18. Dezember 2020
Leitlinien zu den Verrechnungspreisfolgen der COVID-19-Pandemie
Leitlinien zu den Verrechnungspreisfolgen der COVID-19-Pandemie
Abstract
In den „Leitlinien zu den Verrechnungspreisfolgen der COVID-19-Pandemie“ drückt sich der Konsens aus, zu dem die 137 Mitglieder des Inclusive Framework on BEPS hinsichtlich der Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes und der OECD-Verrechnungspreisleitlinien auf Fragen gelangt sind, die im Kontext der COVID-19-Pandemie aufkommen oder an Brisanz gewinnen können. Diese Leitlinien helfen den Steuerpflichtigen, ihren Berichtspflichten über von der Pandemie betroffene Wirtschaftsjahre nachzukommen, und den Steuerverwaltungen, die Umsetzung der Verrechnungspreispolitik der Steuerpflichtigen zu beurteilen. Sie enthalten klärende Kommentare sowie Beispiele zur praktischen Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes auf vier prioritäre Fragen, die im Benehmen mit dem beratenden Ausschuss der Wirtschaft bei der OECD (Business at the OECD) ausgewählt wurden: i) Vergleichbarkeitsanalyse, ii) Verluste und Aufteilung der COVID-19-spezifischen Kosten, iii) staatliche Hilfsprogramme und iv) Vorabverständigungen über die Verrechnungspreise.
Zusammenfassung
Die besonderen wirtschaftlichen Bedingungen, die sich aus der COVID-19-Pandemie und den als Antwort darauf ergriffenen staatlichen Maßnahmen ergeben, führen zu konkreten Herausforderungen bei der Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes. Diese praxisbezogenen Fragen müssen dringend geklärt werden, damit die Steuerpflichtigen die Verrechnungspreisregeln auf die von der COVID-19-Pandemie betroffenen Wirtschaftsjahre anwenden können und die Steuerverwaltungen beurteilen können, wie diese Regeln angewandt wurden.
Die OECD-Verrechnungspreisleitlinien für multinationale Unternehmen und Steuerverwaltungen 2017 („OECD-Verrechnungspreisleitlinien“) sind dazu gedacht, den Steuerverwaltungen und multinationalen Unternehmen bei der einvernehmlichen Lösung von Verrechnungspreisfällen zu helfen, und sie sollten weiterhin die Grundlage für die Durchführung von Verrechnungspreisanalysen bilden, auch unter den möglicherweise einzigartigen Umständen, die durch die Pandemie geschaffen wurden.
In diesen Leitlinien geht es somit darum, wie der Fremdvergleichsgrundsatz und die OECD-Verrechnungspreisleitlinien auf Fragen anzuwenden sind, die im Kontext der COVID-19-Pandemie aufkommen oder an Brisanz gewinnen können, und nicht etwa um die Formulierung spezifischer Hinweise, die über das hinausgehen würden, was derzeit in den OECD-Verrechnungspreisleitlinien behandelt wird. Diese Leitlinien befassen sich mit vier prioritären Fragen, bei denen die zusätzlichen durch COVID-19 entstehenden praktischen Herausforderungen am größten sein dürften: 1. Vergleichbarkeitsanalyse, 2. Verluste und Aufteilung der COVID-19-spezifischen Kosten, 3. staatliche Hilfsprogramme und 4. Vorabverständigungen über die Verrechnungspreise (Advance Pricing Agreements – APA).
1. Einleitung
1. Corona bzw. COVID-19 hat tiefgreifende Auswirkungen. Die rasche Verbreitung des Virus hat die medizinische Infrastruktur vor eine schwere Belastungsprobe gestellt, zu Einschränkungen der Reisetätigkeit und der Sozialkontakte geführt und beispiellose Verwerfungen in der Weltwirtschaft ausgelöst.
