Dieses Kapitel beschreibt die wichtigsten Überlegungen und Schritte, die eine Wettbewerbsbehörde unternehmen muss, um Gender bei ihrer täglichen Arbeit zu berücksichtigen. Es wird erläutert, wie wichtig es ist, disaggregierte Daten zu erheben, um zu verstehen, wann und wie verschiedene Personengruppen geschädigt werden und wie der Einsatz von Umfragen einen besseren Einblick in das Verbraucher:innenverhalten geben kann. Es wird aufgezeigt, wie Gender bei der Marktdefinition und der Analyse der Auswirkungen auf den Wettbewerb, bei Kartelluntersuchungen, bei Compliance und Advocacy, bei der Festlegung von Prioritäten bei Entscheidungen und bei der Ex-post-Bewertung berücksichtigt werden kann. Schließlich wird in diesem Kapitel erörtert, dass Abhilfemaßnahmen darauf zugeschnitten sein müssen, den Schaden für eine bestimmte benachteiligte Gruppe zu korrigieren oder auszugleichen. Es wird betont, dass die gezielte Einbindung von Stakeholdern der Schlüssel zur Gewährleistung von Inklusion ist. Diversität und Inklusion sollten auf institutioneller Ebene berücksichtigt werden, um die Entscheidungsfindung zu verbessern. Am Ende dieses Kapitels findet sich eine Checkliste für ein genderinklusives Wettbewerbsrecht und eine genderinklusive Wettbewerbspolitikpolitik (Anhang A).
Toolkit für genderinklusiven Wettbewerb
3. Die wichtigsten Erkenntnisse
Abstract
Die aus der OECD-Arbeit zum genderinklusiven Wettbewerb hervorgegangenen Forschungsergebnisse haben zu folgenden wesentlichen Erkenntnissen geführt:
Gender ist ein weiteres wichtiges Merkmal, das bei der Wettbewerbsanalyse berücksichtigt werden sollte.
Eine Analyse unter Berücksichtigung des Gender1 liefert den Wettbewerbsbehörden Informationen, um bessere und maßgeschneiderte Entscheidungen zu treffen.
Eine Analyse unter Berücksichtigung des Gender ist vor allem auf jenen Märkten relevant, auf denen Produkte für Endverbraucher:innen angeboten werden.
Disaggregierte Daten sind für eine Analyse unter Berücksichtigung des Gender von entscheidender Bedeutung. Ohne disaggregierte, das Gender berücksichtigende Daten lässt sich nicht feststellen, ob es genderspezifische Auswirkungen gibt oder nicht. Die Daten sollten so weit disaggregiert werden, dass sie das Gender erkennen lassen und gleichzeitig andere Identifikatoren schützen.
Aufbauend auf dem Konzept der doppelten Dividende2 können Abhilfemaßnahmen, die genderspezifische Aspekte berücksichtigen, nicht nur die Wettbewerbsergebnisse verbessern, sondern auch dazu beitragen, Ungleichheiten zwischen den Gendern auf den Märkten zu beseitigen.
Unterschiedliche genderspezifische Auswirkungen sind möglicherweise nicht sofort ersichtlich. Eine weitergehende Analyse der Märkte, einschließlich der Marktdefinition, des Verhaltens und der Unternehmen, kann erforderlich sein.
Eine Analyse von Fusionen unter Berücksichtigung des Gender könnte schlechtere Ergebnisse für weibliche Verbraucher oder von Frauen geführte Unternehmen aufzeigen.
Genderdiversität kann eine wichtige Variable geheimer Absprachen darstellen, da sich Kartelle eher in homogenen Gruppen mit wiederholten formellen oder informellen Interaktionen bilden.
Hinsichtlich Kartellen sollten die Bemühungen in Bezug auf Compliance und zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit auch Diskussionen darüber beinhalten, warum wiederholte Interaktionen zwischen homogenen Gruppen für Unternehmen ein erhöhtes Risiko für Kartellverhalten darstellen.
Diversität kann die Wettbewerbsbehörden stärken.
Wenn die Wettbewerbsbehörden Erwägungen im Allgemeininteresse anstellen können, sollte auch das Gender berücksichtigt werden.
