Der Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft und hat eine Schlüsselfunktion innerhalb des Wissenschafts-, Technologie- und Innovationssystems. Die „Hidden Champions“ unter den mittelständischen Unternehmen fördern und stützen die Innovation; was sie zu künftigen Innovationen beitragen können und sollten, ändert sich jedoch durch die Digitalisierung. Das folgende Kapitel bewertet den Innovationsbeitrag des Mittelstands und konzentriert sich dabei auf zwei Faktoren, die den Beitrag des Privatsektors in den kommenden Jahren beschränken könnten. Der erste betrifft den Digitalisierungsrückstand des Sektors. Der zweite Faktor ist die unzureichende Zahl von Unternehmensgründungen und der begrenzte Innovationsbeitrag neuer, potenziell disruptiver Unternehmen in Deutschland. Angesichts der zentralen Rolle, die Daten als immaterieller Vermögenswert für die Innovation im Unternehmenssektor spielen, enthält das Kapitel eine Empfehlung zur Verbesserung der IT-Infrastruktur und des Zugriffs auf Unternehmensdaten.
OECD-Berichte zur Innovationspolitik: Deutschland 2022
10. Der Innovationsbeitrag des Mittelstands zur digitalen Transformation
Abstract
Einleitung
Der deutsche Unternehmenssektor – insbesondere der Mittelstand, der in Deutschland auch etwas größere Firmen umfassen kann – spielt eine wesentliche Rolle im deutschen wie auch im internationalen Innovationssystem. Angesichts seiner Größe und internationalen Ausrichtung kann er als Ausgangspunkt des industriellen Wandels im In- und Ausland fungieren, da der deutsche Privatsektor sowohl vor- als auch nachgelagerte Geschäftsabläufe in führenden Branchen des Verarbeitenden Gewerbes auch jenseits der Grenzen Deutschlands prägt.
Auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU) entfallen in Deutschland 59 % der Gesamtbeschäftigung und 48 % der Wertschöpfung (OECD, 2021[1]). Etliche der innovativsten Unternehmen des Landes sind im exportorientierten Verarbeitenden Gewerbe tätig und produzieren international konkurrenzfähige und häufig hochspezialisierte Güter (Gnath, McKeon und Petersen, 2018[2]). Die Fähigkeit des deutschen Produktionsstandorts, diesen hohen Grad international wettbewerbsfähiger Produktion aufrechtzuerhalten, zeugt vom Bestand an hochinnovativen und hochspezialisierten Firmen innerhalb des Privatsektors. Die Innovation im Unternehmenssektor fördert und erhält damit die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene wie auch den sozioökonomischen Wohlstand auf nationaler Ebene, insbesondere durch die Sicherung von Arbeitsplätzen.
Die Erfolge der Vergangenheit bieten keine Garantie für künftige Wettbewerbsfähigkeit, und die Fähigkeit des deutschen Unternehmenssektors, als Motor des Wandels zu agieren, hängt davon ab, inwieweit sämtliche Akteure innerhalb des Innovationssystems – vom kleinsten Start-up bis hin zum Großkonzern – dazu in der Lage sind, die durch die nachhaltige und digitale Transformation entstehenden strukturellen Herausforderungen zu bewältigen. Wenn beispielsweise eine große, exportorientierte Maschinenbaufirma beabsichtigt, vermehrt digitale Technologie in ihre Produkte zu integrieren, so hängt der sozioökonomische Nutzen dieser Entscheidung für die deutsche Wirtschaft von der Fähigkeit der KMU und Dienstleister in ihren Wertschöpfungsketten und ihrem industriellen Ökosystem ab, sich anzupassen und entsprechende Vorleistungen zu erbringen.
Das vorliegende Kapitel konzentriert sich auf eine Reihe von Fragen betreffend den Innovationsbeitrag des deutschen Mittelstands. Im ersten Abschnitt wird eine Empfehlung zu Datenzugriff und -infrastruktur für den deutschen Privatsektor vorgestellt. Daten sind ein Schlüsselfaktor für die Innovation im Unternehmenssektor und die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit in exportorientierten Sektoren. Darauf folgen drei analytische Abschnitte. Der erste der drei Abschnitte befasst sich mit dem Beitrag des Mittelstands zur Innovation in Deutschland. Der zweite Abschnitt untersucht Bedeutung und Ausmaß der Digitalisierung im deutschen Privatsektor. Der dritte Abschnitt schließlich geht kurz auf Geschäftsdynamik und unternehmerische Initiative ein.
Empfehlung 4: Dateninfrastruktur und -zugang verbessern, vor allem in der Industrie
Überblick und detaillierte Empfehlungen:
Empfehlung 4 betont, dass Daten ein Schlüsselfaktor sind. Sie sind entscheidend für eine größere Agilität in der politischen Entscheidungsfindung und eine innovativere Anwendung des Vergaberechts sowie für die Datenverarbeitung auf Unternehmensebene zur Verbesserung von Forschung und Effizienz. Eine verbesserte Kohärenz und Interoperabilität der Dateninfrastruktur zugunsten eines digitalen Innovationsschubs sollte prioritäres politisches Ziel des staatlichen Handelns im WTI-Bereich sein. Auch die wirkungsvolle Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen und Unternehmen zu Innovationszwecken hängt von einer zugänglichen und gut konzipierten Dateninfrastruktur ab.
