Die Förderung der Wohnmobilität ist kein Selbstzweck, sondern eine wichtige politische Aufgabe, insbesondere in Ländern mit großen regionalen Unterschieden und Diskrepanzen zwischen den am Arbeitsmarkt angebotenen und nachgefragten Kompetenzen. Politikmaßnahmen, die Mobilitätshindernisse beseitigen, können für mehr Effizienz und Chancengerechtigkeit sorgen, da sie das Produktivitätswachstum und die soziale Mobilität erhöhen. Ein Abbau politikbedingter Hindernisse für die Wohnmobilität kann die Arbeitsmarktanpassung während der Erholung von der Covid-19-Krise erheblich erleichtern.
Stein auf Stein
6. Hindernisse für die Wohnmobilität abbauen
Abstract
Wichtigste Erkenntnisse
Die Wohnmobilität variiert in den OECD-Ländern erheblich. In Australien, den Vereinigten Staaten und den nordischen Ländern ist sie generell relativ hoch, in den ost-und südeuropäischen Ländern dagegen viel niedriger.1 Wohneigentümer*innen sind in allen Ländern deutlich weniger mobil als Mieter*innen.
Die Wohnverhältnisse und die Wohnungspolitik beeinflussen die Mobilitätsentscheidungen und ‑möglichkeiten der Menschen:
Die Wohnmobilität ist größer, wenn das Wohnungsangebot stärker auf Nachfrageveränderungen reagiert. Eine bessere Raumordnungs- und Planungspolitik, die regionale Preisunterschiede bei Wohnimmobilien reduziert, kann die Mobilität fördern.
Wohngeld und sozialer Wohnungsbau korrelieren positiv mit der Wohnmobilität. Die soziale Wohnungspolitik kann so gestaltet werden, dass Lock-in-Effekte vermieden werden. Erreicht werden kann dies beispielsweise dadurch, dass für Arbeitslose, die eine Stelle in einer anderen Region annehmen, die Auflagen bezüglich Aufenthaltsdauer oder Wartefristen entfallen.
Strengere mietrechtliche Bestimmungen, die eine Mietpreisbegrenzung und einen besseren Mieterschutz umfassen, sind mit einer geringeren Wohnmobilität assoziiert, insbesondere für Mieter*innen sowie geringqualifizierte und einkommensschwache Haushalte. Die mietrechtlichen Bestimmungen sollten die Interessen der Mieter*innen und Vermieter*innen in Einklang bringen, den Mieterschutz gewährleisten und die Schaffung bezahlbarer Mietwohnungen fördern.
Höhere Transaktionskosten für den Kauf und Verkauf einer Wohnung, insbesondere durch Verkehrsteuern wie Stempelgebühren und Notargebühren, sind mit einer geringeren Wohnmobilität verbunden, vor allem bei jüngeren Haushalten, die mit größerer Wahrscheinlichkeit Ersterwerber sind.
Steuerreformen, die die Besteuerung von Wohnimmobilien von einmaligen Steuern (z. B. Verkehrsteuern) auf laufende Steuern umstellen, würden zum Abbau von Mobilitätshindernissen beitragen. Dies kann allerdings die Resilienz schwächen, da Verkehrsteuern einer übermäßigen Immobilienpreisvolatilität und Spekulationen entgegenwirken können.
Die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beeinflusst die Mobilität ebenfalls. Höhere Transferzahlungen an Arbeitsuchende im Niedriglohnsektor und ein garantiertes Mindesteinkommen gehen mit einer größeren Wohnmobilität einher.
Wohnmobilität: Trends, Einflussfaktoren und Maßnahmen
1. Dieses Kapitel beschreibt neue Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Wohnsituation und Wohnmobilität in den OECD-Ländern sowie über den Einfluss wohnungspolitischer und anderer Maßnahmen auf die Mobilität. Die Daten basieren auf Causa und Pichelmann (2020[10]).