Daten
Eine verlässliche Analyse hängt von der Qualität und dem Umfang der erhobenen Daten ab. Nach Gender disaggregierte Daten ermöglichen es den Behörden festzustellen, ob das Gender tatsächlich ein zu berücksichtigender Faktor ist oder nicht.
Arten von Daten und Datenquellen
Die Wettbewerbsbehörden benötigen nach Gender disaggregierte Daten, um zu verstehen, ob, wann und wie verschiedene Personengruppen, einschließlich Frauen, unverhältnismäßig stark geschädigt werden könnten. Nach Gender disaggregierte Daten sind ein guter Ansatzpunkt. Ein breiterer Datensatz ist jedoch noch besser, da zusätzliche demografische Daten verwendet werden können, um für andere Merkmale zu kontrollieren.
In Hinblick auf Daten, z.B. in Bezug auf die Zusammenschlusskontrolle oder auf Monopolverhalten, gibt es vier Hauptinformationsquellen: Daten auf Transaktionsebene, andere Informationen von den Parteien des Zusammenschlussverfahrens, öffentlich zugängliche Daten, die über Websites gesammelt werden und Umfragedaten. Diese sind für die Wettbewerbsanalyse auf allen verbraucher:innennahen Märkten von Bedeutung. Diese Quellen, die in Abbildung 1 zusammengefasst sind, können genutzt werden, um relevante Produktmerkmale, die Identität der Verbraucher:innen und das Verbraucher:innenverhalten zu verstehen.
Nützliche Daten, die Gender berücksichtigen, können auch von anderen Exekutivorganen zur Verfügung gestellt werden. Die Wettbewerbsbehörden können auch andere Behörden konsultieren, um herauszufinden, ob diese Daten verwenden, die Gender berücksichtigen oder Überlegungen unter Berücksichtigung des Gender in ihre Arbeit einfließen lassen.
In einigen Fällen, in denen keine Daten, die Gender berücksichtigen, verfügbar sind, können die Behörden Rückschlüsse auf das Gender der Verbraucher:innen ziehen. Derartige Rückschlüsse sind nicht so präzise wie die Erhebung spezifischer Daten, die Gender berücksichtigen, können aber ein guter Anhaltspunkt für eine erste Analyse sein. Die Wettbewerbsbehörden können Informationen über Produktmerkmale, Produktmarketing und Produktvertriebskanäle anfordern, indem sie ihre obligatorischen Informationsbeschaffungsinstrumente nutzen. Diese Informationen können auch öffentlich zugänglich sein. Die Behörden können auch zusätzliche online verfügbare Informationen heranziehen, z. B. das Profil von Online-Bewerter:innen, um festzustellen, ob sie hauptsächlich einem Gender angehören. Schließlich können Behörden, die über die entsprechenden Mittel verfügen, Vorhersagetools3 einsetzen, um aus Namen auf das Gender zu schließen, wenn dieses ansonsten nicht offensichtlich ist.
Die Wettbewerbsbehörden können auch dazu beitragen, Daten für die künftige Forschung über die Überschneidung von Gender und Wettbewerb zu sammeln. Wann immer es möglich ist, könnten die Behörden das Gender in den veröffentlichten Entscheidungen berücksichtigen und die (formellen und informellen) zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Personen, die an Kartellen beteiligt waren, erläutern.
Umfragen
Umfragen können genutzt werden, um das Verbraucher:innenverhalten besser zu verstehen und können Faktoren wie:
welche Produkteigenschaften am meisten geschätzt werden,
Unterschiede in der Kaufhäufigkeit und in der Kaufmenge,
Preissensibilität und Preisbewusstsein und
allgemeine Wechselaktivität
berücksichtigen. Umfragen können auch Daten für Analysen, die Gender berücksichtigen, sammeln, indem sie Fragen speziell zum Gender enthalten. Die Erhebung eines breiteren Spektrums von Daten ermöglicht es einer Behörde, sich auf bestimmte Merkmale zu konzentrieren, für Identitätsfaktoren zu kontrollieren und so zu bestätigen, ob ein Effekt auf einem Markt auf das Gender oder einen anderen Identitätsfaktor zurückzuführen ist. Darüber hinaus stellt die Anpassung der Erhebungen an die Erfordernisse der Überprüfung oder Untersuchung sicher, dass die Behörden die richtigen Daten erheben. Wenn das Gender zu Beginn der Erhebung erfasst wird, können die Ergebnisse anschließend nach Gender analysiert und verglichen werden, um festzustellen, ob es Unterschiede gibt.