Mit Blick auf die Innovationskraft Deutschlands und den internationalen komparativen Vorteil des Landes sollte der strategische Einsatz von Unternehmensdaten für Innovationszwecke Priorität sowohl im öffentlichen als auch im Privatsektor genießen, insbesondere in innovationsintensiven Branchen wie der Automobilindustrie, im Maschinenbau sowie in der Chemie- und Pharmaindustrie. Dies erfordert Top-down-Ansätze und rahmenorientierte Ansätze, die durch politische Maßnahmen ergänzt werden, um die Anwendung von datenerzeugenden und datennutzenden Technologien auf Unternehmensebene zu verbessern. Offene Innovationsplattformen und Gemeinschaftsprojekte zur Verwertung solcher Daten sind zudem notwendig, dieses Potenzial zu erschließen.
E4.1 Die Regierung sollte ein Programm fördern, das darauf abzielt, die Dateninfrastruktur des Landes zu verbessern und die Aufnahmekapazität des öffentlichen und privaten Sektors im Bereich der Infrastruktur- und des Humankapitals zu erhöhen. Dieses Programm sollte einen klar umrissenen Auftrag enthalten und seinen Schwerpunkt eindeutig darauflegen, im Unternehmenssektor und in der Forschung erzeugte Daten zur WTI-Förderung zu nutzen. Das Programm wäre dafür zuständig, Engpässe in der weichen und harten Infrastruktur, die eine Verbesserung der Dateninfrastruktur und des Datenzugriffs behindern, abzubauen.
E4.2 Die Regierung sollte die vom Unternehmenssektor generierten Daten als strategische Dividende ansehen, mit der die Innovationstätigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes gestärkt werden können. Da die zentrale Rolle von Daten für Innovation im Rahmen der Datenstrategie der Bundesregierung anerkannt wurde (BKAmt, 2021[3]), könnte Deutschland seine Position als größte Volkswirtschaft Europas nutzen, um sicherzustellen, dass hochwertige, interoperable und zugängliche Unternehmensdaten sich zu einer zusätzlichen Stärke des Innovationssystems und der Wirtschaft des Landes entwickeln. Im Hinblick auf die Infrastruktur sind die Programme GAIA-X und IPCEI-CIS (wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse), die beide auf eine Förderung von europäischen Cloud-Infrastrukturen und ‑Dienstleistungen abzielen, erste Schritte in diese Richtung. Das gilt in noch stärkerem Maß für die laufenden Bemühungen zur Digitalisierung der Wertschöpfungskette des Automobilsektors mithilfe von Initiativen wie beispielsweise der Plattform CATENA-X. Diese Initiativen sind zwar bedeutsam, müssen jedoch skaliert werden. Außerdem ist es erforderlich, ihren Anwendungsbereich auszuweiten und die Umsetzung zu beschleunigen. Eine industrieweite Strategie erfordert eine kohärente und systematische Herangehensweise zur effektiven Nutzung von Unternehmensdaten für Innovationszwecke. Sie sollte mit den Akteuren sowohl auf nationaler Ebene als auch länderübergreifend verfolgt werden.
E4.3 Um die datengesteuerte Innovation zu fördern, sollte die Bundesregierung Hemmnisse, die der Nutzung der von KMU erzeugten Daten entgegenstehen, abbauen und den Zugang von KMU zu sektorübergreifend erzeugten Daten ausbauen. Insbesondere sollte die Bundesregierung die Straffung der regulatorischen Unterschiede zwischen den Bundesländern unterstützen und Hilfestellung bei der Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung leisten. Sie sollte die Rechtssicherheit erhöhen und gegebenenfalls eine flexiblere Nutzung von Daten für innovative Verfahren fördern, indem sie die Unternehmen ermutigt, die erforderlichen immateriellen Investitionen vorzunehmen, die es ihnen ermöglichen, Daten für Innovationszwecke zu erzeugen, zu speichern und zu verarbeiten. Zugleich sollte die Bundesregierung die Dringlichkeit erkennen, Unternehmen mit geeigneter Konnektivitätsinfrastruktur auszustatten – das gilt für Breitband-Glasfaserkabel wie auch für 5G-Verbindungen, die für die enormen Datenvolumina der Industrie-4.0-Verfahren erforderlich sind –, um datengesteuerte Innovation und Produktion im Kontext des digitalen Wandels zu fördern.
E.4.4 Offene Innovationsplattformen und -ansätze fördern. Die Erzeugung von Daten ist eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzung für Innovation. Um im digitalen Zeitalter erfolgreich zu sein, müssen Firmen Zugriff auf Daten haben und mit der erforderlichen Kenntnis und Technologiekompetenz ausgestattet sein, um diese Daten zu verarbeiten und zu nutzen. Außerdem verfügen einige Firmen nicht über genügend eigene Kapazitäten, um die selbst erzeugten oder erzeugbaren Daten für die Wertschöpfung oder neue Erkenntnisse zu nutzen, während andere Unternehmen dazu in der Lage sind. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, einen offenen Innovationsansatz – den die Bundesregierung seit Einführung ihrer Datenstrategie 2021 verfolgt – zu unterstützen und Plattformen zu gründen, die weitere Innovationsakteur*innen in die Schaffung von Innovationen auf Grundlage von Unternehmens- und Industriedaten einbinden. Ein wichtiger Zusatznutzen derartiger offener Innovationsplattformen besteht darin, dass sie eine weitere firmenübergreifende Zusammenarbeit ermöglichen also auch die Zusammenarbeit mit Forschungsinstituten und Universitäten.