Die Wohnmobilität sollte nicht behindert werden
Wohnmobilität ist wichtig. Die Möglichkeit, den Wohnort zu wechseln, hat Auswirkungen auf die Effizienz, weil sie die Abstimmung von Arbeitsangebot und -nachfrage beeinflusst. Eine geringe Wohnmobilität kann die Arbeitsmarktanpassung behindern. Dadurch verringert sich die Effizienz der Arbeitsmärkte, was wiederum die gesamtwirtschaftliche Leistung beeinträchtigt (Oswald, 1996[1]; Caldera Sánchez und Andrews, 2011[2]; Blanchflower et al., 2013[3]; Weltbank, 2018[4]). Die Möglichkeit zum Wohnortwechsel wirkt sich auch auf die Resilienz aus. Sie beeinflusst nämlich die Anpassungsgeschwindigkeit nach Schocks, da sie ausschlaggebend dafür ist, ob Arbeitskräfte von Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit in Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit ziehen können.
Die Möglichkeit, den Wohnort zu wechseln, schlägt sich auch im Wohlergehen und in sozialer Gerechtigkeit nieder, da sie sich auf die individuellen und familiären Aufstiegsmöglichkeiten auswirkt (Judge, 2019[5]). Sie erleichtert beispielsweise den Zugang zu besser bezahlten Arbeitsplätzen in wohlhabenderen Regionen, besseren Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie besseren Wohnvierteln, insbesondere für Kinder und junge Menschen aus benachteiligten Verhältnissen. Daten aus dem amerikanischen MTO-Projekt (Moving to Opportunity) zeigen, dass die Kinder aus Familien, die dank nach dem Zufallsprinzip zugeteilter Wohngutscheine von armen in wohlhabendere Regionen ziehen konnten, in ihrem späteren Leben häufiger ein College besuchten, mehr verdienten und seltener alleinerziehend waren (Chetty, Hendren und Katz, 2016[6]). Diese Ergebnisse unterstreichen, dass es besser ist, Segregation zu bekämpfen und die räumliche Sortierung nach Einkommen und Vermögen zu reduzieren. Sie verdeutlichen außerdem, dass Mobilität insbesondere Kindern zugutekommt, da sie ihnen bessere Lebenschancen eröffnet. Ein Umzug ist jedoch nicht immer vorteilhaft. Bei Zwangsräumungen beispielsweise sehen sich Menschen genötigt umzuziehen, was weder für die Betroffenen noch für die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt angemessen ist. Eine übermäßige Wohnmobilität kann auch die soziale Stabilität von Quartieren beeinträchtigen, da sie das lokale Sozialkapital schwächt. Außerdem verschlechtern sich die Bildungsergebnisse, wenn Kinder gezwungen sind, die Schule zu häufig zu wechseln (OECD, 2020[7]).
Ergänzend zu dieser Arbeit wird die OECD im Rahmen weiterer Studien über den Zusammenhang zwischen Wohnsituation und Mobilität neue granulare Daten vorlegen. Untersucht werden sollen dabei insbesondere die interregionale Mobilität und die Frage, inwieweit Menschen als Reaktion auf lokale wirtschaftliche Schocks wie Arbeitslosigkeit umziehen und wie die Politik solche Reaktionen beeinflussen kann (Causa, Abendschein, Cavalleri, (2021[8]); Causa, Cavalleri und Luu (2021[9])). Bei dieser Arbeit wird es auch um die Notwendigkeit eines ausgewogenen Gesamtpakets aus strukturpolitischen und ortsbezogenen Maßnahmen gehen. Einerseits sollten die Menschen ermutigt werden, bessere Chancen in anderen Regionen wahrzunehmen, wenn sie dies wünschen, andererseits sind aber auch Maßnahmen erforderlich, um in strukturschwachen Regionen Chancen zu schaffen und die lokale Entwicklung zu fördern.