2. Durch die Pandemie sahen bzw. sehen sich viele Unternehmen mit erheblichen Liquiditätsengpässen konfrontiert, weshalb sie Strategien zur Erhaltung und Schaffung von Liquidität entwickeln und umsetzen mussten. Die Ertragslage der Unternehmen war starken Schwankungen unterworfen, sowohl nach oben als auch nach unten. Unternehmen aus verschiedensten Branchen sahen sich Lieferkettenstörungen gegenüber, mussten teilweise ihren Betrieb einschränken – was entsprechende Produktionseinbußen nach sich zog – und ihre Betriebsabläufe verändern (z. B. Arbeit im Homeoffice). In vielen Staaten mussten Fabriken, Bergwerke, Läden und Gastronomiebetriebe zumindest vorübergehend schließen. In manchen Wirtschaftszweigen kam es zu einem kompletten Einbruch der Nachfrage, während sich die Nachfrage in anderen nur verlagerte oder sogar erhöhte (so z. B. auf dem Markt für Videokonferenzdienste). Angesichts erheblicher finanzieller Härten haben manche Unternehmen ihre Vertragsvereinbarungen mit Dritten daraufhin geprüft, ob sie noch durch sie gebunden sind, oder versucht, wesentliche Vertragselemente neu zu verhandeln, u. a. um Preisnachlässe oder Zahlungsaufschübe zu erwirken. Wegen der Bedeutung des wirtschaftlichen Effekts des Virus sowie der Geschwindigkeit, mit der er zum Tragen kam, haben die Regierungen umfassende Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft und Sicherung der Arbeitsplätze und Einkommen der Menschen ergriffen.
3. Es hat sich gezeigt, dass der Fremdvergleichsgrundsatz in der großen Mehrzahl der Fälle effektiv angewendet werden kann,1 und dieser grundsatzbasierte Ansatz zur Bestimmung der Verrechnungspreise ist auch im Kontext der COVID-19-Pandemie eine belastbare Methode für die Bewertung konzerninterner Geschäftsvorfälle. Die OECD-Verrechnungspreisleitlinien sind dazu gedacht, Steuerverwaltungen und multinationalen Unternehmen bei der einvernehmlichen Lösung von Verrechnungspreisfällen zu helfen,2 und auf ihrer Grundlage sollten die Verrechnungspreisanalysen unter den möglicherweise einzigartigen Umständen durchgeführt werden, die die Pandemie entstehen lässt.
4. Allerdings führen die besonderen, weitgehend beispiellosen wirtschaftlichen Umstände, die sich aus der COVID-19-Pandemie und den als Antwort darauf ergriffenen staatlichen Maßnahmen ergeben, zu Herausforderungen bei der praktischen Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes. So kann die Pandemie beispielsweise neue Fragen aufwerfen oder bestimmte Verrechnungspreisfragen komplexer oder gewichtiger werden lassen (z. B. solche hinsichtlich des Effekts von Staatshilfen oder der Verfügbarkeit verlässlicher Vergleichsdaten). Diese praxisbezogenen Fragen müssen geklärt werden, damit die Steuerpflichtigen die Verrechnungspreisregeln auf die von der COVID-19-Pandemie betroffenen Wirtschaftsjahre anwenden können und die Steuerverwaltungen beurteilen können, wie diese Regeln angewandt wurden. Angesichts der Notwendigkeit konkreter und zeitnaher Leitlinien geht dieser Text anhand der Antworten auf die Fragenbogen, die Mitgliedern des Inclusive Frameworks und Unternehmen unterbreitet wurden, auf vier prioritäre Fragen ein: i) Vergleichbarkeitsanalyse, ii) Verluste und Aufteilung der COVID-19-spezifischen Kosten, iii) staatliche Hilfsprogramme und iv) Vorabverständigungen über die Verrechnungspreise (APA). Zur einfacheren Darstellung werden diese Fragen als gesonderte Themenpunkte behandelt, es gilt jedoch zu betonen, dass diese Themen bei der Durchführung einer Verrechnungspreisanalyse ineinandergreifen können und daher im Analyserahmen der OECD-Verrechnungspreisleitlinien zusammen betrachtet werden sollten. Um zu bestimmen, ob einem Unternehmen während der Pandemie unter fremdüblichen Bedingungen Verluste zugerechnet werden sollten, sind beispielsweise nicht nur die Leitlinien in Kapitel II dieses Texts maßgeblich, sondern auch die Leitlinien in Kapitel I (da es um die Ergebnisse der Vergleichbarkeitsanalyse geht) sowie die Leitlinien in Kapitel III (falls das betreffende Unternehmen Staatshilfen erhält).
5. Es ist wichtig, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, nämlich zu einer angemessenen Schätzung eines fremdüblichen Ergebnisses zu gelangen, was eine Urteilsbildung sowohl aufseiten der Steuerpflichtigen als auch der Steuerverwaltungen voraussetzt.3 In diesen Leitlinien geht es somit darum, wie der Fremdvergleichsgrundsatz und die OECD-Verrechnungspreisleitlinien auf Fragen anzuwenden sind, die im Kontext der COVID-19-Pandemie aufkommen oder an Brisanz gewinnen können. Daher sollten sie als eine Anwendung der bestehenden Regeln der OECD-Verrechnungspreisleitlinien auf Sachverhalte betrachtet werden, die in Verbindung mit der Pandemie üblicherweise auftreten können, und nicht etwa als eine Erweiterung oder Überarbeitung der OECD-Verrechnungspreisleitlinien, weder in Bezug auf solche pandemiebedingte Sachverhalte noch generell.