Zusätzliche Empfehlungen betreffend den Mittelstand
Eine Reihe von Empfehlungen in diesem Prüfbericht bezieht sich auf die Fähigkeit des Unternehmenssektors, den digitalen und ökologischen Wandel durch Innovationen zu unterstützen. Der folgende Kurzüberblick stellt ausgewählte, für den Unternehmenssektor besonders relevante Empfehlungen vor und bezeichnet die jeweilige Fundstelle innerhalb des Prüfberichts.
Empfehlung 1 (Kapitel 14): Eine gemeinsame Vision für Deutschland für 2030 und 2050 entwickeln. Diese Empfehlung enthält Leitlinien zu der Frage, wie die Bundesregierung das Wissenschafts-, Technologie- und Innovationssystem (STI) gezielter ausrichten kann. Dies ist für den Unternehmenssektor von Belang, da Unternehmen – insbesondere kleinere Unternehmen – ihre Innovationsbemühungen nicht automatisch auf Tätigkeiten richten, die für die künftige Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit relevant sind. Eine längerfristige Vision für das STI-System und dessen Interaktion mit dem Privatsektor könnte dazu beitragen, einen sowohl nachhaltigen als auch inklusiven Wandel sicherzustellen.
Empfehlung 2 (Kapitel 15): Ein öffentlich-privates Labor für die Erprobung von Innovationspolitik einrichten. Um den Erfolg des Privatsektors in der Transition zu gewährleisten, könnte größere Experimentierfreude aufseiten der politischen Entscheidungsträger*innen erforderlich sein. Das innovationspolitische Labor könnte als Plattform für die Erprobung und Skalierung neuer Handlungsansätze zur Unterstützung der Innovationstätigkeit von KMU in der Transition dienen und zugleich neue KMU an das WTI-System heranführen.
Empfehlung 3 (Kapitel 6): Agiler Politikinstrumente nutzen und systematisch berücksichtigen, um die Innovationsbemühungen der KMU zu unterstützen und die Transformationen zu verwirklichen. Innovationen des Unternehmenssektors im Zuge der Nachhaltigkeitswende erfordern es, dass Firmen technologische Grenzen überschreiten und mit noch nicht bewährten und vollkommen neuartigen Lösungen experimentieren. Das bedeutet, dass die Politik möglicherweise agiler sein muss, um sicherzustellen, dass die Unternehmen über eine hinreichende regulatorische und politische Flexibilität verfügen, um neue Bereiche zu erschließen.
Empfehlung 6 (Kapitel 7): Finanzmärkte fördern, die ein Aufskalieren von bahnbrechenden Innovationen begünstigen. Die herkömmlichen Finanzierungsquellen des Privatsektors sind für die Skalierung mancher vielversprechender und bahnbrechender Innovationen nur begrenzt wirksam. Diese Innovationen weisen häufig ein höheres Risiko auf, sodass Start-ups auf Quellen wie beispielsweise Risikokapitalgeber zurückgreifen, um ihre Ideen voranzubringen. Diese Empfehlung untersucht, wie Risikokapitalgeber und institutionelle Anleger in späteren Phasen eine größere Rolle bei der Skalierung vielversprechender deutscher Start-ups und innovativer Unternehmen spielen könnten.
Empfehlung 7 (Kapitel 11): Den Einsatz der öffentlichen Auftragsvergabe als Innovationstreiber stärken. Eine innovativere Nutzung der öffentlichen Auftragsvergabe könnte den Unternehmen ein nachfrageseitiges Signal senden, dass Märkte für neue Technologien entstehen, die auf dem Papier möglicherweise noch nicht wirtschaftlich tragfähig sind.
10.1. Die Rolle des Mittelstands für die Innovation im Unternehmenssektor
Die KMU sind das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. In Deutschland haben 99 % der Unternehmen weniger als 500 Beschäftigte; unterhalb dieser Schwelle werden sie von den politischen Entscheidungsträger*innen als KMU beziehungsweise als Teil des Mittelstands eingestuft. In der OECD-Klassifizierung der Unternehmensgröße wurden die Unternehmen 2019 folgendermaßen eingestuft: 65 % der deutschen Unternehmen hatten weniger als 9 Mitarbeitende, was lediglich 4,5 % der Gesamtbeschäftigung im Unternehmenssektor entspricht; auf Firmen mit 10 bis 19 Mitarbeitenden entfielen 16 % des Unternehmenssektors und 5,7 % der Beschäftigung; Unternehmen mit 20 bis 49 Mitarbeitenden machten 9 % des Unternehmensbestands und 7,8 % der Beschäftigten aus, auf Firmen mit 50 bis 259 Mitarbeitenden entfielen 7,1 % des Unternehmensbestands und 19,5 % der Beschäftigung; Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden schließlich machten lediglich 2,1 % des Unternehmensbestands aus, jedoch 62,4 % der Gesamtbeschäftigung (OECD, o. J.[4]). Die KMU sind in Deutschland im Schnitt doppelt so groß wie in den meisten anderen europäischen Ländern. Ihre Größe ist allerdings vergleichbar mit den Unternehmen in anderen großen Industrieländern wie Japan und den Vereinigten Staaten (OECD, 2021[5]). Landesweite Unterschiede in der Wertschöpfung nach Unternehmensgröße sind ebenfalls erheblich und lassen die Konzentration einiger der produktivsten Wirtschaftstätigkeiten bei deutschen Großunternehmen erkennen. Während beispielsweise Kleinstunternehmen (weniger als zehn Mitarbeitende) 2018 im OECD-Raum rd. 27 % der Wertschöpfung im Unternehmenssektor ausmachten, lag der entsprechende Wert in Deutschland nur bei 15 %.
