In diesem Themenpapier wird der Anteil der atypisch Beschäftigten geschätzt, die besonders gefährdet sind, ihr Einkommen oder ihren Arbeitsplatz infolge des umfassenden COVID-19-bedingten Shutdowns zu verlieren. Atypisch Beschäftigte haben häufig in geringerem Maße Zugang zu sozialer Absicherung und Kurzarbeit als Normalbeschäftigte. Der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse hat sich durch den Wandel der Arbeitswelt im Lauf der Zeit allmählich erhöht. Das Themenpapier befasst sich mit der Frage, was die Politik tun kann und bisher getan hat, um gefährdete Arbeitskräfte in der COVID-19-Krise zu unterstützen.1 Die Kernaussagen werden in Kasten 2.4 zusammengefasst.
OECD‑Wirtschaftsausblick, Ausgabe 2020/1 (Kurzfassung)
Themenpapier 4: Mit atypischer Beschäftigung verbundene Verteilungsrisiken: Stilisierte Fakten und politische Grundsatzfragen
Kasten 2.4. Kernaussagen
Auf die Sektoren, die am ehesten direkt von den Eindämmungsmaßnahmen betroffen sein dürften, entfallen im OECD-Durchschnitt rd. 40 % der Gesamtbeschäftigung. In diesen Sektoren arbeitet ein großer Teil der sogenannten atypisch Beschäftigten, d. h. Teilzeitbeschäftigte, Selbstständige und befristet Beschäftigte. Im Durchschnitt der europäischen OECD-Länder beträgt der Anteil atypischer Beschäftigung in diesen Sektoren rd. 40 %, in Italien, den Niederlanden, Spanien und Griechenland mehr als 50 %. Am höchsten ist dieser Anteil im Allgemeinen in der Unterhaltungsindustrie sowie im Hotel- und Gastgewerbe.
In vielen Ländern haben atypisch Beschäftigte in geringerem Maße Zugang zum Sozialschutz als Vollzeitbeschäftigte mit unbefristeten Arbeitsverträgen. Die soziale Absicherung von Selbstständigen weist u. U. große Lücken auf. Sie haben häufig keine Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Befristet Beschäftigte haben im Vergleich zu unbefristet Beschäftigten ein höheres Risiko, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit in Kurzarbeit einbezogen. Beschäftigte im informellen Sektor, deren Anzahl schwer zu ermitteln ist, sind im Fall von Krankheit oder Arbeitsplatzverlust noch stärker gefährdet als andere Arbeitskräfte.
Die Politik muss handeln, um atypisch Beschäftigte im Krankheitsfall und bei Arbeitsplatz- und Einkommensverlust zu unterstützen. Dafür ist es erforderlich, die Lücken in der sozialen Absicherung zwischen normal und atypisch Beschäftigten zumindest vorübergehend zu schließen. Außerdem müssen die, die am ehesten von der Krise betroffen sein dürften, gezielt gefördert werden. Das gilt z. B. für Kleinunternehmer in den am stärksten betroffenen Sektoren sowie für Geringverdiener und informell Beschäftigte.
Die OECD-Länder haben Schritte unternommen, um Arbeitskräfte in atypischen Beschäftigungsverhältnissen während der COVID-19-Krise zu unterstützen:
Etwa die Hälfte der OECD-Länder hat die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ausnahmsweise ausgeweitet oder erleichtert, und die meisten haben Arbeitslosenleistungen für atypisch Beschäftigte eingeführt oder verbessert.
Einige Länder haben befristet Beschäftigte in ihr Kurzarbeitsprogramm aufgenommen.
Fast alle OECD-Länder haben Maßnahmen zur Stützung kleiner und mittlerer Unternehmen ergriffen, und mehrere Länder haben vorübergehend Entgeltersatzleistungen für Selbstständige eingeführt, die mit erheblichen Einkommenseinbußen konfrontiert sind. Einige Länder gewähren Kleinbetrieben in stark betroffenen Sektoren, wie beispielsweise dem Tourismus, zusätzliche Steuererleichterungen und Kredite.
