Die Grundsätze der Corporate Governance (im Folgenden als „Grundsätze“ bezeichnet) sollen Politikverantwortlichen helfen, den rechtlichen, regulatorischen und institutionellen Rahmen der Corporate Governance zu evaluieren und zu verbessern, um wirtschaftliche Effizienz, nachhaltiges Wachstum und finanzielle Stabilität zu fördern. Dies geschieht in erster Linie, indem den Aktionären, den Mitgliedern von Board und Geschäftsführung, den Mitarbeitenden und wesentlichen Stakeholdern sowie Finanzintermediären und Dienstleistern geeignete Informationen und Anreize geboten werden, um in einem Kontext von Kontrolle und Gegenkontrolle ihre Aufgaben wahrzunehmen und Rechenschaftslegung zu gewährleisten.
Corporate Governance befasst sich mit den Beziehungen zwischen der Geschäftsführung eines Unternehmens, dem Aufsichtsorgan (Board), den Aktionären und anderen Stakeholdern. Ein weiterer Gegenstand der Corporate Governance sind die Strukturen und Systeme für die Führung des Unternehmens, die Festlegung der Unternehmensziele sowie die Bestimmung der Mittel, um diese Ziele zu erreichen und die Erfolgskontrolle durchzuführen.
Die Grundsätze sind nicht rechtsverbindlich und nicht als detaillierte Vorgaben für nationale Gesetzgebung gedacht. Sie sind weder ein Ersatz für nationale Gesetze und Vorschriften, noch sollten sie als diesen übergeordnet angesehen werden. Vielmehr sollen sie Ziele benennen und verschiedene Wege aufzeigen wie diese Ziele mit einem Instrumentarium, zu dem in der Regel gesetzliche und regulatorische Elemente, Börsenzulassungsregeln, Selbstregulierungsmechanismen, vertragliche Vereinbarungen, freiwillige Verpflichtungen und Geschäftspraktiken gehören, erreicht werden können. Die Umsetzung der Grundsätze in den einzelnen Staaten hängt von den jeweiligen rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen ab. Die Grundsätze sollen einen tragfähigen, aber flexiblen Bezugsrahmen schaffen, auf dessen Grundlage Politikverantwortliche und Marktteilnehmer ihre eigenen Corporate-Governance-Rahmen entwickeln können. Um in einer sich wandelnden Welt wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen innovativ sein und ihre Corporate-Governance-Praxis anpassen, damit sie neue Anforderungen erfüllen und neue Chancen nutzen können. Die staatlichen Instanzen haben die wichtige Aufgabe, einen wirksamen Regulierungsrahmen zu schaffen, der flexibel genug ist, um effektiv funktionierende Märkte zu gewährleisten und neuen Erwartungen der Aktionäre und Stakeholder Rechnung zu tragen. Dabei müssen Kosten und Nutzen der Regulierung sorgfältig abgewogen werden. Die Grundsätze selbst haben evolutionären Charakter und werden bei wesentlichen Veränderungen ihres Umfelds überarbeitet, damit sie ihrer Rolle als führender internationaler Standard für die Politikgestaltung im Bereich der Corporate Governance weiter gerecht werden können.
Gut konzipierte Corporate-Governance-Regeln können die Verwirklichung allgemeinerer wirtschaftlicher Ziele entscheidend voranbringen und drei wesentliche Beiträge zu staatlicher Politik leisten. Erstens helfen sie den Unternehmen, Zugang zu Finanzierung – insbesondere über die Kapitalmärkte – zu erhalten. Dadurch fördern sie Innovationen, Produktivität, unternehmerische Tätigkeit und die wirtschaftliche Dynamik insgesamt. Zugleich stärkt gute Corporate Governance das Vertrauen direkter und indirekter Kapitalgeber darauf, unter fairen und gleichberechtigten Bedingungen an der Wertschöpfung der Unternehmen mitwirken und teilhaben zu können. Sie beeinflusst daher die Kosten, zu denen Unternehmen Kapital für weiteres Wachstum beschaffen können.
Dies ist auf den globalisierten Kapitalmärkten der heutigen Zeit von besonderer Bedeutung. Internationale Kapitalströme eröffnen den Unternehmen den Zugang zu einem viel größeren Kreis von Kapitalgebern. Wenn Unternehmen und Länder die Vorteile globaler Kapitalmärkte voll ausschöpfen und langfristiges, „geduldiges“ Kapital anwerben wollen, müssen die Corporate-Governance-Rahmen glaubwürdig sein, sowohl im Inland als auch über die Landesgrenzen hinaus richtig verstanden werden und sich an international anerkannten Grundsätzen orientieren.