Trotz ihrer großen Zahl entfielen 2018, dem letzten Jahr, für das disaggregierte Daten zur Verfügung stehen, auf die deutschen KMU nur 8 % (7 Mrd. EUR) der Ausgaben des Unternehmenssektors für Forschung und Entwicklung (BERD). Dies war der relativ gesehen zweitniedrigste Anteil innerhalb des OECD-Raums, unterboten nur noch von Japan (5 %). Zugleich ist der BERD-Anteil der KMU in Deutschland seit 2009 gesunken, was einem vergleichbaren Trend in anderen großen Industrieländern wie beispielsweise den Vereinigten Staaten entspricht. Der abnehmende Anteil der KMU an den FuE-Ausgaben des Unternehmenssektors ist jedoch im OECD-Raum nicht flächendeckend zu beobachten. In Frankreich, der am zweitstärksten industrialisierten Volkswirtschaft der Europäischen Union, ist der KMU-Anteil an den FuE-Ausgaben des Unternehmenssektors seit 2002 de facto von 14 % auf 27 % (11 Mrd. EUR) im Jahr 2018 gestiegen. Seit der weltweiten Finanzkrise von 2008–2009 hat sich der auf die Unternehmensgröße zurückzuführende Unterschied bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung erhöht, was vielleicht auf die asymmetrischen langfristigen Auswirkungen von angebotsseitigen Krisen auf die Forschungstätigkeit (Abbildung 10.1) zurückzuführen ist. Dem lässt sich nicht unbedingt entnehmen, dass die FuE-Ausgaben der KMU sich nicht erhöht haben – sie sind in der Tat zwischen 2005 und 2018 um 43 % angestiegen – wohl aber, dass der Anstieg von 53 % (im selben Zeitraum) bei den FuE-Ausgaben von Großunternehmen die Investitionslücke zwischen den Unternehmensgrößen noch ausgeweitet hat. Andere Belege sprechen ebenfalls für einen Abwärtstrend bei den innovationsorientierten Gesamtinvestitionen (d.h. BERD und sonstige Innovationsinvestitionen) einschließlich der Investitionen in immaterielle Werte, wie in Kapitel 3 erörtert.
Die Innovationstätigkeit der KMU weicht in Deutschland insofern von anderen Ländern ab, als die „Hidden Champions“ – also Firmen, die bei der Herstellung hochspezialisierter Produkte häufig Weltmarktführer sind – eine besondere Rolle spielen. Deutschland kann eine unverhältnismäßig hohe Zahl solcher Firmen vorweisen: Schätzungen zufolge gibt es rd. 1 300 KMU, von denen die meisten ihren Standort in Bayern und Baden-Württemberg haben (BMWK, o. J.[7]). Die Herausforderung bei der Leistungsbewertung dieser Firmen im Vergleich zu anderen KMU besteht in einem Mangel an Daten. Weder das Statistische Bundesamt (Destatis) noch privatwirtschaftliche Organisationen führen ein öffentlich verfügbares Register solcher Unternehmen, was politische Entscheidungsträger*innen und Wissenschaftler*innen daran hindert, deren Wirtschaftstätigkeit (einschließlich der Investitionen) mit anderen Firmen zu vergleichen. Eine eingehende Unternehmensumfrage zu den Hidden Champions könnte der Politik in Deutschland dabei helfen, diese einheimischen Wirtschaftserfolge zum Nutzen des gesamten Privatsektors einzusetzen.
Die FuE-Ausgaben im Unternehmenssektor konzentrieren sich in Deutschland sehr stark bei den größeren Unternehmen, dies ist jedoch in vielen größeren Ländern der Fall. Abbildung 10.2 zeigt eine Korrelation zwischen der Größe eines Landes (BIP) und dem relativen Anteil der KMU an den gesamten Unternehmensausgaben für FuE. Je höher das BIP einer Volkswirtschaft ist, desto geringer ist der relative Anteil der dortigen KMU an den FuE-Ausgaben.
Die Konzentration bei den FuE-Ausgaben der Unternehmen hängt auch von der Branchenstruktur ab. Volkswirtschaften, in denen der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes höher ist, haben beispielsweise im Allgemeinen größere Unternehmen als diejenigen mit einem höheren Anteil von Dienstleistungen innerhalb ihrer Branchenstruktur. Dies ist einer der Gründe, weshalb Deutschland, Japan und die Vereinigten Staaten eine derart auffällige Konzentration von Großunternehmen aufweisen.