Die Politikmaßnahmen sollten verhindern, dass sich krisenbedingte negative Verteilungseffekte verfestigen. Eine reibungslose und passgenaue Reallokation von Arbeitskräften erfordert eine Kombination aus effektiven aktiven Arbeitsmarkt- und Qualifizierungsmaßnahmen für die Arbeitskräfte, die sie am dringendsten benötigen, und einer angemessenen Einkommensstützung während der Arbeitsuche.
Mit Blick auf die Zukunft sollten die Länder in Erwägung ziehen, die soziale Absicherung der atypisch Beschäftigten zu verbessern. Reformen in diesem Bereich würden die Segmentierung und die Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt verringern.
Gesamtbeschäftigung in den am stärksten betroffenen Sektoren
Die grenzüberschreitende Ausbreitung des Coronavirus hat viele Regierungen dazu veranlasst, beispiellose Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen. Die damit verbundene vorübergehende Einstellung vieler wirtschaftlicher Tätigkeiten hat zu einer starken Kontraktion des BIP geführt, wenngleich eine Quantifizierung zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig ist (Kapitel 2, Themenpapier 1). Am stärksten betroffen sind in erster Linie Dienstleistungssektoren wie der Tourismus, konsumnahe Dienstleistungen, einschließlich Gaststättengewerbe und die Unterhaltungsindustrie, sowie in einigen Ländern das Baugewerbe. Mit Ausnahme des Baugewerbes handelt es sich dabei um Sektoren, die wahrscheinlich noch länger beeinträchtigt sein werden, auch wenn die Konjunktur nach dem umfassenden Shutdown in den einzelnen Ländern langsam wieder anzieht. Die Eindämmungsmaßnahmen führen zu massiven Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt. Bei Ausklammerung der durch Input-Output-Beziehungen und globale Wertschöpfungsketten verursachten indirekten Effekte sind rd. 40 % der Arbeitskräfte unmittelbar von diesen Maßnahmen betroffen (Figure 2.19).
Den Berechnungen liegt die Annahme zugrunde, dass es landesweit und nicht nur in bestimmten Regionen zu einem Shutdown kommt. Zudem wird bei allen Ländern davon ausgegangen, dass die Wirtschaftstätigkeit in allen Sektoren, die direkt von den Eindämmungsmaßnahmen betroffen sind, vollständig heruntergefahren wird. Deshalb basieren die Berechnungen und Abbildungen auf der Gesamtbeschäftigung in den betroffenen Sektoren und nicht auf einem bestimmten Beschäftigungsanteil, der vom Shutdown betroffen sein könnte. Es handelt sich hierbei um Annahmen, die tatsächliche Situation und die Effekte auf den Arbeitsmarkt unterscheiden sich wahrscheinlich von Land zu Land, je nachdem, welche Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus und zur Sicherung von Arbeitsplätzen ergriffen wurden.
Der Rest des Themenpapiers beschäftigt sich mit den Verteilungseffekten und zeigt, welche Arbeitskräfte in den Sektoren, die den Annahmen zufolge betroffen sind, einem höheren Risiko ausgesetzt sind, ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen zu verlieren, krank zu werden oder in Armut zu fallen. Im Fokus der Analyse stehen die atypisch Beschäftigten, d. h. Teilzeitbeschäftigte, Selbstständige und befristet Beschäftigte. Diese Arbeitskräfte sind den negativen Verteilungseffekten der COVID-19-Krise stärker ausgesetzt, weil sie häufig keinen angemessenen Einkommens- und Beschäftigungsschutz genießen. Atypisch Beschäftigte erhalten in Arbeitslosigkeitsphasen mit 40-50 % geringerer Wahrscheinlichkeit Entgeltersatzleistungen als Normalbeschäftigte, und wenn sie Leistungen erhalten, sind diese häufig deutlich niedriger (OECD, 2019).