Es kann Unterschiede zwischen offenbarten und angegebenen Präferenzen geben. Dies kann die Antworten im Rahmen der Umfrage beeinflussen, weshalb es es wichtig ist, Fragen einzubeziehen, die beides offenlegen, wie z. B. Fragen zu früheren Praktiken und hypothetischen Situationen.
Marktdefinition und wettbewerbswidriges Verhalten
Marktdefinition und Analyse der Auswirkungen auf den Wettbewerb
Eine Marktdefinition und die Analyse der Auswirkungen auf den Wettbewerb unter Berücksichtigung von Gender hilft den Wettbewerbsbehörden zu verstehen, wer von wettbewerbswidrigem Verhalten betroffen ist und in welchem Maße. Es ist dann möglich zu beurteilen, ob eine Gruppe von Verbraucher:innen besser gestellt ist als eine andere und ob dies korrigiert oder verhindert werden muss. Gender kann:
Verbraucher:innenpräferenzen, z. B. ob ein:e Verbraucher:in ein Produkt als komplementär oder substituierbar ansieht,
Preissensibilität oder
Wechselaktivität beeinflussen.
Angebots- und nachfrageseitige Faktoren
Angebots- und nachfrageseitige Faktoren können für eine Analyse der Wettbewerbsauswirkungen unter Berücksichtigung des Gender herangezogen werden. Diese Faktoren sind für die Marktdefinition und die Analyse der Auswirkungen auf den Wettbewerb relevant. Die Wettbewerbsbehörden können sowohl angebots- als auch nachfrageseitige Faktoren berücksichtigen, wenn sie eine Betrachtungsweise unter Berücksichtigung des Gender anwenden.
Zu den angebotsseitigen Faktoren gehören Produkteigenschaften, Produktmarketing und Produktvertriebskanäle, um festzustellen, ob die Unternehmen auf ein bestimmtes Gender abzielen.
Auch sind wichtige nachfrageseite Faktoren zu berücksichtigen, wie z. B. die Identität der Verbraucher:innen und die Frage, ob Verbraucher:innen ein unterschiedliches Verhalten an den Tag legen.
Rahmen für die Bewertung der Fähigkeit von Unternehmen, nach Gender zu differenzieren
Die Wettbewerbsbehörden können auch beurteilen, inwieweit die Unternehmen in der Lage sind, zwischen Verbraucher:innengruppen zu differenzieren, wie groß diese Gruppen sind und inwieweit sie nach einer Preiserhöhung zu anderen Anbietern wechseln. Der folgende Rahmen zeigt, ob die Unternehmen zwischen den Gendern differenzieren können.
Das obige Diagramm erläutert die möglichen Auswirkungen, wenn ein Unternehmen in der Lage ist, nach Gender zu differenzieren. Trifft das auf ein Unternehmen zu, müssen die Wettbewerbsbehörden prüfen, ob das Unternehmen in der Lage ist, nach Produkt oder Preis zu differenzieren. Wenn dies der Fall ist, kann es getrennte relevante Märkte oder getrennte relevante Auswirkungen geben. In diesem Fall kann Gender als eine der Variablen einbezogen werden, die bei der Bewertung der Auswirkungen auf den Wettbewerb zu berücksichtigen sind.
Ist ein Unternehmen nicht in der Lage, nach Gender zu differenzieren, sollten die Wettbewerbsbehörden prüfen, ob das Unternehmen in der Lage ist, die Preise für alle Verbraucher:innen rentabel zu erhöhen. Dies hängt von der Größe der Gruppen (d. h. der Anzahl der männlichen und weiblichen Verbraucher:innen) und ihrer jeweiligen Preisempfindlichkeit ab. Wenn die preisempfindlichere Gruppe groß genug ist, kann sie die anderen vor nachteiligen Wettbewerbsfolgen schützen. In der Praxis müssen die Behörden Faktoren wie die Substituierbarkeit von Untergruppen von Verbraucher:innen bewerten und dies dann mit den Verbraucher:innen insgesamt vergleichen.
