Wir leben in einer Welt, in der die berufliche Bildung zu lange und in zu vielen Ländern das Stiefkind nationaler Strategien war, um jungen Menschen und Erwachsenen die Kenntnisse und Kompetenzen zu vermitteln, die sie brauchen – und die die Arbeitgeber verlangen. Die berufliche Bildung wurde oft als Bildungsweg gesehen, der nur für die „Kinder der anderen“ geeignet ist, im Vergleich zu akademischen Bildungsgängen, die zu einem Hochschulstudium führen und daher als Goldstandard galten. Daten aus Ländern mit leistungsstarken berufsbildenden Systemen deuten allerdings darauf hin, dass die berufliche Bildung ein sehr wirksames Instrument für die Arbeitsmarktintegration von Lernenden ist und Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung und persönlichen Entwicklung eröffnet. Nun scheint sich etwas zu tun.
Die wachsenden Sorgen über die hartnäckig hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Unvorhersehbarkeit der modernen Arbeitswelt haben eine Welle des Interesses an Berufsbildung ausgelöst. Zunehmend heterogene und vernetzte Bevölkerungsgruppen, der rasante technologische Wandel im Betrieb und Alltag und die sofortige Verfügbarkeit großer Informationsmengen bedeuten, dass Arbeitsschritte, die sich automatisieren oder digitalisieren lassen, nun von den wettbewerbsfähigsten Personen oder Unternehmen durchgeführt werden können, unabhängig davon, wo sie sich auf der Welt befinden. Wissen und Kompetenzen sind die globale Währung des 21. Jahrhunderts, wobei jene sozialen und emotionalen Kompetenzen besonders gefragt sind, die am besten am Arbeitsplatz erlernt werden. Daher wenden sich die Politikverantwortlichen weltweit nunmehr wieder der beruflichen Bildung zu. Sie haben Ausbildungsgänge eingerichtet, die die Attraktivität der beruflichen Bildung steigern sollen. Diese haben zum Ziel, den Übergang von der beruflichen Bildung in eine qualifizierte Beschäftigung oder in einen höheren Bildungsgang zu erleichtern, und setzen dabei auf die einzigartige Möglichkeit, wertvolle Kompetenzen durch betriebliche Arbeitserfahrung zu erwerben.
Dieser neue Bericht baut auf den wegweisenden OECD-Studien zur Berufsbildung des Sekundarbereichs II (Lernen für die Arbeitswelt, 2010) und zum postsekundären Berufsbildungsangebot (Postsekundäre Berufsbildung, 2014) auf und lenkt die Aufmerksamkeit auf die betriebliche Ausbildung als herausragende Form des arbeitsplatzbasierten Lernens. Da die betriebliche Ausbildung in einem echten Arbeitsumfeld stattfindet, sind die Arbeitgeber aktiv in die Kompetenzentwicklung eingebunden. Es muss allerdings mehr getan werden, um hochwertige Praxiserfahrung zu gewährleisten. Ziel dieses Berichts ist es, das Geheimnis um die Ausgestaltung effektiver Ausbildungsgänge zu lüften. Er behandelt grundlegende Fragen, wie die Dauer einer betrieblichen Ausbildung oder die Höhe der Ausbildungsvergütung, und bietet damit Politikverantwortlichen und Fachleuten auf der ganzen Welt ein Rahmenkonzept. Dieser Synthesebericht beruht auf sechs thematischen Untersuchungen, die von Australien, Deutschland, Kanada, Norwegen, Schottland (Vereinigtes Königreich), der Schweiz, dem Vereinigten Königreich (Department for Education, England/UKCES, UK Commission for Employment and Skills) und den Vereinigten Staaten sowie der Europäischen Kommission großzügig unterstützt wurden.
Die berufliche Bildung durchläuft eine entscheidende Phase. Es wird nun gemeinhin anerkannt, dass die Routinekompetenzen, die sich am einfachsten vermitteln und überprüfen lassen, zugleich auch jene sind, die sich am einfachsten digitalisieren, automatisieren und auslagern lassen. Die Berufsbildungssysteme müssen an diese sich wandelnden Rahmenbedingungen angepasst werden, wenn sie für die Bedürfnisse der Lernenden und der Unternehmen relevant bleiben sollen. Diese Studie soll uns dabei helfen, die anstehenden Veränderungen besser zu verstehen und zu erklären. So können wir selbstbewusste Antworten auf neue Herausforderungen geben. Demnächst werden neue Daten, u.a. weitere Ergebnisse aus der OECD-Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener (PIAAC) und der Internationalen Schulleistungsstudie der OECD (PISA), den Ländern Hinweise darauf liefern, inwieweit es ihnen gelungen ist, die berufliche Bildung als Option für alle Lernenden attraktiv zu machen.
Andreas Schleicher, Leiter der OECD-Direktion Bildung und Kompetenzen, Berater des Generalsekretärs im Bereich Bildungspolitik