Gefährdete Arbeitskräfte in den am stärksten von Eindämmungsmaßnahmen betroffenen Sektoren
Wie viele atypisch Beschäftigte gibt es?
Bei atypisch Beschäftigten handelt es sich laut Definition um: 1. befristet Beschäftigte, 2. Teilzeitbeschäftigte und 3. Selbstständige.
In den europäischen OECD-Ländern entfallen im Schnitt rd. 40 % der Gesamtbeschäftigung in den am stärksten betroffenen Sektoren auf atypische Beschäftigungsformen. Der Anteil reicht von rd. 20 % in Lettland und Litauen bis zu mehr als 50 % in Italien, den Niederlanden, Spanien und Griechenland (Figure 2.20).
In den meisten Ländern ist der Anteil der atypisch Beschäftigten im Unterhaltungs- und Kunstbereich am größten, in einigen Ländern (z. B. Schweden, Dänemark, Polen und Belgien) im Hotel- und Gastgewerbe. Der Groß- und Einzelhandel sowie das Baugewerbe weisen in der Regel den niedrigsten Anteil atypisch Beschäftigter auf.
Zwar machen atypische Beschäftigungsformen in vielen Ländern einen erheblichen Anteil der Gesamtbeschäftigung in den betroffenen Sektoren aus, aufgrund fehlender Informationen über den informellen Sektor wird ihr Anteil jedoch wahrscheinlich unterschätzt. In einigen südeuropäischen Ländern ist der geschätzte Anteil des informellen Sektors relativ hoch (ILO, 2018).
Im Hinblick auf die Struktur atypischer Beschäftigung sind zwischen den europäischen Ländern erhebliche Unterschiede festzustellen (Figure 2.21):
Im Durchschnitt und in der Mehrheit der europäischen Länder stellen die Selbstständigen in den betroffenen Sektoren die Hauptkategorie der atypisch Beschäftigten. Der Anteil reicht von rundeinem Viertel in Norwegen, der Schweiz, Österreich und Deutschland bis zu mehr als der Hälfte in den meisten ost- und südeuropäischen Ländern sowie in Lettland und Litauen.
Die Teilzeitbeschäftigten, definiert als Personen, die gewöhnlich weniger als 35 Stunden wöchentlich arbeiten, sind in den meisten Ländern die zweitgrößte Kategorie. In der Schweiz, Österreich und den Niederlanden ist Teilzeitbeschäftigung besonders stark verbreitet, in der Slowakischen Republik, der Tschechischen Republik und Polen dagegen weniger.
Befristete Beschäftigungsverhältnisse machen im Durchschnitt rd. 15 % der atypischen Beschäftigung aus, wobei zwischen den einzelnen Ländern allerdings große Unterschiede bestehen: Der Anteil reicht von weniger als 4 % im Vereinigten Königreich und in Irland bis zu rd. 40 % in Polen und Portugal.
Erhebung granularer Daten zur Identifizierung gefährdeter Arbeitskräfte
Kleinunternehmer
Alle atypisch Beschäftigten sind von den auf die COVID-19-Krise zurückzuführenden Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt mehr oder weniger stark betroffen, weil sie häufig in geringerem Maße vor Arbeitsplatz- oder Einkommensverlust geschützt sind als Normalbeschäftigte. Einige atypisch Beschäftigte sind jedoch besonders exponiert. Kleinunternehmer, die von Eindämmungsmaßnahmen betroffen sind, sind u. U. besonders gefährdet. Sie haben oft nur begrenzt Zugang zur sozialen Sicherung und sind mit geschäftlichen Risiken konfrontiert, die sich aus den Shutdown-Maßnahmen und/oder vorübergehenden Liquiditätsengpässen ergeben (Kapitel 2, Themenpapier 2).
Im Durchschnitt der europäischen Länder stellen die Kleinunternehmer in den betroffenen Sektoren rd. 14 % der Beschäftigten. Der Anteil reicht von weniger als 7 % in Luxemburg und Norwegen bis zu mehr als 25 % in Griechenland und Italien (Figure 2.22).