10.2. Digitalisierung im Unternehmenssektor: den Mittelstand unterstützen
Der Beitrag des Privatsektors – insbesondere des Mittelstands – zur Innovation in den Bereichen Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit hängt von den Kompetenzen der Unternehmen in einer Reihe von Technologiefeldern sowie von ihrer Fähigkeit ab, Daten und digitale Technologien zu nutzen. So hängt beispielsweise die Innovationsfähigkeit der Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe weitgehend davon ab, inwieweit sie Erkenntnisse aus den von Industrierobotern im Produktionsprozess generierten Daten gewinnen können. In gleicher Weise setzt die Nutzung von Industriedaten für neue, bahnbrechende Entwicklungen voraus, dass die Unternehmen sich die verfügbaren Kompetenzen aneignen – entweder unternehmensintern oder durch neue Formen des Wissenstransfers –, um neues Wissen und neue Erkenntnisse aus den betreffenden Daten abzuleiten. Außerdem muss das Personal geschult werden, um den darin liegenden Wert zu erkennen. Der folgende Unterabschnitt befasst sich schwerpunktmäßig mit den digitalen Kapazitäten des Mittelstands. In Kapitel 6 werden etliche der Fragen im Zusammenhang mit den digitalen Rahmenbedingungen behandelt.
Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung des digitalen Wandels für die Innovation in Deutschland bewusst und hat eine Reihe von Programmen aufgelegt, um die Digitalisierung insbesondere von KMU zu unterstützen. Die Förderung erfolgt in unterschiedlicher Form, von der Direktfinanzierung bis hin zu Netzwerkorganisationen. Zu den jüngsten Beispielen derartiger Initiativen zählt das Programm „Go-Digital“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). Es lief von 2017 bis 2021 und gewährte förderfähigen KMU Zuschüsse für Weiterbildungsmaßnahmen in den Bereichen digitalisierte Geschäftsprozesse, digitale Markterschließung und IT-Sicherheit. Hierzu zählen auch die Mittelstand-Digitalzentren, die KMU bei der Einführung von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) sowie bei Industrie-4.0-Anwendungen unterstützen.
In früheren Jahren war die Digitalisierung keine notwendige Voraussetzung für den Innovationserfolg in Deutschland; dies ändert sich jedoch allmählich in einem Wirtschaftsumfeld, in dem Wertschöpfung und Innovation sowohl im traditionellen Verarbeitenden Gewerbe der deutschen Wirtschaft als auch in den weniger stark vertretenen Dienstleistungsbereichen zunehmend datengesteuert sind. In gleicher Weise werden IKT-Instrumente vermehrt in Innovationen eingebettet, um Klimamanagement und nachhaltige Energieerzeugung und -nutzung zu unterstützen, was die Schnittstellen zwischen der digitalen und der ökologischen Transformation verdeutlicht.
Für eine umfassendere digitale Transformation der deutschen Wirtschaft müssen die Unternehmen neue fortschrittliche IKT-Tools und -Aktivitäten einführen. Hierzu zählen insbesondere solche, die es ihnen ermöglichen, große Datenmengen zu erheben, zu speichern, auszutauschen und zu verarbeiten. Je nach Unternehmensgröße besteht zudem ein großes Gefälle bei der IKT-Ausstattung. Im Bereich des Cloud-Computing beispielsweise liegen KMU in der entsprechenden Größeneinstufung signifikant unter dem OECD-Durchschnitt (-14 Prozentpunkte) (Abbildung 10.3) – was überrascht, wenn man bedenkt, dass kleinere und jüngere Firmen häufig die Hauptnutznießer dieser Dienstleistungen sind, da sie Kosteneffizienz und Flexibilität bei der Skalierung von digitalen Betriebsabläufen bieten (OECD, o. J.[10]).
Wertschöpfung aus Daten zu generieren und Daten für Innovationen zu nutzen, wird in den kommenden Jahren für die deutsche Wirtschaft wahrscheinlich von entscheidender Bedeutung sein. Dies erfordert im Kontext von Industrie 4.0 die Erhebung und Verarbeitung von gewaltigen Datenmengen, vordringlich aus dem Dienstleistungssektor und dem Verarbeitenden Gewerbe. Bezeichnenderweise nutzen nur 3 % der deutschen Unternehmen Daten, die aus eigenen Sensoren oder Geräten gewonnen wurden, für Big-Data-Analysen (Abbildung 10.4). Damit liegt Deutschland unter dem EU-Durchschnitt (4 %) und weit unterhalb der Werte in führenden Ländern wie beispielsweise den Niederlanden (10 %), Finnland (8 %) und Belgien (7 %) (OECD, 2020[11]). Die neuesten Befunde deuten darauf hin, dass Daten aus der Geolokalisierung von Mobilgeräten und aus sozialen Medien – anders als beispielsweise Daten von Fertigungsrobotern – in Deutschland am häufigsten als Quellen für Big-Data-Analysen genutzt werden. Dies ist eine verpasste Gelegenheit, Mehrwert aus firmeninternen Daten zu schöpfen (Nolan, 2021[12]). Die begrenzte Datennutzung – sei es aufgrund mangelnder Kompetenzen oder fehlender technischer Kapazitäten – verdeutlicht in vielerlei Hinsicht die wichtige Rolle eines dynamischen Ökosystems für Technologie-Start-ups, da kleinere Firmen häufig besser in der Lage sind, neue Erkenntnisse und Werte aus den Daten von Großunternehmen zu gewinnen als deren eigene Mitarbeitende (Nolan, 2021[12]).
