Corona hat das Leben der Menschen in aller Welt grundlegend erschüttert, ihre Gesundheit bedroht, die Wirtschaft zeitweise zum Erliegen gebracht, den Lebensstandard gedrückt und Arbeitsplätze zerstört. Als Anfang März die letzte Zwischenausgabe unseres Wirtschaftsausblicks erschien, hatten wir es noch mit verschiedenen lokalen Virusausbrüchen zu tun. Doch daraus wurde eine Pandemie, die sich derart rasch über den gesamten Globus ausbreitete, dass die meisten Gesundheitssysteme der Situation kaum noch gewachsen waren. Um den Anstieg der Infektionszahlen zu verlangsamen und Zeit für den Ausbau der Kapazitäten in der Gesundheitsversorgung zu gewinnen, mussten die Regierungen weite Teile der Wirtschaft herunterfahren. Inzwischen ist die Pandemie in vielen Ländern auf dem Rückzug und die Wirtschaftstätigkeit läuft wieder an. Hätten Gesundheitskräfte und andere systemrelevante Beschäftigte nicht unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit die Versorgung der Bevölkerung aufrechterhalten, wären die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie noch viel gravierender ausgefallen.
Regierungen und Zentralbanken reagierten mit weitreichenden Maßnahmen, um Menschen und Unternehmen vor den Folgen des abrupten Stopps der Wirtschaftstätigkeit zu schützen. Der Shutdown war ein beispielloser Schock: Die Wirtschaftstätigkeit im OECD-Raum schrumpfte in dieser Phase massiv, in einigen Ländern um 20-30 %. Grenzen wurden geschlossen und der Handel brach ein. Gleichzeitig richteten die Regierungen umfassende und innovative Sofortmaßnahmen ein, um den Schlag abzufedern und Arbeitskräften und Unternehmen finanziell unter die Arme zu greifen. Die sozialen und finanziellen Sicherungsnetze wurden in Rekordgeschwindigkeit ausgebaut. Angesichts stark zunehmender Spannungen an den Finanzmärkten handelten die Zentralbanken rasch und energisch: Mit einem breiten Fächer konventioneller und unkonventioneller Maßnahmen, die über das hinausgingen, was während der Weltfinanzkrise getan wurde, verhinderten sie, dass sich die Gesundheits- und Wirtschaftskrise zu einer Finanzkrise ausweitete.
Solange weder ein Impfstoff noch ein wirksames Medikament allgemein verfügbar ist, müssen die Politikverantwortlichen in aller Welt einen Drahtseilakt vollführen. Die wichtigsten Instrumente, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, sind soziale Distanzierung sowie Tests mit anschließender Isolierung der Infizierten und Nachverfolgung ihrer Kontakte. Diese Maßnahmen sind Voraussetzung, damit das wirtschaftliche und soziale Leben wieder in Gang kommen kann. Wirtschaftszweige, die von Grenzschließungen betroffen sind oder einen engen physischen Kontakt voraussetzen, wie Tourismus, Unterhaltungsbranche, Reiseverkehr und Gastgewerbe werden jedoch nicht wieder wie zuvor arbeiten können. Zudem werden selbst Tests, Kontaktnachverfolgung und Isolierung der Infizierten möglicherweise nicht ausreichen, um eine zweite Infektionswelle zu verhindern.
Wegen dieser außergewöhnlichen Unsicherheit werden in diesem Wirtschaftsausblick zwei Szenarien präsentiert: eines, in dem das Virus weiter zurückgedrängt und unter Kontrolle gehalten wird, und ein anderes, in dem es im späteren Jahresverlauf 2020 zu einer zweiten heftigen Infektionswelle kommt. Diese Szenarien können natürlich nicht das gesamte Spektrum möglicher Entwicklungen widerspiegeln, sie können es jedoch eingrenzen und so für die Politik Wege durch unbekanntes Terrain aufzeigen. Beide Szenarien sind ernüchternd: Unter den gegebenen Umständen kann und wird die Wirtschaft nicht wieder zum Normalbetrieb zurückkehren. Bis Ende 2021 werden die Einkommensverluste größer sein als in jeder anderen Rezession der letzten hundert Jahre bei Ausklammerung des Zweiten Weltkriegs. Es ist mit äußerst schweren, lang anhaltenden Folgen für Menschen, Unternehmen und Staaten zu rechnen.
Die Pandemie hat den Wechsel von der „großen Integration“ zur „großen Fragmentierung“ beschleunigt. Neue Handels- und Investitionsbeschränkungen wurden eingeführt. In vielen Regionen der Welt wurden die Grenzen geschlossen und werden vermutlich geschlossen bleiben, zumindest teilweise, solange es weiter zu größeren Virusausbrüchen kommt. Die Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften wachsen, je nachdem, wann und wie stark sie von dem Virus getroffen wurden, wie gut gerüstet ihre Gesundheitssysteme sind, auf welche Sektoren sie spezialisiert sind und wie groß ihre Finanzkraft zur Bewältigung des Schocks ist. Auch die aufstrebenden Volkswirtschaften wurden von der Krise erschüttert. Die Rohstoffpreise sind eingebrochen. Erhebliche Kapitalabflüsse, stark sinkende Rücküberweisungen, schwache Gesundheitssysteme und ein großer Anteil an informeller Beschäftigung verringern die gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Widerstandsfähigkeit dieser Länder. Und überall hat der Lockdown die Ungleichheit innerhalb der Erwerbsbevölkerung verstärkt: Zumeist sind es die höher Qualifizierten, die von zuhause aus arbeiten können, während die am geringsten Qualifizierten und die Jüngeren häufig diejenigen sind, die an vorderster Front stehen, die ihrer Arbeit nicht nachgehen können oder die entlassen werden. Unterschiede bei der sozialen Absicherung verstärken diese Effekte. Die private Verschuldung bewegt sich in einigen Ländern auf bedenklich hohem Niveau, das Risiko von Unternehmenskonkursen und Insolvenzen wächst.