In den meisten Ländern ist der Anteil der Kleinunternehmer im Baugewerbe am höchsten und in den freien Berufen sowie im Grundstücks- und Wohnungswesen relativ gering.
Atypisch Beschäftigte im Niedriglohnsektor
Atypisch Beschäftigte im Niedriglohnsektor sind besonders gefährdet, wegen der COVID-19-Krise das Einkommen zu verlieren. Sie arbeiten u. U. nur gelegentlich oder unregelmäßig, was dazu führen kann, dass sie die Mindestanforderungen für arbeitsbezogene Leistungen in Bezug auf Arbeitszeit und Einkommen nicht erfüllen. Der eingeschränkte Zugang zum Sozialschutz und niedrige Lohnersatzquoten belasten den Lebensstandard am unteren Ende der Lohnverteilung vergleichsweise stärker.
Atypische Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsegment machen in den betroffenen Sektoren im Durchschnitt rd. 12 % der abhängigen Beschäftigung aus. In Italien liegt dieser Anteil bei fast 25 % und in Deutschland, Irland sowie im Vereinigten Königreich bei knapp 20 %. Im Fall Deutschlands ist der hohe Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor wahrscheinlich teilweise auf die große Zahl der „Mini-Jobs“ zurückzuführen, in denen die Beschäftigten generell von Sozialbeiträgen befreit sind (Figure 2.23).
In den baltischen und osteuropäischen Ländern (mit Ausnahme Polens) weisen die betroffenen Sektoren einen kleineren Anteil atypisch Beschäftigter im Niedriglohnsegment auf. Der Anteil der gefährdeten Arbeitskräfte könnte jedoch unterzeichnet werden, da die Zahl der informell Beschäftigten, die in den verfügbaren Daten nicht erfasst sind, relativ hoch ist.
Am höchsten ist der Anteil der atypisch Beschäftigten im Niedriglohnsektor im Hotel- und Gastgewerbe und am niedrigsten im Baugewerbe.
Mit atypischer Beschäftigung verbundene Verteilungsrisiken im Ländervergleich
Abbildung 2.24 veranschaulicht die durch atypische Beschäftigungsformen verursachten Verteilungsrisiken in den einzelnen Ländern. Darin wird der vom COVID-19-Lockdown betroffene Anteil der Gesamtbeschäftigung dem Anteil der atypischen Beschäftigung in den betroffenen Sektoren gegenübergestellt. In den südeuropäischen Ländern (mit Ausnahme Portugals) sind die mit den Eindämmungsmaßnahmen einhergehenden Verteilungsrisiken besonders groß: Diese Länder liegen sowohl beim Anteil der am stärksten betroffenen Sektoren an der Gesamtbeschäftigung als auch beim Anteil der atypischen Beschäftigung in diesen Sektoren über dem Durchschnitt, und weisen zudem einen hohen Anteil informeller Beschäftigung auf (ILO, 2018). Die nordischen Länder im unteren linken Quadranten scheinen im Vergleich weniger stark exponiert zu sein, während andere europäische Länder zwischen diesen beiden Gruppen zu verorten sind: Sie haben einen relativ hohen Anteil atypisch Beschäftigter im Niedriglohnsektor (z. B. Deutschland) bzw. unfreiwillig Teilzeitbeschäftigter (Frankreich). Die osteuropäischen Länder zählen im Hinblick auf die atypische Gesamtbeschäftigung offenbar nicht zu den am stärksten exponierten Ländern, weisen jedoch einen hohen Kleinunternehmeranteil auf (Figure 2.22).