Die Durchführung des SSNIP-Tests4 und der Analyse der kritischen Verluste für jede einzelne Gruppe kann beispielsweise dazu dienen, den Markt zu definieren und die Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf die verschiedenen Verbraucher:innengruppen zu bestimmen. Wie bereits erwähnt, kann eine Analyse unter Berücksichtigung des Gender durchgeführt werden, wenn Daten verfügbar sind. In der Praxis bedeutet dies, dass Männer und Frauen getrennt und dann insgesamt betrachtet werden sollten, um festzustellen, ob die Unternehmen die Preisrentabilität nach dem Zusammenschluss erhöhen können. Diese können dann gewichtet werden, um die Größe der Gruppen widerzuspiegeln; die Analyse sollte sich jedoch an der Vielfalt der Stichprobe und nicht an der Vielfalt der Grundgesamtheit orientieren. Die Ergebnisse sollten zeigen, ob ein Unternehmen in der Lage ist, die Preise für einige oder alle Verbraucher:innen zu erhöhen.
Ein weiteres Instrument zur Bewertung der Wechselaktivität je nach Gender sind Diversion Ratios. Wenn unterschiedliche Diversion Ratios vorliegen, könnten die Wettbewerbsbehörden untersuchen, ob das Unternehmen in der Lage ist, sein Angebot nach Gender zu differenzieren. Wenn die Unternehmen unterschiedliche Preise für verschiedene Gruppen anwenden können, sollten die Auswirkungen von Zusammenschlüssen nach Gender untersucht werden. Wenn die Unternehmen keine unterschiedlichen Preise für verschiedene Gruppen anwenden können, hängt es von der Größe der Gruppen und ihrer jeweiligen Preisempfindlichkeit ab, ob eine Gruppe in der Lage ist, die andere zu schützen. Wenn eine Gruppe eine andere schützt, brauchen die Behörden keine gesonderten Wettbewerbsauswirkungen oder Abhilfemaßnahmen zu prüfen.
Die Wettbewerbsbehörden können disaggregierte Daten analysieren, um festzustellen, ob Gender der treibende Faktor für unterschiedliche Präferenzen und Preiselastizitäten der Nachfrage ist, die zu einem unterschiedlichen Wechselaktivität führen. Dies kann je nach dem zu untersuchenden oder zu prüfenden Produkt oder der zu prüfenden Dienstleistung unterschiedlich sein, wird aber in einigen Fällen zu nach Gender segmentierten Märkten führen. Wenn genderspezifische Daten verfügbar sind, können die Wettbewerbsbehörden ihre übliche Analyse durchführen, allerdings für Männer und Frauen getrennt und dann für alle Verbraucher:innen zusammengenommen.
Genderspezifische Märkte und Fallstudien
Auswirkungen aufgrund des Gender gibt es in vielen Sektoren wie Spielzeug, Kleidung, Körperpflegeprodukte, Gesundheitsprodukte, chemische Reinigung, Frisördienstleistungen, Versicherungen und Finanzprodukte. In diesen Sektoren ist es wahrscheinlicher, dass die Märkte nach Gender segmentiert sind und unterschiedliche Auswirkungen auf den Wettbewerb haben. Wenn die Wettbewerbsbehörden nicht über die Kapazitäten oder Ressourcen verfügen, um bei der Festlegung der Marktdefinition und der Analyse der Auswirkungen auf den Wettbewerb systematisch das Gender zu berücksichtigen, eignen sich die oben genannten Märkte für eine Analyse unter Berücksichtigung des Gender, da sie bekanntermaßen Auswirkungen auf das Gender haben.
Wenn die Wettbewerbsbehörden über die erforderlichen Kapazitäten und Ressourcen verfügen, ist es am besten, eine Analyse unter Berücksichtigung des Gender durchzuführen, wann immer dies relevant ist und Daten zur Verfügung stehen. Die Analyse früherer Erhebungen im Zusammenhang mit Zusammenschlüssen und Marktstudien zeigt, dass es erhebliche genderbedingte Unterschiede in Bezug auf Substitution, Verbraucher:innenpräferenzen und Wechselaktivität geben kann. Die Märkte, die Gegenstand dieser Analyse sind, wiesen keine offensichtlichen genderspezifischen Unterschiede auf, bis das Verbraucher:innenverhalten untersucht wurde. In diesen Fallstudien wurden drei Bereiche des Verbraucher:innenverhaltens untersucht, die für die Marktanalyse relevant sind. Diese Bereiche sind: die Preissensibilität, die Präferenzen für Substitute und die Wechselbereitschaft.