Zweitens bieten gut konzipierte Corporate-Governance-Regeln einen Schutzrahmen für Anleger, einschließlich privater Haushalte, die ihre Ersparnisse investiert haben. Ein formaler Rahmen von Verfahrensregelungen, der die Transparenz und Rechenschaftspflicht der Board-Mitglieder und der Geschäftsführung gegenüber den Aktionären fördert, stärkt das Marktvertrauen und verbessert damit den Zugang der Unternehmen zu Finanzierung. Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung investiert an den Aktienmärkten, entweder direkt als Privatanleger*innen oder indirekt über Pensions- und Investmentfonds. Ein System, das die Menschen an der Wertschöpfung der Unternehmen teilhaben lässt und ihnen Gewissheit bietet, dass ihre Rechte geschützt sind, eröffnet den privaten Haushalten Zugang zu Anlagechancen, mit denen sie höhere Erträge für ihre Ersparnisse und ihre Altersvorsorge erzielen könnten. Da institutionelle Investoren zunehmend einen Großteil ihrer Portfolios auf ausländischen Märkten investieren, sollten Maßnahmen zum Schutz der Anleger auch für grenzüberschreitende Investitionen gelten.
Drittens erhöhen gut konzipierte Corporate-Governance-Regeln auch die Nachhaltigkeit und Resilienz der Unternehmen, was wiederum zur Nachhaltigkeit und Resilienz der Gesamtwirtschaft beitragen kann. Viele Anleger berücksichtigen bei der Betrachtung der finanziellen Ergebnisse von Unternehmen zunehmend auch die finanziellen Risiken und Chancen, die mit allgemeineren wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Herausforderungen einhergehen, sowie die Resilienz der Unternehmen gegenüber diesen Risiken und ihren Umgang damit. In einigen Staaten beschäftigt sich auch die Politik mit der Frage, wie die Geschäftstätigkeit von Unternehmen zur Bewältigung dieser Herausforderungen beitragen kann. Ein solider Rahmen für die Corporate Governance in Nachhaltigkeitsfragen kann den Unternehmen helfen, die Interessen von Aktionären und anderen Stakeholdern zu bestimmen und zu berücksichtigen und den langfristigen Erfolg des Unternehmens zu sichern. Dieser Rahmen sollte die Offenlegung wesentlicher nachhaltigkeitsbezogener Informationen – u. a. im Hinblick auf den Klimawandel – umfassen, die verlässlich, kohärent und vergleichbar sind. In einigen Fällen können Staaten die Konzepte der nachhaltigkeits-bezogenen Offenlegung und Wesentlichkeit so auslegen, dass die geltenden Standards die Offenlegung von Informationen sicherstellen sollten, die rational handelnde Aktionäre für ihre Anlage- oder Abstimmungsentscheidungen benötigen.
Die Grundsätze sollen knapp und präzise, verständlich und für alle Akteure, die weltweit an der Entwicklung und Umsetzung guter Corporate Governance beteiligt sind, zugänglich sein. Aufbauend auf den Grundsätzen ist es die Aufgabe staatlicher, halbstaatlicher oder privatwirtschaftlicher Initiativen, die Qualität des Corporate-Governance-Rahmens zu beurteilen und detailliertere verbindliche oder freiwillige Bestimmungen auszuarbeiten, um länderspezifischen wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Unterschieden Rechnung zu tragen.
Die Grundsätze richten sich hauptsächlich an finanzielle und nichtfinanzielle börsennotierte Unternehmen. Soweit anwendbar, können sie auch ein nützliches Instrument zur Verbesserung der Unternehmensführung in nicht börsennotierten Unternehmen darstellen. Auch wenn die Grundsätze teilweise eher auf große als auf kleine Unternehmen ausgerichtet sind, sollten die Politikverantwortlichen möglicherweise alle Unternehmen für eine verantwortungsvolle Corporate Governance sensibilisieren – d. h. auch kleinere und nicht börsennotierte Unternehmen sowie Unternehmen, die Schuldtitel emittieren. Die Grundsätze werden ergänzt durch die OECD-Leitsätze zu Corporate Governance in staatseigenen Unternehmen. Weitere Faktoren, die für unternehmerische Entscheidungsprozesse von Belang sind, wie Umwelt-, Antikorruptions- oder ethische Erwägungen, werden nicht nur in den Grundsätzen, sondern auch in einer Reihe anderer internationaler Standards behandelt, wie z. B. den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen, dem OECD-Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr, den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte sowie der ILO-Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit, auf die in den Grundsätzen verwiesen wird.