Politikherausforderungen im Hinblick auf die Unterstützung von atypisch Beschäftigten während der COVID-19-Krise
In den von den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie am stärksten betroffenen Sektoren entfällt ein beträchtlicher Teil der Beschäftigung auf atypische Beschäftigungsformen. Zwischen den europäischen Ländern bestehen diesbezüglich erhebliche Unterschiede, die am stärksten betroffenen Sektoren weisen jedoch in der Regel einen vergleichsweise hohen Anteil Selbstständiger auf. Diese Kategorie atypisch Beschäftigter hat in geringstem Maße Zugang zum Sozialschutz (vgl. OECD, 2020b; Table 2.4). In zwölf europäischen Ländern besteht für Selbstständige eine Krankenversicherungspflicht. In einigen dieser Länder (z. B. Portugal und Slowenien) ist der Versicherungsschutz von Selbstständigen aufgrund strengerer Kriterien allerdings weniger umfassend als der Versicherungsschutz in Normalarbeitsverhältnissen. In Italien und den Vereinigten Staaten haben Selbstständige im Allgemeinen keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder auf Arbeitslosenunterstützung. In Polen, den Niederlanden und der Tschechischen Republik besteht die Möglichkeit, eine freiwillige Krankengeldversicherung abzuschließen.
Ganz allgemein bieten die Systeme der sozialen Sicherung allen Kategorien atypisch Beschäftigter einen weniger umfassenden Schutz als Normalbeschäftigten. Letztere erhalten im Fall eines Arbeitsplatzverlusts mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit Entgeltersatzleistungen als atypisch Beschäftigte. Werden Arbeitskräften in atypischen Beschäftigungsverhältnissen Unterstützungsleistungen geboten, fallen diese oft wesentlich geringer aus als bei den Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen. Besonders benachteiligt ist die Gruppe der Selbstständigen, da sie, wenn überhaupt, nur begrenzt gegen das Risiko eines Arbeitsplatz- oder Einkommensverlusts abgesichert sind (OECD, 2019).
In den meisten OECD-Ländern gibt es Kurzarbeitsregelungen. Diese bieten Unternehmen die Möglichkeit, im Fall eines vorübergehenden Nachfrage- und Produktionsrückgangs die Arbeitszeit und die Arbeits-kosten zu reduzieren, ohne wertvolle Mitarbeiter entlassen zu müssen. Während der globalen Finanzkrise wurde in 25 von 33 OECD-Ländern auf Kurzarbeit zurückgegriffen, was nachweislich den Anstieg der Arbeitslosigkeit eingedämmt und zum Erhalt von Arbeitsplätzen beigetragen hat (Cahuc und Carcillo, 2011). Atypisch Beschäftigte, insbesondere Arbeitskräfte mit befristeten oder Teilzeitverträgen, haben jedoch u. U. nur begrenzt Zugang zu Kurzarbeit oder sind formell davon ausgenommen, da dieser Zugang an einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung gekoppelt ist. Und selbst wenn die Möglichkeit besteht, dürften die Anreize für Unternehmen gering sein, solche Arbeitskräfte tatsächlich in Kurzarbeit zu schicken, da die damit verbundenen Kosten u. U. höher sind als die Einstellungs- und Entlassungskosten. Daher besteht bei befristet Beschäftigten, deren Vertrag sich dem Ende zuneigt, ein hohes Risiko, entlassen zu werden, statt eine Vertragsverlängerung zu erhalten oder in Kurzarbeit einbezogen zu werden.
Bei den informell beschäftigten Arbeitskräften ist das Risiko, keinerlei Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bzw. Entgeltersatzleistungen zu erhalten, am größten. In Ländern, die Schätzungen zufolge einen höheren Anteil informell Beschäftigter aufweisen, dürfte dies mit negativen Verteilungseffekten im Hinblick auf Gesundheitsleistungen und Einkommen einhergehen. Hierzu zählen u. a. die meisten aufstrebenden Volkswirtschaften, aber auch fortgeschrittene Volkswirtschaften, wie die ost- und südeuropäischen Länder, Lettland und Litauen (Putniņš und Sauka, 2018).