Abhilfemaßnahmen
Zeigen die oben beschriebenen Instrumente Unterschiede im Verhalten auf bestimmten Märkten auf, kann dies von den Wettbewerbsbehörden berücksichtigt werden, um das Ausmaß des Schadens für bestimmte Gruppen zu bestimmen und Abhilfemaßnahmen zu schaffen, um diesen Schaden zu korrigieren oder auszugleichen. Die Wettbewerbsbehörden können auch Abhilfemaßnahmen in Betracht ziehen, die auf das Wohlergehen der am stärksten benachteiligten Gruppen abzielen und dieses verbessern. Abhilfemaßnahmen, die genderspezifische Aspekte berücksichtigen, verbessern nicht nur die Wettbewerbsergebnisse, sondern können auch dazu beitragen, Ungleichheiten aufgrund des Gender auf den Märkten zu beseitigen. Bei der Entwicklung von Abhilfemaßnahmen sollten die Ansichten der Stakeholder, insbesondere der betroffenen Gruppen, berücksichtigt werden. Die Behörden könnten auch prüfen, ob es angemessen wäre, die vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen mit interessierten Stakeholdergruppen zu "testen".
Kartelle und Absprachen
Kartellbildung und Ermittlungen
Ein Verständnis des sozialen Kontextes der Kartellbildung und der Gruppendynamik kann eine genauere Bewertung der Anreize für den Eintritt in ein Kartell und den Verbleib darin ermöglichen. Die Homogenität der Eigenschaften der Kartellmitglieder kann die Kartellbildung erleichtern.5 Die gemeinsame Identität vermittelt ein Gefühl des Vertrauens und der Vorhersehbarkeit in der Gruppe, was die Kartellbildung erleichtert. In einer solchen Gruppe fällt es leichter zu glauben, dass sich jemand einheitlich verhält und der Gruppe gegenüber loyal ist. Männer und Frauen ähneln sich in Bezug auf die Faktoren, die eine Beteiligung an Wirtschaftskriminalität vorhersagen, unterscheiden sich aber in Bezug auf die Motivation und die Möglichkeiten, da Frauen von den von Männern dominierten informellen Netzwerken ausgeschlossen sind. Bisher gibt es jedoch keine zwingenden Beweise für die Annahme, dass Frauen nicht dasselbe tun würden, wenn die vorherrschenden Netzwerke im beruflichen Umfeld die von Frauen und nicht die von Männern wären.
Bei der Untersuchung und Befragung mutmaßlicher Kartellant:innen können die Wettbewerbsbehörden versuchen, das breitere Spektrum der Interaktionen und die Vorgeschichte der verdächtigen Personen zu verstehen. "Boys' Clubs" können Kartellverhalten über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten, da sie die Beziehungen zwischen den Mitgliedern verstärken und erleichtern. Diese Art von Beziehungen entstehen am Arbeitsplatz und in informellen Umgebungen.6 Die Wettbewerbsbehörden auch diese informellen Faktoren bei ihren Ermittlungen berücksichtigen.
Die Wettbewerbsbehörden könnten informellere Netzwerke wie Alumni-Vereinigungen, lokale Unternehmensgruppen, Sport- und Kulturvereine oder Wohltätigkeitsorganisationen untersuchen, in denen sich "Boys' Clubs" bilden können. Profile in den sozialen Medien und andere öffentliche Quellen (z.B. Alumni-Vereinigungen oder Wohltätigkeitsveranstaltungen) können einen Teil dieser Informationen liefern. Die Wettbewerbsbehörden sollten Genderdiversität berücksichtigen, wenn sie gegen Gruppen von Einzelpersonen ermitteln, die verdächtigt werden, sich an Kartellen zu beteiligen, und sie können die Genderdiversität von Teams innerhalb von Unternehmen als Teil der Compliance-Bemühungen erörtern (siehe folgender Abschnitt).