Die Grundsätze sollen die Geschäftsentscheidungen von Marktteilnehmern, Board-Mitgliedern und Geschäftsführung weder unnötig infrage stellen noch ihnen vorgreifen. Was für ein oder mehrere Unternehmen oder einen oder mehrere Anleger funktioniert, ist nicht zwangsläufig für alle geeignet. Unternehmen unterscheiden sich in ihrem Reifegrad, ihrer Größe und ihrer Komplexität. Ein Universalmodell guter Corporate Governance gibt es deshalb nicht – aber aus dem ergebnisorientierten Ansatz, den die Grundsätze verfolgen, ergeben sich dennoch einige gemeinsame Elemente aller Formen verantwortungsvoller Unternehmensführung. Die Grundsätze bauen auf diesen gemeinsamen Elementen auf und sind so formuliert, dass sie den verschiedenen existierenden Modellen Rechnung tragen.
Beispielsweise wird in den Grundsätzen keine bestimmte Leitungsstruktur befürwortet, und der in den Grundsätzen verwendete Begriff „Board“ ist so auszulegen, dass er den jeweiligen in den verschiedenen Ländern anzutreffenden Modellen der Unternehmensleitung gerecht wird. Bei dem für einige Staaten typischen dualistischen Modell bezieht sich der in den Grundsätzen verwendete Begriff „Board“ auf den „Aufsichtsrat“ und der Begriff „(Mitglieder der) Geschäftsführung“ auf den „Vorstand“. In monistischen Systemen mit einem einheitlichen Leitungsorgan, in dem ein internes Prüfungsgremium als Aufsichtsorgan fungiert, sind die für das Board geltenden Grundsätze entsprechend auf dieses interne Prüfungsgremium anzuwenden. Da sich die Definition des Begriffs „(Mitglieder der) Geschäftsführung“ in den verschiedenen Staaten und je nach Kontext – z. B. im Zusammenhang mit der Vergütungspolitik oder Geschäften mit nahestehenden Unternehmen oder Personen – unterscheiden kann, ist es Sache der einzelnen Staaten, eine zweckmäßige Definition festzulegen, die den beabsichtigten Zielen der Grundsätze gerecht wird. Die Begriffe „Gesellschaft“ und „Unternehmen“ werden synonym verwendet. Der Begriff „Stakeholder“ wird in den Grundsätzen durchgängig für Interessenträger verwendet, die keine Aktionäre des betreffenden Unternehmens sind. Dabei kann es sich u. a. um Mitarbeitende, Gläubiger, Kunden, Lieferanten und betroffene Gemeinschaften handeln.
Die Grundsätze dienen Staaten in aller Welt als Maßstab. Sie zählen zudem zu den Kernstandards für solide Finanzsysteme (Key Standards for Sound Financial Systems) des Finanzstabilitätsrats und bilden die Grundlage für die Evaluierung der Corporate Governance für die Weltbank-Berichte über die Einhaltung von Standards und Kodizes (Reports on the Observance of Standards and Codes – ROSC). Die Grundsätze dienen auch als Benchmark für die Entwicklung sektoraler Corporate-Governance-Leitlinien durch andere internationale Standardsetzer, wie z. B. den Basler Ausschuss für Bankenaufsicht. Die Umsetzung der Grundsätze wird durch verschiedene Instrumente überwacht und gefördert. Dazu zählen das OECD Corporate Governance Factbook, thematische Peer Reviews, die die Praxis in verschiedenen Staaten vergleichen, sowie Corporate-Governance-Prüfungen auf regionaler und Länderebene.
Die Grundsätze gliedern sich in sechs Kapitel: I. Voraussetzungen für einen effektiven Corporate-Governance-Rahmen, II. Aktionärsrechte, Gleichbehandlung der Aktionäre und wesentliche Eigentümerfunktionen, III. Institutionelle Anleger, Aktienmärkte und andere Intermediäre, IV. Offenlegung und Transparenz, V. Pflichten des Boards (Aufsichtsorgan) und VI. Nachhaltigkeit und Resilienz.
Jedes Kapitel beginnt mit einem einzelnen Grundsatz (in Kursiv- und Fettdruck), der durch eine Reihe von detaillierteren Grundsätzen und Untergrundsätzen (jeweils in Fettdruck) präzisiert wird. Ergänzende Anmerkungen kommentieren die Grundsätze und Untergrundsätze und erläutern die ihnen zugrunde liegenden Überlegungen. Die Anmerkungen können auch aktuell vorherrschende bzw. neue Trends beschreiben, verschiedene alternative Durchführungsmethoden nennen oder Beispiele anführen, die für die praktische Umsetzung der Grundsätze von Nutzen sein können.