Politikprioritäten und -maßnahmen zur Unterstützung atypisch Beschäftigter während der COVID-19-Krise
Viele Länder haben angesichts der drohenden schweren Rezession umfassende Maßnahmenpakete geschnürt, um Arbeitskräften und Unternehmen zu helfen, sich während der Krise über Wasser zu halten. Die ersten Maßnahmen zielten großenteils darauf ab, die Unternehmen und Arbeitskräfte während der Pandemie zu unterstützen, und gingen mit strengen Eindämmungsmaßnahmen am Arbeitsplatz einher. Einige Maßnahmen waren direkt auf Arbeitskräfte in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und/oder bestimmte stark betroffene Sektoren ausgerichtet. Im Folgenden werden die Maßnahmen beschrieben, die im OECD Raum angesichts der Krise ergriffen wurden, um atypisch Beschäftigte zu schützen. Tabelle 2.4 bietet einen Überblick über die Politikreaktionen und Kasten 2.5 enthält eine Zusammenfassung der Politikoptionen zum Schutz atypisch Beschäftigter während der COVID-19-Krise.
Kasten 2.5. Politikoptionen zum Schutz atypisch Beschäftigter während der COVID-19-Krise
Vor wirtschaftlichen Einbußen infolge einer Erkrankung schützen:
Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf atypisch Beschäftigte ausweiten und erleichtern, und den Leistungsbezug nach einer COVID-19-Infektion auf die Genesungsdauer ausdehnen.
Arbeitgebern Anreize bieten, eine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall einzuführen, und Arbeitgeber, die eine solche Entgeltfortzahlung anbieten, unterstützen.
Großen Arbeitsplatz- und Einkommensverlusten entgegenwirken:
Die Arbeitslosenunterstützung auf atypisch Beschäftigte ausweiten, die ihre Arbeit während der Pandemie verlieren, und die Bezugsdauer erhöhen.
Die Nutzung von Kurzarbeit fördern, um Unternehmen eine Anpassung der geleisteten Arbeitsstunden zu ermöglichen und zugleich Arbeitsplätze und Einkommen zu erhalten; Unternehmen und Sektoren, in denen die Wirtschaftstätigkeit nicht aufrechterhalten werden kann, mit direkten Lohnsubventionen unterstützen; Unternehmen ermutigen, alle wertvollen Mitarbeiter, einschließlich der befristet Beschäftigten, in Kurzarbeit einzubeziehen.
Bei einem hohen Anteil informeller Beschäftigung vorübergehende Transferleistungen einführen, um dem Armutsrisiko entgegenzuwirken.
Kleinunternehmen angesichts des Konjunkturrückgangs unterstützen:
Kleinunternehmen durch einen vorrangigen Zugang zu Kreditlinien, Darlehen und Zuschüssen finanziell unterstützen; Einkommen von Selbstständigen und Kleinunternehmern stützen, die ihre Geschäftstätigkeit einstellen müssen.
Kleinen Unternehmen/Unternehmern die Stundung von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern ermöglichen, um die Liquiditätsengpässe zu verringern, insbesondere in den am stärksten betroffenen Sektoren.
Das Risiko einer Verfestigung negativer Verteilungseffekte verringern:
In Betracht ziehen, nach der Krise dauerhafte Sozialschutzsysteme einzuführen, die atypisch Beschäftigten offenstehen; Systeme mit übertragbaren Sozialleistungen schaffen, die nicht an den Arbeitsplatz gebunden sind.
Aktive Arbeitsmarktmaßnahmen und Schulungsprogramme ausbauen, einschließlich digitaler Schulungen, und sicherstellen, dass sie den Arbeitskräften mit dem größten Qualifizierungsbedarf zugutekommen.