Um den Drahtseilakt des Wiederaufbaus zu bewältigen, sind außerordentliche Maßnahmen nötig. Auch wenn das Wachstum in einigen Sektoren wieder kräftig anspringt, wird die Wirtschaftstätigkeit insgesamt noch einige Zeit gedämpft bleiben. Der Staat kann zwar Sicherheitsnetze spannen, die es Menschen und Unternehmen ermöglichen, sich an die neue Situation anzupassen, er kann die Tätigkeit des privaten Sektors, Beschäftigung und Löhne aber nicht über einen längeren Zeitraum stützen. Es wird eine Umschichtung von Kapital und Beschäftigung von gefährdeten in expandierende Branchen und Unternehmen notwendig sein. Ein solcher Wandel ist schwierig und er vollzieht sich selten schnell genug, um zu verhindern, dass die Zahl der Unternehmensinsolvenzen wächst und es zu längeren Phasen der Arbeitslosigkeit kommt. Die Regierungen werden die Stützungsmaßnahmen anpassen und den Wandel begleiten müssen. Dazu gehört es, rasche Umstrukturierungen ohne Stigmatisierung der Unternehmer zu erleichtern, die Einkommen von Beschäftigten zu sichern, die den Arbeitsplatz wechseln, freigesetzte Arbeitskräfte weiterzubilden, damit sie eine neue Beschäftigung finden, und den Sozialschutz für die schwächsten Bevölkerungsgruppen auszubauen. Wir fordern schon seit Längerem höhere Investitionen in digitale und grüne Technologien, um ein langfristig nachhaltiges Wachstum zu fördern und die Nachfrage kurzfristig zu stützen. Nach dem schweren Schlag, den die Wirtschaft erlitten hat, ist dies nun dringender nötig denn je.
Unsere Wiederaufbaustrategie entscheidet über die wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven des kommenden Jahrzehnts. Eine ultra-akkommodierende Geldpolitik und höhere Verschuldung sind nötig und sie werden solange akzeptiert werden, wie die Wirtschaftstätigkeit schwach, die Inflation niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch bleibt. Schuldenfinanzierte Ausgaben müssen jedoch sehr gezielt eingesetzt werden, um die schwächsten Gruppen zu unterstützen und die Investitionen zu fördern, die für den Aufbau einer krisenfesteren Wirtschaft nötig sind. Öffentliche Förderung muss transparent und fair sein. Staatliche Beihilfen für Unternehmen müssen an transparente Regeln geknüpft sein. Private Anleihegläubiger und Aktionäre müssen Verluste hinnehmen, wenn der Staat einspringen muss, damit sie für eingegangene Risiken nicht über Gebühr belohnt werden. Weitere Hilfen für Beschäftigte und Unternehmen sollten mit einer Verbesserung der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen einhergehen, um den Weg zu mehr sozialem Zusammenhalt und letztlich zu einer stärkeren und nachhaltigeren Erholung zu ebnen.
Nur mit mehr Vertrauen wird die Erholung Fahrt aufnehmen – und Voraussetzung für dieses Mehr an Vertrauen ist globale Zusammenarbeit. Vertrauen muss sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene wiedergewonnen werden. Die Sparquote der privaten Haushalte hat in den meisten OECD-Ländern stark zugenommen. Die hohe Unsicherheit und steigende Arbeitslosigkeit bremsen den Verbrauch. Auch Handelsstörungen und die mit ihnen einhergehenden Gefahren für die Lieferketten verhindern, dass die Unsicherheit abnimmt. Dies ist jedoch notwendig, damit die Investitionstätigkeit wieder anspringen kann. Globale Zusammenarbeit, um Medikamente und Impfstoffe zur Bekämpfung des Virus zu finden, und die Wiederaufnahme des multilateralen Dialogs insgesamt sind entscheidend, um Zweifel auszuräumen und wirtschaftliche Dynamik freizusetzen. Die Staatengemeinschaft sollte sicherstellen, dass ein Impfstoff oder ein Medikament, sobald sie verfügbar sind, rasch weltweit eingesetzt werden können. Andernfalls wird die Bedrohung bestehen bleiben. Auch die Wiederaufnahme eines konstruktiven Handelsdialogs würde helfen, das Vertrauen der Unternehmen und die Investitionsbereitschaft zu steigern.
Die Staaten müssen diese Chance nutzen, um fairere und nachhaltigere Wirtschaftsstrukturen zu schaffen. Dabei gilt es, Wettbewerb und Regulierung intelligenter zu gestalten und die Steuersysteme, die öffentlichen Ausgaben und den Sozialschutz zu modernisieren. Wohlstand entsteht durch Dialog und Zusammenarbeit. Dies gilt auf nationaler ebenso wie auf globaler Ebene.
10. Juni 2020
Laurence Boone
OECD-Chefökonomin