Die Wohnsituation beeinflusst die Mobilität – Eigentümer*innen sind wesentlich weniger mobil als Mieter*innen
Empirische Analysen zeigen, dass die Wohnmobilität eng mit dem Wohnimmobilienmarkt und der Wohnungspolitik zusammenhängt (Kasten 6.1). Haushaltserhebungen zufolge stehen die wichtigsten Umzugsgründe mit wohnraumbezogenen Präferenzen und Bedürfnissen in Zusammenhang, z. B. mit dem Wunsch, den Wohnstatus zu ändern, eine neue oder bessere Wohnung zu finden oder in eine bessere Wohngegend zu ziehen (Abbildung 6.1). Beim Umzugsverhalten gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen OECD-Ländern: Am höchsten ist die Wohnmobilität in Australien und den Vereinigten Staaten, wo mehr als 40 % der Bevölkerung innerhalb von fünf Jahren umziehen. Gering ist sie in den süd- und osteuropäischen Ländern, wo dies auf weniger als 10 % zutrifft (Abbildung 6.2).
Kasten 6.1. Haushaltsdaten und die empirische Analyse der Wohnmobilität
Die Studie in Causa und Pichelmann (2020[10]) basiert auf Haushaltserhebungsdaten für die EU-Länder der OECD, die Vereinigten Staaten und Australien. Diese Datensätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf einer repräsentativen Zufallsstichprobe der Bevölkerung beruhen und folgende Bereiche erfassen: Umzugsverhalten, d. h. Wohnungswechsel, sozioökonomische Merkmale der Haushalte, darunter Wohnstatus, Einkommen, Zusammensetzung und Größe der Haushalte, Arbeitsmarktdaten, Bildung sowie die Urbanisierung des Wohnorts und der Region. Dies ermöglicht eine umfassende Analyse der Einflussfaktoren der Mobilität von Einzelpersonen und Haushalten. Die Haushaltsdaten für die EU stammen aus der Statistik der Europäischen Union über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC). Die Analyse konzentriert sich auf die Querschnittskomponente von 2012, die ein spezielles Modul zu den Wohnverhältnissen der Haushalte enthielt, insbesondere Daten über Wohnungswechsel und die Gründe dafür. Die Daten für die europäischen Länder wurden durch Haushaltsdaten für die Vereinigten Staaten und Australien ergänzt. Die australischen Daten stammen aus der HILDA-Erhebung (Household, Income and Labour Dynamics in Australia), einer Panelerhebung, in der Daten zu wirtschaftlichem und subjektivem Wohlergehen, Arbeitsmarktdynamik und Familienstruktur der australischen Haushalte gesammelt werden. Die amerikanischen Daten stammen aus dem American Housing Survey (AHS), in dem Daten über Wohnverhältnisse und Haushaltsmerkmale sowie kürzlich erfolgte Umzüge erhoben werden.
Der Untersuchung der Einflussfaktoren der Wohnmobilität in den OECD-Ländern liegt ein zweistufiger Ansatz zugrunde. Zuerst werden die Effekte von Haushalts- und Personenmerkmalen, wie Wohnstatus, Einkommen und Alter, auf die Wohnmobilität für jedes Land geschätzt. Dadurch wird es möglich, die Effekte der Haushaltsmerkmale auf die Mobilität länderübergreifend zu vergleichen und, unter Berücksichtigung von Störeffekten anderer individueller Einflusskriterien, den Effekt des individuellen Wohnstatus auf die Mobilität zu erfassen. In einem zweiten Schritt werden die politikbezogenen und institutionellen Unterschiede zwischen den Ländern empirisch untersucht, um zu beurteilen, inwieweit die Wohnmobilität mit den politischen Rahmenbedingungen zusammenhängt. Die in der Analyse berücksichtigten Maßnahmen betreffen wohnungspolitische Aspekte wie mietrechtliche Bestimmungen und Transaktionskosten sowie andere Bereiche, die die Mobilität beeinflussen können, wie beispielsweise Sozial- und Kündigungsschutz. Bei den Effekten der Maßnahmen wird auch nach sozioökonomischen Gruppen differenziert (z. B. nach Wohnstatus, Bildung und Alter), um unterschiedliche Effekte in den einzelnen Gruppen aufzuzeigen. Dadurch werden die Verteilungseffekte dieser Politikmaßnahmen deutlich.