Die Covid-19-Pandemie hat die digitale Transformation von Unternehmen in Deutschland genauso wie in anderen entwickelten Volkwirtschaften beschleunigt. Einer neueren Erhebung unter 1 000 deutschen Unternehmen zufolge haben drei Viertel der Großunternehmen ihre Investitionsvorhaben für digitale Technologie infolge der Pandemie aufgestockt (Bitkom, 2021[13]). Die Pandemie führt auch bei kleinen Unternehmen zu einer verstärkten Nutzung von IKT-Leistungen – insbesondere in Bezug auf E‑Commerce und Cloud-Dienste. Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) zufolge hat etwa jedes dritte deutsche Unternehmen mit zehn oder mehr Mitarbeitenden im Jahr 2021 zahlungspflichtige IT-Dienstleistungen auf Cloud-Computing-Plattformen in Anspruch genommen, ein Anstieg um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum Anteil von 22 % im Jahr 2018.
Je mehr Daten von Unternehmen erhoben werden, desto wichtiger werden künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen für die Wertschöpfung aus den gewonnenen Daten. Die Verbreitung und Nutzung dieser Technologien ist in Deutschland nach wie vor relativ gering, und obgleich deutsche Start-ups und Unternehmen auf den KI-Märkten eine immer wichtigere Rolle spielen, liegen sie hinter den Vereinigten Staaten und China, den beherrschenden Akteuren, zurück. Im Jahr 2020 entfielen mehr als 80 % der Risikokapitalinvestitionen auf KI-Start-ups in den Vereinigten Staaten und China. Der Anteil der EU lag bei lediglich 4 %, gefolgt vom Vereinigten Königreich und Israel mit jeweils 3 % (Tricot, 2021[14]). Im Zeitraum zwischen 2012 und 2020 entfielen mehr als zwei Drittel der Risikokapitalinvestitionen in der EU auf Deutschland und Frankreich. Deutschland hat dennoch eine ambitionierte KI-Strategie vorgelegt. Die Herausforderung der nächsten Zukunft besteht darin zu gewährleisten, dass die Verbreitung und Nutzung neuer Technologien in den Unternehmen umfassender und im Einklang mit den politischen Zielsetzungen erfolgt. Kapitel 3 enthält weitere Angaben zur KI-Strategie der Bundesregierung.
Im Gegensatz zu der relativ langsamen IKT-Verbreitung und Datennutzung steht Deutschland bei der Automatisierung weltweit an der Spitze. Mit 371 Robotern je 10 000 Beschäftigten in der Industrie und im Verarbeitenden Gewerbe verzeichnet Deutschland die höchste Roboterdichte (Anzahl von Industrierobotern je 10 000 Beschäftigten) in Europa und den vierthöchsten Wert weltweit, übertroffen nur von Korea (932), Singapur (605) und Japan (390) (IFR, 2021[15]). Im Jahr 2020 entfielen 33 % des europäischen Roboterabsatzes und 38 % des europäischen Roboterbestands auf Deutschland. In Deutschland belief sich die Zahl der unternehmenseigenen Robotereinheiten auf 221 500, im Vergleich zu 74 400 in Italien, 42 000 in Frankreich und 21 700 im Vereinigten Königreich (IFR, 2021[15]). Der Internationale Robotikverband geht davon aus, dass die Nachfrage nach Robotern in Deutschland aufgrund des Bedarfs an kostengünstigen Robotern außerhalb des Verarbeitenden Gewerbes weiter steigen wird.
Die Digitalisierung bietet den KMU beträchtliche Chancen, ihre Produktivität zu steigern, sie birgt jedoch auch das Risiko in sich, das Gefälle zwischen den Unternehmen aufgrund von Schwierigkeiten bei der Finanzierung digitaler Investitionen und immaterieller Werte im weiteren Sinne noch zu vergrößern. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren Maßnahmen ergriffen, um dieses Gefälle zu verringern, beispielsweise durch Förderung des Technologietransfers über ein nationales Netzwerk von Anlaufstellen und Fachleuten (d. h. „Mittelstand-Digital“). Im Rahmen dieser Strategie bilden die „Mittelstand 4.0 Kompetenzzentren“ ein zentrales politisches Instrument, um KMU bei der Nutzung neuer Technologien zu unterstützen. Dieses neu geschaffene Netzwerk für den Technologietransfer bietet landesweit eine große Bandbreite von Unterstützungsleistungen einschließlich Beratung und Hilfestellung durch 1 000 Digitalisierungsexperten.
10.2.1. Leistung und Innovation des Unternehmenssektors mit Blick auf die digitale Transformation
Trotz der Bedeutung der Digital- und Kommunikationstechnologien für die deutsche Wirtschaft gibt es nur wenige deutsche Firmen, die bei der Anmeldung von IKT-relevanten Marken und Patenten führend sind. Im Europäischen Innovationsanzeiger für das Jahr 2021 gehören nur elf deutsche Unternehmen aus den Digitalbranchen (Software und Computerdienste, Hardware und Ausrüstung, Mobile Telekommunikation) zu den 2 500 weltweit innovativsten Unternehmen. (Europäische Kommission, 2021[16]). Nur eines von ihnen – SAP – gehörte zu den 100 führenden Unternehmen Demgegenüber fanden sich unter den 2 500 innovativen Spitzenunternehmen weltweit in denselben Kategorien 126 chinesische Firmen und 267 Unternehmen aus den Vereinigten Staaten.