6. In diesen Leitlinien wird anerkannt, dass der wirtschaftliche Effekt der COVID-19-Pandemie in den einzelnen Volkswirtschaften, Branchen und Unternehmen sehr unterschiedlich ist, was ein entscheidender Faktor für die Betrachtung und Auslegung ihres Inhalts ist. Bei jeder Verrechnungspreisanalyse der Folgen der COVID-19-Pandemie sollten die Unternehmen daher zeitgleich dokumentieren, wie und inwieweit sich die Pandemie auf sie ausgewirkt hat.
7. Die Frage der Risiken ist im gegenwärtigen wirtschaftlichen Klima für die vier in diesem Text behandelten Themen von besonderer Bedeutung. Die COVID-19-Pandemie, die der Kategorie der Unfall- und Katastrophenrisiken zuzuordnen ist, führte bei einigen Steuerpflichtigen dazu, dass andere Risiken auf ungewöhnliche Weise zum Tragen kamen, darunter: i) das Marktrisiko, weil die Nachfrage nach manchen Produkten und Dienstleistungen einbrach, ii) das operationelle Risiko, weil die Pandemie zu Störungen in den Lieferketten führte und die Produktion behinderte, und iii) die finanziellen Risiken, weil die Kreditkosten in einigen Branchen in die Höhe schnellten und Kunden mit ihren Zahlungen in Verzug gerieten oder zahlungsunfähig wurden.4
8. Vor diesem Hintergrund sollten Steuerpflichtige und Steuerverwaltungen die Leitlinien in Kapitel I der OECD-Verrechnungspreisleitlinien zur sachgerechten Abgrenzung konzerninterner Geschäftsvorfälle genau befolgen, um die wirtschaftlich signifikanten Risiken im Einzelnen zu bestimmen und festzustellen, welche wirtschaftlich signifikanten Risiken die verschiedenen an einem konzerninternen Geschäftsvorfall beteiligten Unternehmen konkret übernommen haben.5 Daher sollte bei der Betrachtung der Risikoübernahme in einem bestimmten konzerninternen Geschäftsvorfall das Zusammenspiel zwischen dem COVID-19-Katastrophenrisiko und anderen wirtschaftlich signifikanten Risiken evaluiert werden. Diese Analyse kann ergeben, dass ein an einem konzerninternen Geschäftsvorfall beteiligtes Unternehmen das mit einer Pandemie einhergehende Katastrophenrisiko zwar nicht beeinflussen kann, aber dennoch andere Risiken übernommen hat, die infolge von COVID-19 eingetreten sind. Des Weiteren gilt es zu bestimmen, wie die verbundenen Unternehmen und der Konzern insgesamt auf das Eintreten von Katastrophenrisiken und dessen Auswirkungen auf die anderen wirtschaftlich signifikanten Risiken, die für den betreffenden konzerninternen Geschäftsvorfall ermittelt wurden, reagieren. (Vgl. Kapitel I, Ziffer 1.34 und 1.35 der OECD-Verrechnungspreisleitlinien.) Dass die COVID-19-Pandemie weitgreifende Auswirkungen auf eine Branche oder einen multinationalen Konzern hatte, reicht dabei nicht aus, um geltend zu machen, dass ein Unternehmen eines multinationalen Konzerns die Konsequenzen von Risiken zu tragen hat, die infolge der COVID-19-Pandemie eingetreten sind; hierzu muss vielmehr bestimmt werden, wie die Folgen der wirtschaftlich signifikanten Risiken, die dieses Konzernunternehmen übernommen hat, durch die Pandemie beeinflusst wurden.
Anmerkungen
← 1. Kapitel I, Ziffer 1.9 der OECD-Verrechnungspreisleitlinien.
← 2. Ziffer 15 der Einführung der OECD-Verrechnungspreisleitlinien.
← 3. Kapitel I, Ziffer 1.13 der OECD-Verrechnungspreisleitlinien.
← 4. Kapitel I, Ziffer 1.72 der OECD-Verrechnungspreisleitlinien.
← 5. Kapitel I, Ziffer 1.59-1.60 der OECD-Verrechnungspreisleitlinien.