Bei den Mobilitätsraten sind im Ländervergleich zwar beträchtliche Unterschiede festzustellen, Wohneigentümer*innen sind jedoch generell weniger mobil als Mieter*innen (Abbildung 6.3). Dies deutet auf eine negative länderübergreifende Korrelation zwischen Wohneigentum und Wohnmobilität hin (Abbildung 6.4). Die auf den Wohnstatus zurückzuführenden Mobilitätsunterschiede sind auch dann zu beobachten, wenn ein breiter Fächer an individuellen und haushaltsbezogenen Mobilitätsfaktoren wie Alter, Bildung und Einkommen berücksichtig wird (Causa und Pichelmann, 2020[10]).
Die Mobilität ist bei Mieter*innen, die zum Marktpreis mieten, am höchsten und bei Eigentümer*innen ohne Hypothek am geringsten. Mieter*innen von Sozialwohnungen und Wohngeldbezieher*innen sind in der Regel weniger mobil als Mieter*innen auf dem privaten Wohnungsmarkt.
Die auf den Wohnstatus zurückzuführenden Mobilitätsunterschiede sind in allen Ländern beträchtlich: Privatmieter*innen sind in den EU-Ländern der OECD im Durchschnitt beispielsweise 5,6-mal so mobil wie Eigentümer*innen ohne Hypothek. In den Vereinigten Staaten, die dieser Studie zufolge eine der höchsten Mobilitätsraten aufweisen, fällt der wohnstatusspezifische Unterschied ebenfalls sehr groß aus. Mieter*innen auf dem privaten Wohnungsmarkt sind etwa dreimal so mobil wie Eigentümer*innen ohne Hypothek.
Mit Politikmaßnahmen die Wohnmobilität fördern
Die Transaktionskosten für Wohnimmobilien senken
Eine Senkung der politikinduzierten Transaktionskosten für Wohnimmobilien fördert die Wohnmobilität. Einmalige Verkehrsteuern, die beim Kauf und Verkauf von Immobilien anfallen, beeinträchtigen die Wohnmobilität, insbesondere bei jungen Haushalten, da sie für Ersterwerber*innen zumeist gravierender sind. Die mit Immobilientransaktionen verbundenen Notargebühren, die in einigen Ländern beim Kauf oder Verkauf von Immobilien zu entrichten sind, behindern die Wohnmobilität ebenfalls. Eine Umstellung der Wohnimmobilienbesteuerung von einmaligen auf laufende Steuern – beispielsweise jährliche Steuern auf unbewegliches Vermögen – kann daher maßgeblich zur Wohnmobilität beitragen.
Politiksimulationen deuten in der Tat darauf hin, dass sich die Wohnmobilität durch eine Umstellung von einmaligen Abgaben auf laufende Steuern erhöhen würde (Abbildung 6.5). In einigen Ländern wurden vor Kurzem Reformen zur Senkung der Verkehrsteuern auf Wohnimmobilien durchgeführt (Kasten 6.2).
Kasten 6.2. Jüngste Reformen zur Senkung der Transaktionskosten
Das Vereinigte Königreich schaffte 2017 die Stempelgebühr (Verkehrsteuer) für Ersterwerber*innen von Wohneigentum bis zu einem Verkaufspreis von 300 000 GBP in England und Wales ab.
In Irland wurde die Stempelgebühr bei einem Immobilienwert von bis zu 1 Mio. EUR von 9 % auf 1 % und bei einem Immobilienwert von über 1 Mio. EUR auf 2 % gesenkt. Gleichzeitig wurden alle bestehenden Erleichterungen und Ausnahmen bei der Stempelgebühr auf Wohnimmobilien abgeschafft. 2013 schloss die Regierung diese Reformen durch die Einführung einer laufenden Immobiliensteuer in Höhe von 0,18 % auf alle Wohnimmobilien im Wert bis zu 1 Mio. EUR und 0,25 % auf Immobilien über 1 Mio. EUR ab.
Australien ging im Rahmen der Reform von 2014, in der das Hauptstadtterritorium (Capital Territory) die Verkehrsteuer senkte, die Versicherungssteuer abschaffte und die Grundsteuer erhöhte, von einer einmaligen zu einer laufenden Immobilienbesteuerung über.