Die relativ geringe Präsenz deutscher Firmen unter den weltweit führenden IKT-Innovatoren zeigt sich auch in einer eingehenderen Aufschlüsselung des deutschen Anteils an IKT-bezogenen Patenten im Vergleich zu den vier anderen führenden Volkswirtschaften in diesen Bereichen (Abbildung 10.5). Informationstechnologien und Digitalisierung sind sehr heterogene Kategorien, die von der Kommunikations- und Konnektivitätstechnologie bis hin zu maschinellem Lernen und KI reichen. Weltweit gehört Deutschland in weniger als der Hälfte der in Abbildung 10.5 dargestellten IKT-bezogenen Patentkategorien zu den fünf Spitzenländern. Wie bereits in Kapitel 3 erörtert, ist die relativ schwache Leistung Deutschlands bei Innovationen im IKT-Bereich u. U. auch auf die geringe Verbreitung von IKT in deutschen Unternehmen und den Forschungsschwerpunkt der bestehenden Branchen zurückzuführen.
Deutschlands begrenzter Beitrag zur weltweiten Innovation im IKT-Bereich gilt sowohl für IKT allgemein als auch für fortgeschrittenere Technologien, einschließlich wichtiger Universaltechnologien wie beispielsweise KI. Im Jahr 2017 kamen aus Deutschland 146 KI-relevante IP5-Patentanmeldungen, gegenüber 1 065 aus den Vereinigten Staaten und 1 115 aus Japan. Gemessen an der Publikationsleistung (die häufig als Messgröße für Software- und IKT-Innovationen besser geeignet ist) waren im Zeitraum 2014–2016 nur 2 der 50 bei FuE im KI-Bereich führenden Unternehmen deutsche Firmen (Dernis et al., 2019[18]). Das Patentvolumen hat zwar nur begrenzte Aussagekraft bei der Bewertung von KI-Innovationen, der Unterschied ist jedoch groß.
Deutschland ist auch mit der Herausforderung konfrontiert, den Innovationsoutput bei Schlüsseltechnologien wie beispielsweise Halbleitern und Nanotechnologie zu erhöhen. Mit fortschreitender Entwicklung der digitalen Komponente von Produkten erhöht sich auch der Anteil der für diese Anwendungen erforderlichen Hardware. Außerdem wird die Fähigkeit, diese Technologien zu konzipieren und zu entwickeln, für die Wertschöpfung immer wichtiger. Zugleich macht der Mangel an einheimischen Innovations- und Produktionskapazitäten in diesen Technologiebereichen die deutsche Wirtschaft anfällig für Lieferkettenschocks, wie sich im Verlauf der Covid-19-Pandemie gezeigt hat. Die Beispiele Halbleiter und Nanotechnologie sprechen für sich: Nanotechnologien sind ein Schlüsselelement für die Entwicklung von Halbleitern und Stärken im erstgenannten Bereich dürften entscheidend sein für die Kapazitäten im anderen Bereich. Aus Deutschland kamen 2017 jedoch nur 17 IP5-Patentanmeldungen für Nanotechnologie, weit entfernt von den Vereinigten Staaten (140) und Japan (112). Der deutsche Beitrag zu den Halbleiterpatenten war ähnlich gering. Im Zeitraum 2000–2018 gelang es nur China, seinen weltweiten Anteil in diesen Technologiebereichen deutlich zu erhöhen (Abbildung 10.6).
In der Praxis bedeutet dies, dass, anders als in der Vergangenheit, als deutsche Erfindungen weltweit erheblichen Einfluss auf die Fertigungs- und Industrieprozesse ausübten, deutsche Unternehmen künftig vermehrt auf Innovationen – und Normen über deren Einsatzmöglichkeiten – aus dem Ausland angewiesen sind.
10.3. Geschäftsdynamik, Unternehmergeist und Auswirkungen auf die Innovation
In Deutschland entstehen Innovationen – insbesondere inkrementelle Innovationen – im Allgemeinen innerhalb der etablierten Unternehmen, während Start-ups (und deren Gründung) nur eine relativ geringfügige Rolle spielen. Dies ist teilweise auf die Branchenzusammensetzung und die starke Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf Industrie und Verarbeitendes Gewerbe zurückzuführen. Die Herausforderung für Deutschlands traditionell innovative Sektoren besteht darin, dass bislang innovative deutsche Unternehmen mit einiger Wahrscheinlichkeit in geringerem Maße in der Lage sein werden, die Entwicklung zahlreicher technischer Schlüsselleistungen für künftige Innovation und Wettbewerbsfähigkeit intern zu erbringen. Im Zuge des nachhaltigen und digitalen Wandels können junge Firmen – seien es Ausgründungen aus dem Hochschulbereich für technologische Entwicklungen im Frühstadium, sei es ein disruptives Dienstleistungsunternehmen, das Marktannahmen infrage stellt – als Katalysatoren wirken und wichtige Beiträge zu Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeitszielen leisten. Der folgende Abschnitt betrachtet die Wirtschaftsdynamik in Deutschland und knüpft damit an einige der in Kapitel 6 behandelten Fragen zu den Rahmenbedingungen für Innovation in Deutschland an.