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und Arbeitslosenunterstützung
Angesichts der Pandemie wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in etwa der Hälfte der OECD-Länder vorübergehend auf Arbeitskräfte in atypischen Beschäftigungsverhältnissen ausgeweitet oder erleichtert. In einigen Fällen wurden die Anspruchsvoraussetzungen gelockert, indem die Pflicht zur Vorlage eines ärztlichen Attests aufgehoben (z. B. Österreich) oder die Wartezeit bis zum Leistungsbezug verkürzt wurde (z. B. Estland und Vereinigtes Königreich). Manche Länder führten einen Sonderzuschuss ein, um im Hinblick auf Leistungsanspruch und -umfang bestehende Unterschiede zwischen normal und atypisch Beschäftigten auszugleichen. In Portugal und der Schweiz etwa wurde für Selbstständige, die sich in Quarantäne begeben müssen, eine Erwerbsausfallentschädigung eingeführt. In den Vereinigten Staaten haben lediglich 43 % der Teilzeitbeschäftigten im Krankheitsfall Anspruch auf eine Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber, gegenüber 89 % der Vollzeitbeschäftigten. Bei den Geringverdienern beläuft sich dieser Anteil nur auf 31 % (BLS, 2019). Dank des Families First Coronavirus Response Act haben Teilzeitkräfte in KMU und Gig-Arbeiter (einschließlich selbstständig Beschäftigter) im Krankheitsfall nun bis zu zwei Wochen lang Anspruch auf Entgeltfortzahlung.
Um alle Arbeitskräfte zu schützen, die ihren Arbeitsplatz aufgrund von Betriebsschließungen verlieren könnten, wurden in den meisten OECD-Ländern Arbeitslosenleistungen für atypisch Beschäftigte eingeführt oder ausgeweitet, da in diesem Bereich beträchtliche Lücken bei der sozialen Absicherung bestehen. In Kanada wurde die Arbeitslosenunterstützung im Rahmen eines Soforthilfeplans auf Teilzeitkräfte und Selbstständige ausgeweitet. In Spanien, das einen der höchsten Anteile befristet Beschäftigter in Europa aufweist (Figure 2.21), erhielten Beschäftige, deren Vertrag während des Ausnahmezustands endete und die die für die Arbeitslosenversicherung erforderliche Mindestbeitragszeit nicht erreicht hatten, einen zeitlich befristeten Sonderzuschuss.
Schutz vor Einkommens- und Arbeitsplatzverlust
Einige Länder, die einen vergleichsweise hohen Anteil befristet Beschäftigter im Niedriglohnsektor aufweisen, ergriffen Maßnahmen, um befristet Beschäftigte zumindest während des Shutdowns in die jeweiligen Kurzarbeitsregelungen einzubeziehen. Hierzu zählen Belgien, Deutschland, Frankreich und Italien. Die Länder haben aus der Rezession von 2008 gelernt. Sie förderten die Nutzung von Kurzarbeit oder boten Unternehmen Lohnkostenzuschüsse an, um Einkommensverluste von Arbeitskräften auszugleichen und zugleich zu verhindern, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Maßnahmen zur Einbeziehung befristet Beschäftigter sind nötig, da diese in vielen Fällen entweder von Kurzarbeitsregelungen ausgenommen sind oder, wenn dies nicht der Fall ist, aufgrund unterbrochener Erwerbsbiographien mit geringerer Wahrscheinlichkeit anspruchsberechtigt sind.
In mehreren OECD-Ländern wurden für Selbstständige, die mit erheblichen Einkommenseinbußen konfrontiert sind, vorübergehend Entgeltersatzleistungen eingeführt. In Dänemark können Selbstständige und Freiberufler, die Einkommenseinbußen von mehr als 30 % verzeichnen, bis zu drei Monate lang einen Zuschuss in Höhe von 75 % ihres Verlusts erhalten. Selbstständige im informellen Sektor und Gig-Arbeiter sind aufgrund fehlender Rücklagen und eines begrenzten Zugangs zum Sozialschutz selbst bei vorübergehenden Einkommenseinbußen besonders gefährdet. In mehreren Ländern wurden Maßnahmen ergriffen, um diesen gefährdeten Gruppen eine außerordentliche Einkommensstützung zu gewähren. Bemühungen zur Unterstützung informell Beschäftigter gab es u. a. in Italien und in aufstrebenden Volkswirtschaften, wie Chile und der Türkei, die einen hohen Anteil selbstständig und informell Beschäftigter aufweisen. In Australien wurde das Programm Job Seeker Payments auf selbstständig Beschäftigte sowie Gelegenheitsarbeiter mit einer bestimmten Mindestbeschäftigungsdauer ausgeweitet.