Die Niederlande haben die Verkehrsteuer für Wohnimmobilien 2012 von 6 % auf 2 % gesenkt. Die Reform wurde finanziert, indem die Steuerbefreiung für arbeitsbezogene Fahrtkostenzuschüsse, einschließlich der Steuerbefreiung für Privatfahrten in Firmenwagen, abgeschafft wurde.
Hindernisse für ein bedarfsgerechtes Wohnungsangebot beseitigen
Die Wohnmobilität ist größer, wenn das Wohnungsangebot stärker auf Nachfrageveränderungen reagiert. Die Reagibilität des Wohnimmobilienangebots hängt von regionalen Merkmalen und Politikmaßnahmen ab, insbesondere den Flächennutzungs- und Bebauungsvorschriften, die die Bereitstellung von Flächen und Wohnraum für verschiedene Nutzungszwecke beeinflussen (Kapitel 2). Restriktive Vorschriften führen im Allgemeinen zu großen regionalen Immobilienpreisunterschieden und halten Haushalte davon ab, von preisgünstigen Regionen in Regionen mit höheren Preisen zu ziehen, in denen die Beschäftigungschancen und Ausbildungsangebote in der Regel besser sind. Dies kann sowohl die Ressourcenallokation als auch die soziale Mobilität beeinträchtigen.
Simulationen zeigen, dass politische Reformen, die die Reagibilität des Wohnimmobilienangebots stärken, maßgeblich zu einer höheren Wohnmobilität beitragen können (Abbildung 6.5). Mehrere OECD-Länder haben in letzter Zeit solche Reformen durchgeführt. Die Niederlande z. B. haben 2018 das Genehmigungsverfahren vereinfacht und einige Auflagen für Wohnungsunternehmen, die den privaten Mietwohnungsmarkt ins Auge fassen, abgeschafft. Außerdem erhalten die Kommunen zunehmend mehr Kompetenzen, was die Bauleitplanung und die Planung auf dem privaten Mietwohnungsmarkt betrifft. In Schweden wurden 2016 ebenfalls Schritte in diese Richtung unternommen, als die Regierung einen Gesetzentwurf für ein effizienteres Planungssystem vorlegte und eine auf der Zahl der Baugenehmigungen basierende Unterstützung für die Kommunen einführte.
Das Wohnraumangebot kann auch Auswirkungen auf die ökonomischen Anreize für interregionale Migration und folglich auch auf die Allokation von Arbeitskräften innerhalb eines Landes haben (Causa, Cavalleri und Luu, 2021[9]; Causa, Abendschein und Cavalleri, 2021[8]). Ein flexibles Wohnungsangebot ermöglicht es Menschen, auf das lokale Pro-Kopf-BIP und regionale Arbeitslosigkeit zu reagieren. Dies kann zu einem besseren Matching von Arbeitskräften und Arbeitsplätzen, zum Abbau lokaler Ungleichgewichte und zu einer größeren Flexibilität im Fall lokaler Schocks beitragen. Der Abbau politikinduzierter Hindernisse für ein bedarfsgerechtes Wohnungsangebot, z. B. durch eine Reform der Entscheidungsbefugnisse im Bereich der Raumplanung, kann die Teilhabe verbessern. Damit haben Menschen Zugang zu besseren Arbeitsplätzen und das Risiko, dass Menschen in strukturschwachen Regionen verharren müssen, wird reduziert. In den Vereinigten Staaten wurde festgestellt, dass die wachsenden regionalen Unterschiede bei den Wohnimmobilienpreisen insbesondere geringqualifizierte Arbeitskräfte davon abhalten, in Metropolregionen zu ziehen (Causa, Cavalleri und Luu, 2021[9]; Bayoumi und Barkema, 2019[11]). Die eingeschränkten regionalen Mobilitätschancen einiger sozioökonomischer Gruppen können das Wachstum und die Teilhabe beeinträchtigen (Hsieh und Moretti, 2019[12]).