Compliance und Advocacy
Faktoren wie soziale Normen, persönliche Beziehungen und Gruppenzwang tragen zur Bildung und Aufrechterhaltung von Kartellen bei. Diese Faktoren hängen mit der Unternehmenskultur, aber auch mit der breiteren Branchenkultur zusammen. Die für Kartellverhalten am meisten gefährdeten Branchen weisen in der Regel dieselben Merkmale auf: bedeutende gesellschaftliche Ereignisse am Rande von Geschäftstreffen; homogenere Teilnehmer, die im Laufe der Zeit wiederholt und regelmäßig teilnehmen.
Die Wettbewerbsbehörden könnten sich direkt an die einschlägigen Wirtschaftsverbände dieser Risikobranchen wenden und ihnen die mit informellen Netzwerken und mangelnder Genderdiversität verbundenen Compliance-Risiken erläutern. Unternehmen, die sich dafür entscheiden, ihre Vertreter:innen auszutauschen und für mehr Vielfalt zu sorgen, indem sie auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Gendern achten, können möglicherweise das Risiko von Kartellverhalten verringern.
Es gibt Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Männer und Frauen unterschiedlich mit Kronzeugenregelung und Whistleblowing umgehen (Tilton, 2018). Während Frauen Informationen möglicherweise eher extern, z. B. bei Exekutivorganan, offenbaren, tun Männer dies eher intern. Regelmäßige Interaktionen mit Netzwerken von Geschäftsfrauen können Einblicke in Sektoren mit genderbedingten Wettbewerbshindernissen geben und Möglichkeiten zur Förderung von Kronzeug:innen- und Straffreiheitsprogrammen bieten.
Institutionelle Gesichtspunkte
Vertretung
Viele der Gründe, die für Diversität auf Vorstandsebene sprechen, treffen auch auf Wettbewerbsbehörden zu. Entscheidungsfindungsprozesse profitieren von einer Vielfalt an Perspektiven, die wiederum zu einer besseren Verwaltung führen kann. Die Vertretung von Frauen und Männern auf verschiedenen Ebenen kann für eine Behörde von Vorteil sein, z.B. bei Behördenleiter:innen, Leiter:innen der wichtigsten operativen Einheiten, Ausschüsse oder Teams, die Prioritäten setzen und Projekte auswählen, und Teams für die Bearbeitung von Fällen.
Die Wettbewerbsbehörden können sich auch Gedanken darüber machen, wie sie nach außen hin vertreten sind und wer Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung erhält. Wenn man sich überlegt, wer welche Möglichkeiten erhält, trägt man dazu bei, einen vielfältigen Nachwuchs an Talenten zu gewährleisten. Abbildung 6 zeigt einige Optionen, die dabei helfen, die Repräsentation im Laufe der Zeit zu verfolgen und zu erhöhen.
Engagement und Kommunikation mit Stakeholdern
Selbst in genderparitätisch besetzten Teams wird es schwierig bleiben, vollständig zu verstehen, wie Männer und Frauen die verschiedenen Ergebnisse der Arbeit der Wettbewerbsbehörden erleben. Frauen sind auf den Märkten mit zusätzlichen Hindernissen konfrontiert und profitieren möglicherweise stärker von wettbewerbsorientierten Maßnahmen. Die gezielte Einbeziehung von Stekeholdern, z.B. von Frauenverbänden, wird auch dazu beitragen, einen Informationsfluss in beide Richtungen zu schaffen. Dieser könnte zu Beschwerden oder Hinweisen führen, die Durchsetzungs- oder Compliance-Maßnahmen zur Folge haben, die ihrerseits Verhaltensweisen addressieren, die diese Gemeinschaften betreffen. Die Behörden können eine Reihe von Möglichkeiten der Einbindung nutzen, von der gezielten Ansprache bestimmter Gruppen bis hin zu breit angelegten und umfassenden öffentlichen Konsultationen. Die Wettbewerbsbehörden können zum Beispiel:
Frauen in relevanten Märkten durch Umfragen oder Fokusgruppen ansprechen,
nach Unternehmensgruppen von Frauen auf dem betreffenden Markt suchen,
mehrere Zeitoptionen für öffentliche Veranstaltungen anbieten, die sowohl persönlich als auch virtuell besucht werden können,
Online-Möglichkeiten zur Beteiligung anbieten, z.B. eine spezielle Feedback-Website oder eine Hotline,
Ressourcen in mehreren Sprachen für Frauen zur Verfügung stellen, die möglicherweise einer Minderheit angehören.