Deutschland weist im Verhältnis zu anderen Ländern eine sehr geringe Quote von Marktaustritten und ‑zugängen auf (OECD, 2020[11]). So ist beispielsweise sein Anteil von Start-ups im Unternehmenssektor (hier definiert als Firmen, die seit höchstens zwei Jahren aktiv sind) der viertniedrigste im OECD-Raum. Der geringere Anteil junger Firmen in der Unternehmenspopulation hat mehrere Auswirkungen auf die Innovationen und auf deren Vermarktung. Eine der dramatischsten Folgen resultiert aus den verpassten Gelegenheiten zur Skalierung von Ideen mit hohem Potenzial: Ein OECD-Bericht ergab, dass junge (nicht mehr als sechs Jahre alte) Firmen mit einer um das Zwei- bis Dreifache höheren Wahrscheinlichkeit skalieren als ältere Unternehmen vergleichbarer Größe (OECD, 2021[5]). Dies hat deutliche Auswirkungen auf den Erfolg des deutschen Privatsektors in der Digitalisierung und der Nachhaltigkeitswende, da es dringend erforderlich ist, neue Ideen und Technologien auf den Markt zu bringen
Wie bei einer Reihe von OECD-Ländern sinken auch in Deutschland die Markteintrittsquoten seit mehreren Jahren (Abbildung 10.7). Die Besorgnis nimmt zu, dass es sich bei diesem „säkularen Rückgang“ der Unternehmensdynamik – Marktzutritt und -austritt von Unternehmen sowie die damit einhergehende Vernichtung und Verlagerung von Arbeitsplätzen – nicht um einen deutschen Einzelfall handelt, sondern dass er auch andere entwickelte Volkswirtschaften betrifft. In einer OECD-Studie zur Unternehmensdynamik kamen die Autor*innen zu dem Schluss, dass die Dynamik (in unterschiedlich deutlicher Ausprägung) in jedem einzelnen der untersuchten 18 Länder zurückging. Sie stellten fest, dass dieser Rückgang auf disaggregierter Sektorebene erfolgte und nicht durch eine sich verändernde Struktur der Volkswirtschaften (beispielsweise vom Verarbeitenden Gewerbe zu Dienstleistungen) oder durch die „Servitization“ des Verarbeitenden Gewerbes verursacht wurde (Calvino, Criscuolo und Verlhac, 2020[20]).1 Sie stellten zudem fest, dass die Rückgänge getrennt von Konjukturzyklen verliefen, insbesondere im Hinblick auf den Marktzutritt von Unternehmen (Rückgang um durchschnittlich 3 % im Zeitraum 2000–2015) und Verlagerung von Arbeitsplätzen (Rückgang um 5 %).
Bemerkenswert ist, dass wachstumsstarke Unternehmen (insbesondere Start-ups) tendenziell überwiegend im Dienstleistungssektor angesiedelt sind, ein Bereich, der traditionell nicht im Fokus der deutschen WTI-Politik stand. Die Trends in der Unternehmensdynamik resultieren aus einer ganzen Reihe von Faktoren, darunter die Marktstruktur der Schlüsselsektoren, die Integration in globale Wertschöpfungsketten, demografische Faktoren (der sinkende Anteil der 30- bis 50-Jährigen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, ein Unternehmen zu gründen, am größten ist), ein relativ hohes Lohn- und Gehaltsniveau und ein angespannter Arbeitsmarkt (OECD, 2020[11]). Wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie beispielsweise Regulierungsaufwand, Bürokratie, die Effizienz von Insolvenzverfahren, der Zugang zu Kapital, sowie die Stärke des Innovationssystems und der Kompetenzen beeinflussen die Unternehmensdynamik ebenfalls.
Hinter diesen makroökonomischen Daten über den Marktzutritt von Unternehmen verbergen sich erhebliche Nuancen. So sind beispielsweise nicht alle Start-ups zwangsläufig innovativ und einige sind innovativer als andere. Diese Daten lassen beispielsweise nicht erkennen, wie hoch der Anteil von Hochschulausgründungen ausfällt und inwieweit diese von langfristigen Trends oder den jüngsten Krisen betroffen (oder nicht betroffen) sind. Diese Daten sind weitgehend nicht vorhanden. Eine OECD-Analyse wachstumsstarker Start-ups auf der Grundlage von Crunchbase-Daten ergab, dass der Anteil deutscher Start-up-Gründer*innen, die innerhalb von vier Jahren nach ihrem ersten Hochschulabschluss ein Unternehmen gründeten, in etwa dem Durchschnitt der untersuchten 13 Länder entsprach (Breschi, Lassébie und Menon, 2018[22]). Ein etwas anderes Bild zeigt sich bei den promovierten Gründer*innen: Hier liegt Deutschland auf Platz 3 unter den untersuchten Ländern. Die genannten Zahlen sind interessant, sagen jedoch wenig aus über die allgemeinen Trends und Antriebsfaktoren von Hochschulausgründungen oder hochinnovativen Start-ups in Deutschland, und sie geben auch keinen Hinweis darauf, wie der Strukturwandel der deutschen Wirtschaft diese Trends beeinflussen wird.
Literaturverzeichnis
[13] Bitkom (2021), „Datenschutz setzt Unternehmen unter Dauerdruck“, Presseinformation, 15. September, Bitkom e. V., Berlin, https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Datenschutz-setzt-Unternehmen-unter-Dauerdruck.
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Anmerkung
← 1. In der Studie wurden 18 Länder untersucht: Belgien, Brasilien, Costa Rica, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, Türkiye und Ungarn.