Kasten 6.3. Einfluss der Wohnsituation auf die interregionale Migration
Die interregionale Migration ist in den letzten Jahrzehnten in mehreren OECD-Ländern zurückgegangen. Dieser Rückgang wird auf die sinkenden wirtschaftlichen Erträge der Migration zurückgeführt, für die u. a. die steigenden Wohnkosten verantwortlich sind (Bayoumi und Barkema, 2019[11]). Die durch einen Umzug zu erwartenden Einkommenszuwächse reichen nicht mehr aus, um die steigenden Wohnkosten zu decken, insbesondere bei Arbeitskräften am unteren Ende der Lohn- und Kompetenzverteilung.
Jüngere Arbeiten der OECD (Causa, Abendschein und Cavalleri, 2021[8]; Causa, Cavalleri und Luu, 2021[9]) auf der Basis länderübergreifender und länderspezifischer Regressionsanalysen zeigen, dass wirtschaftliche und wohnungsbezogene Faktoren die Richtung und Intensität interregionaler Migrationsbewegungen beeinflussen. Ein hohes Pro-Kopf-BIP und niedrige regionale Arbeitslosenquoten ziehen Zuwanderer*innen an, während hohe regionale Wohnimmobilienpreise mit weniger Zuwanderung verbunden sind. Hohe oder steigende regionale Wohnimmobilienpreise beeinträchtigen die wirtschaftliche Attraktivität einer Region. Bei einem 10%igen Anstieg der Wohnimmobilienpreise in einer Region verringert sich die Zuwanderung beispielsweise um durchschnittlich 3 %.
Zugleich können hohe Wohnimmobilienpreise in einer Region zu Abwanderungsbewegungen führen. Manche – insbesondere benachteiligte soziale Gruppen – verlassen eine Region, weil sie sich keine dauerhafte oder angemessene Unterkunft leisten können. In einigen europäischen Ländern geht die zunehmende Abwanderung, insbesondere junger Familien, aus großen städtischen Ballungsgebieten mit einem Anstieg des interregionalen Berufsverkehrs einher. Dieser Trend wird durch die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und den Anstieg der Wohnkosten und Staus in den großen Metropolregionen verstärkt. Regionen, in denen die Immobilienpreise schneller steigen, weisen stärkere Abwanderungsbewegungen auf: Ein 10%iger Anstieg der Wohnimmobilienpreise geht im Durchschnitt mit einer Zunahme der Abwanderung um 1,5 % einher. Der negative Effekt der Wohnimmobilienpreise auf die Zuwanderung ist größer als der positive Effekt auf die Abwanderung. Steigende Wohnungspreise können also mit der Zeit zu einem anhaltenden Bevölkerungsverlust in einer Region führen.
Die Relevanz und das Ausmaß des Wohnungspreiseffekts auf die Zu- und Abwanderung variieren von Land zu Land (Abbildung 6.6). Wohnungspreise haben einen stärkeren Effekt auf interne Wanderungsbewegungen, wenn sie stärker ansteigen (wie in Schweden, der Schweiz, Australien und Kanada) oder wenn die regionalen Unterschiede bei den Wohnkosten besonders groß sind (z. B. in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich).
Wohnungspolitische Maßnahmen können die Entwicklung der regionalen Wohnimmobilienpreise beeinflussen und haben damit direkte Auswirkungen auf die interregionalen Migrationsbewegungen. Sie können allerdings auch indirekte Effekte nach sich ziehen, denn sie beeinflussen, wie stark die Migration auf andere wirtschaftliche Faktoren reagiert. Wenn das Wohnungsangebot flexibler ist, reagiert die interregionale Migration z. B. schneller auf lokale wirtschaftliche Gegebenheiten wie Pro-Kopf-BIP und Arbeitslosigkeit. Im Gegensatz dazu sind strengere mietrechtliche Bestimmungen, die eine Mietpreisbegrenzung und einen besseren Mieterschutz umfassen, mit einer geringeren Reagibilität der interregionalen Migration gegenüber lokalen Arbeitsmarktbedingungen assoziiert.