Auch wenn nicht alle Behörden über ähnliche formale Befugnisse verfügen, können sie in der Phase der Informationsbeschaffung bei einer Überprüfung oder Untersuchung ähnliche Verfahren anwenden. Die internationale Zusammenarbeit kann diesen Ansatz weiter unterstützen.
Priorisierung
Die Wettbewerbsbehörden können das Gender derjenigen, die von wettbewerbswidrigen Handlungen betroffen sind, als zusätzlichen Faktor bei der Festlegung von Prioritäten berücksichtigen. So haben beispielsweise von Frauen geführte Unternehmen Schwierigkeiten, Zugang zu Finanzmitteln zu erhalten. Die Wettbewerbsbehörden können vorrangig Marktstudien auf den Finanzmärkten durchführen, um Hindernisse zu überprüfen und Empfehlungen auszusprechen, die den Wettbewerb verstärken und gleichzeitig die Eintrittsbarrieren für von Frauen geführte Unternehmen verringern würden.
Durchsetzungsprioritäten können auch die Genderstruktur der Unternehmen und sich an Branchen mit geringerer Vielfalt in Führungspositionen richten. So ist beispielsweise bekannt, dass es in der Baubranche7 eine Reihe von Problemen mit Compliance und Kartellen (z. B. Angebotsabsprachen) gibt und dass in diesem Bereich vorwiegend Männer tätig sind.8 Bei der Anwendung von Überlegungen, die das Gender berücksichtigen, sollten ähnliche Branchen in Bezug auf Compliance priorisiert werden.
Die Wettbewerbsbehörden können das Gender auch bei der Priorisierung von Marktstudien berücksichtigen. Anhand von Marktstudien können die Behörden feststellen, ob die für Frauen wichtigen Märkte gut funktionieren.9 Die Ausrichtung auf Dienstleistungen, die traditionell von unbezahlter weiblicher Arbeit erbracht werden, und auf andere Schlüsselmärkte für Frauen könnte zu mehr Wettbewerb führen und gleichzeitig Hindernisse abbauen, die Frauen von der Teilnahme an Märkten abhalten. Die OECD-Forschung hat Schlüsselsektoren für die Beteiligung von Frauen an den Märkten ermittelt, darunter Kinderbetreuung, Altenpflege, Infrastruktur und Finanzmärkte.
Ex-post Evalualuierung
Die Ex-post-Evaluierung ist ein wichtiges Instrument, um die Auswirkungen früherer Entscheidungen zu verstehen und festzustellen, ob sie mit den erwarteten Ergebnissen übereinstimmen. Die Ex-post-Bewertung ermöglicht es den Behörden zu verstehen, wie sich Faktoren wie Preise, Qualität, Vielfalt, Innovation und Marktzutritt im Laufe der Zeit verändert haben. Die Ex-post-Evaluierung kann helfen, die Entscheidungsfindung zu verbessern, die Wirksamkeit von Instrumenten zu bewerten, Annahmen zu überprüfen und die Gestaltung und Umsetzung von Abhilfemaßnahmen zu verbessern.
Die aus dem Evaluierungsprozess gezogenen Schlüsse können auch dazu dienen, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie die Genderfrage in der Vergangenheit einbezogen wurde. Die Ex-post-Evaluierung kann Ansätze und Analysemethoden aufzeigen, die für eine Analyse unter Berücksichtgung des Gender nützlich sind und in zukünftigen Angelegenheiten verwendet werden könnten. Diese Art der Bewertung ist nicht nur für Fälle gedacht. Sie kann auch für die Analyse von Beschwerden genutzt werden.
