangeboten in die Berliner Volkshochschulen könnte diese zu "One-Stop-Shops" für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration von Migrant*innen machen. Berlin könnte auch Lern- und Weiterbildungsangebote für Migrant*innen in Bereichen ausbauen, die keine Deutschkenntnisse erfordern, wie z. B. im IT-Sektor.
Förderung der Arbeitgebendenbeteiligung an der Berliner Weiterbildung
Förderung von nachfrageorientierter Ausbildung und Arbeitsmarktinformationen: Eine stärkere Vertretung der Arbeitgebenden bei der Planung von Qualifizierungsmaßnahmen könnte zu einer besseren Anpassung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes führen. Die Durchführung regelmäßiger Erhebungen in Berliner Unternehmen zur Sammlung umfassender Daten über Qualifikationsprobleme bei der Einstellung von Mitarbeiter*innen und bei der vorhandenen Belegschaft könnte bei der Gestaltung wirksamer Weiterbildungsprogramme helfen.
Die berufliche Weiterbildung am Arbeitsplatz stärken und die Unterstützung auf die Bedürfnisse von KMU zuschneiden: Berlin könnte Peer-Learning-Plattformen einrichten, die bewährte Praktiken am Arbeitsplatz verbreiten und Ressourcen für die berufliche Weiterbildung sowohl unter kleinen als auch unter großen Unternehmen teilen. Darüber hinaus könnte Berlin das Bewusstsein der KMU für den Wert von Weiterbildung und Lernen schärfen, indem es spezielle Projektkundenbetreuer*innen einsetzt, die proaktiv mit den KMU in Kontakt treten, ihnen bei der Entwicklung einer gemeinsamen Kompetenzbedarfsanalyse helfen und geeignete Weiterbildungsprogramme identifizieren.