Übermäßig strenge mietrechtliche Bestimmungen reformieren
Die Wohnmobilität ist schwächer, wenn die mietrechtlichen Bestimmungen in Bezug auf Mietpreisbegrenzung und Mieterschutz strenger sind. Mieter*innen von Wohnungen mit Mietpreisbegrenzung zögern häufig, auszuziehen und ihre unter dem Marktwert gemietete Wohnung aufzugeben. Dabei sind einkommensschwache Haushalte sowie Haushalte mit niedrigen und mittleren Bildungsabschlüssen unverhältnismäßig stark von Mietpreisbegrenzung und Mieterschutz betroffen. Zu restriktive mietrechtliche Bestimmungen können für diese sozialen Gruppen, die ohnehin die geringste Mobilität aufweisen, ein nicht intendiertes, zusätzliches Mobilitätshindernis darstellen. Wenn die Mieten nicht mit den Bedingungen an den Wohnimmobilienmärkten im Einklang stehen, haben Eigentümer*innen weniger Anreize, ihren Wohnraum zu vermieten. Dadurch schrumpft der Mietwohnungsmarkt (Kapitel 3), was sich negativ auf die Erschwinglichkeit von Wohnraum auswirken kann. Außerdem sind gefährdete Arbeitskräfte, wie diejenigen in nichtregulären Beschäftigungsverhältnissen, und insbesondere junge Menschen, bei einem übermäßigen Mieterschutz besonders benachteiligt.
Politiksimulationen deuten darauf hin, dass die Wohnmobilität durch eine ausgewogenere Berücksichtigung der Interessen der Eigentümer- und Mieterseite in den mietrechtlichen Bestimmungen und eine weniger strenge Mietpreisbegrenzung gefördert werden kann (Abbildung 6.7). Die meisten OECD-Länder haben die mietrechtlichen Bestimmungen in den letzten zehn Jahren vermieterfreundlicher gestaltet, insbesondere Österreich und Finnland. Zugleich wurde aber häufig die Mietpreisbegrenzung verschärft. Diesbezüglich gibt es nur wenige Ausnahmen, namentlich die Tschechische Republik, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten, wo die Begrenzung sogar gelockert wurde.
Eine Lockerung einer übermäßig strengen Regulierung des Mietwohnungsmarkts kann die Mobilität zwar fördern, Reformen in diesem Bereich können jedoch auch zu Zielkonflikten führen. Zu strenge mietrechtliche Bestimmungen können einen negativen Effekt auf den Neubau und die Instandhaltung von Mietwohnungen haben, wenn sie eine Deckelung der Mieten vorsehen. Solche Regelungen haben das legitime Ziel, dem asymmetrischen Kräfteverhältnis zwischen Vermieter*innen und Mieter*innen entgegenzuwirken. Dies ist im gegenwärtigen Kontext, in dem Zwangsräumungen von in finanzielle Not geratenen Haushalten verhindert werden sollten, besonders wichtig.1 Als Reaktion auf die Covid-19-Krise haben mehrere Länder die Regulierung des Mietwohnungsmarkts vorübergehend verschärft; in den meisten Fällen durch eine vorübergehende Aussetzung von Zwangsräumungen und in manchen Fällen durch eine Senkung oder Stundung der Mietzahlungen für sozial schwache Mieter*innen (Kasten 1.6 in Kapitel 1).
In sozialen Wohnraum investieren
Die Wohnmobilität ist von der Höhe und der Ausgestaltung der Geld- und Sachleistungen abhängig, insbesondere bei Mieter*innen und Geringverdiener*innen. Sowohl Wohnungsbeihilfen (d. h. Wohngeld) als auch Sozialwohnungen sind mit einer höheren Mobilität verbunden. Mieter*innen von Sozialwohnungen sind jedoch weniger mobil als Mieter*innen auf dem privaten Wohnungsmarkt (Abbildung 6.3), weil der Anspruch auf Sozialwohnungen nur begrenzt übertragbar ist und dadurch Lock-in-Effekte entstehen.