Wenn nur unzureichende Informationen über frühere Fälle, Beschwerden und Ressourcenanfragen vorliegen, wäre es lohnenswert, nach Möglichkeiten zu suchen, die Informationserfassung und -verfolgung in bestehende Prozesse zu integrieren. Dadurch könnten die für eine künftige Ex-post-Bewertung verfügbaren Informationen erweitert werden. Eine Möglichkeit ist die Aufnahme eines Abschnitts über Aspekte unter Berücksichtigung des Gender in Vorlagen (z. B. Dokumente und Personalunterlagen) und die Aufnahme von genderspezifischen und anderen Identitätsfaktoren in Formulare, so dass die Daten automatisch erfasst werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Management zu ermutigen, im Rahmen des Entscheidungsprozesses nach Aspekten, die Gender berücksichtigen, zu fragen (z. B. bei der Entscheidung, eine Angelegenheit zu untersuchen oder eine Marktstudie durchzuführen).
Zusammenarbeit
Weitergehende Forschung, politische Diskussionen und die Anwendung dieses Toolkits sind erforderlich, um das Verständnis einer genderinklusiven Wettbewerbspolitik zu verbessern. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen den Wettbewerbsbehörden und mit internationalen Organisationen kann den Wissensstand und die Entwicklung bewährter Verfahren verbessern, ähnlich wie dies in anderen Wettbewerbsbereichen, z. B. der Fusionskontrolle, bereits geschehen ist.
Die Wettbewerbsbehörden und ihre Regierungen können nach Möglichkeiten suchen, auf die Aufnahme genderspezifischer Verpflichtungen in einschlägige Empfehlungen, Absichtserklärungen und Vereinbarungen im Zusammenhang mit dem Wettbewerb sowie in Handelsabkommen hinzuwirken. Dies kann einen Rahmen für den laufenden Informationsaustausch über bewährte Verfahren zur Berücksichtigung der Gleichstellung bilden.
Anmerkungen
← 1. Für eine Definition von “gendered analysis” siehe: https://eige.europa.eu/gender-mainstreaming/methods-tools/gender-analysis.
← 2. OECD (Competition Policy and Gender, 2018, p. 33) erklärt, dass “by promoting competition in certain markets, competition authorities may reduce market distortions in a particular market (first dividend) and contribute to reduce gender inequality (second dividend).”
← 3. Siehe z.B. Malmasi, Shervin und Mark Dras ("A Data-driven Approach to Studying Given Names and their Gender and Ethnicity Associations" Proceedings of the Australasian Language Technology Association Workshop, 2014, pp. 145-149).
← 4. SSNIP-Tests werden verwendet, um den kleinsten Markt zu bestimmen, auf dem ein hypothetischer Monopolist eine kleine, aber signifikante, nicht transitorische Preiserhöhung (SSNIP, small but significant non-transistory increase in price) durchsetzen könnte..
← 5. Abate und Brunelle (Cartel behaviour and boys’ club dynamics: French cartel practice through a gender lens, 2021, p. 9) erklären, dass “[c]ommon identity bias refers to the fact that people belonging the one specific group usually prefer to work and interact with other people belonging to the same group”.
← 6. Abate und Brunelle (Cartel behaviour and boys’ club dynamics: French cartel practice through a gender lens, 2021, p. 11) erklären, dass “[a]t its core, a “boys’ club” is an organisation recruiting and selecting men who then create a circle of solidarity both horizontally, among peers, and vertically, through mentoring relationships between junior and more senior members. An essential element of this definition is the fact that “boys’ clubs” are based on relationships that are in no way confined to the boundaries of the employing company. Men belonging to one of such networks meet each other in a variety of contexts: university, company workplace, business relationships, sport clubs, charities etc. Consequently, they create links and build personal loyalties they may prove stronger than the obligations due to one’s employer.”
← 8. Siehe zum Beispiel https://link.springer.com/article/10.1007/s12147-020-09257-0.
← 9. Das OECD Competition Assessment Toolkit enthält Leitlinien zur Beseitigung von Wettbewerbshindernissen auf den Märkten. Es bietet eine Methodik zur Ermittlung unnötiger Beschränkungen von Marktaktivitäten und zur Entwicklung alternativer, weniger restriktiver Maßnahmen, die dennoch die politischen Ziele der Regierung erreichen. Siehe https://oe.cd/cat.