Politiksimulationen deuten darauf hin, dass höhere Sozialausgaben für Wohnraum, vor allem Transferzahlungen (z. B. Wohngeld) und Sachleistungen (z. B. Sozialwohnungen), die Wohnmobilität fördern würden (Abbildung 6.7). Wie in Kapitel 2 dargelegt, sind die Sozialausgaben für Wohnraum, die vor allem auf die Erschwinglichkeit von Wohnraum und Teilhabe abzielen, in vielen Ländern im Lauf der Zeit zurückgegangen. Länder wie Belgien, Kanada, Luxemburg und Neuseeland haben allerdings Maßnahmen ergriffen, um das Angebot zu erhöhen oder den Sozialwohnungsbestand zu renovieren. Wenn die Anspruchsvoraussetzungen so ausgestaltet sind, dass Lock-in-Effekte vermieden werden, können solche Reformen für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen und benachteiligten Haushalten zugleich den Umzug in eine andere Region erleichtern.
Literaturverzeichnis
[11] Bayoumi, T. und J. Barkema (2019), „Stranded! How Rising Inequality Suppressed US Migration and Hurt Those Left Behind“, IMF Working Papers, Vol. 2019/122, Internationaler Währungsfonds, Washington, D.C., https://doi.org/10.5089/9781498311373.001.
[3] Blanchflower, D. et al. (2013), „Does High Home-Ownership Impair the Labor Market?“, NBER Working Papers, No. 19079, National Bureau of Economic Research, Cambridge, MA, https://dx.doi.org/10.3386/w19079.
[2] Caldera Sánchez, A. und D. Andrews (2011), „Residential Mobility and Public Policy in OECD Countries“, OECD Journal: Economic Studies, Vol. 2011/1, S. 185–206, https://doi.org/10.1787/eco_studies-2011-5kg0vswqt240.
[8] Causa, O., M. Abendschein und M. Cavalleri (2021), „The laws of attraction: Economic drivers of inter-regional migration, housing costs and the role of policies“, OECD Economics Department Working Papers, No. 1679, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/da8e368a-en.
[9] Causa, O., M. Cavalleri und N. Luu (2021), „Migration, housing and regional disparities: A gravity model of inter-regional migration with an application to selected OECD countries“, OECD Economics Department Working Papers, No. 1691, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/421bf4aa-en.
[10] Causa, O. und J. Pichelmann (2020), „Should I stay or should I go? Housing and residential mobility across OECD countries“, OECD Economics Department Working Papers, No. 1626, OECD Publishing, Paris, https://dx.doi.org/10.1787/d91329c2-en.
[6] Chetty, R., N. Hendren und L. Katz (2016), „The Effects of Exposure to Better Neighborhoods on Children: New Evidence from the Moving to Opportunity Experiment“, American Economic Association Review, Vol. 106/4, S. 855–902, https://doi.org/10.1257/aer.20150572.
[12] Hsieh, C. und E. Moretti (2019), „Housing Constraints and Spatial Misallocation“, American Economic Journal: Macroeconomics, Vol. 11/2, S. 1–39, http://dx.doi.org/10.1257/mac.20170388.
[5] Judge, L. (2019), „Moving Matters: Housing costs and labour market mobility“, Briefing, Resolution Foundation, London, https://www.resolutionfoundation.org/app/uploads/2019/06/Moving-Matters.pdf.
[7] OECD (2020), Housing and Inclusive Growth, OECD Publishing, https://www.oecd.org/fr/social/housing-and-inclusive-growth-6ef36f4b-en.htm.
[1] Oswald, A. (1996), „A Conjecture on the Explanation for High Unemployment in the Industrialized Nations: Part 1“, Warwick Economic Research Paper, No. 475, University of Warwick, Department of Economics, http://wrap.warwick.ac.uk/1664/1/WRAP_Oswald_475_twerp_475.pdf.
[4] Weltbank (2018), Living and Leaving: Housing, Mobility and Welfare in the European Union, Weltbank, Washington, D.C., https://pubdocs.worldbank.org/en/507021541611553122/Living-Leaving-web.pdf.
Anmerkung
← 1. Neue OECD-Daten in der Affordable Housing Database zeigen, dass in den 18 OECD-Ländern, für die Daten vorliegen, mindestens 3 Millionen formelle Zwangsräumungsverfahren eingeleitet wurden. Vgl. Affordable Housing Database - OECD.