Zusätzlich zu diesen Maßnahmen, die Selbstständige vor Einkommenseinbußen schützen, haben fast alle OECD-Länder Maßnahmen zur Stützung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) ergriffen, wie in OECD (2020c) eingehender erörtert wird. Hierzu zählen u. a. Maßnahmen, die es KMU ermöglichen, die Zahlung von Steuern, Mieten, Strom-, Wasser- oder Gasrechnungen, Sozialversicherungsbeiträgen oder Schuldzinsen ohne Sanktionen aufzuschieben. Viele Länder richteten außerdem beispiellose Kreditfazilitäten ein, darunter staatlich garantierte Kreditlinien, direkte Darlehen und Zuschüsse.
Einige Länder stellten für Kleinunternehmen in den am stärksten betroffenen Sektoren zusätzliche Hilfen bereit, da bei diesen ein hohes Risiko bestand, dass sie die Geschäftstätigkeit einstellen müssen. Portugal stellte dem Großteil der Unternehmen, die sich in einer Notlage befanden, garantierte Darlehen zur Verfügung und richtete darüber hinaus eine ausschließlich für Kleinstunternehmen im Fremdenverkehrssektor bestimmte Kreditlinie in Höhe von 60 Mio. EUR ein. In Ungarn wurden die arbeitgeberseitigen Sozialversicherungsbeiträge für Unternehmen in der Tourismusbranche, im Gaststättengewerbe, im Verkehrssektor und in der Unterhaltungsindustrie vorübergehend ausgesetzt.
Verringerung des Risikos einer Verfestigung negativer Verteilungseffekte
Die Politikmaßnahmen sollten dazu beitragen, die Verfestigung krisenbedingter negativer Verteilungseffekte zu verhindern, und dafür sorgen, dass COVID-19-bedingte Arbeitsplatzverluste nicht zu Langzeitarbeitslosigkeit, den damit verbundenen Scarring-Effekten und einer Abkehr vom Arbeitsmarkt führen. Trotz der Lohnsubventionen während des Lockdowns droht manchen der Verlust des Arbeitsplatzes, wenn die Einkommensstützung schrittweise wieder abgeschafft wird. Für atypisch Beschäftigte ist dieses Risiko höher, insbesondere für geringqualifizierte in stark betroffenen Sektoren, in denen die Aktivität wahrscheinlich zurückgehen wird, wenn sich die Wirtschaft wieder erholt. Dies dürfte z. B. im Tourismus sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe der Fall sein. In der gegenwärtigen Situation ist es schwierig, das Ausmaß der potenziellen Arbeitsplatzverluste in den verschiedenen Sektoren zu beziffern. Es ist jedoch mit einem gewissen Stellenabbau zu rechnen, da die Nachfrage mittelfristig zurückgehen dürfte. Die Veränderungen am Arbeitsmarkt erfordern u. U. eine Arbeitskräftereallokation von rückläufigen hin zu expandierenden Sektoren und neuen Arbeitsplätzen, bei denen es sich auch um digitalintensive Arbeitsplätze oder Arbeitsplätze in der Gig-Economy handeln kann.
Es sollte für eine reibungslose und passgenaue Reallokation der Arbeitskräfte gesorgt werden, die inklusiv ausgerichtet ist, d. h., die Segmentierung und die Ungleichheiten am Arbeitsmarkt minimiert. Dazu bedarf es für alle Arbeitskräfte zusätzlich zu einer angemessenen Einkommensstützung während der Arbeitsuche einer Kombination aus effektiven aktiven Arbeitsmarkt- und Qualifizierungsmaßnahmen. Um die erforderlichen Kompetenzen aufzubauen, könnten neue digital angebotene Schulungen entwickelt werden. Zudem sollten die Länder in Erwägung ziehen, Telearbeit zu fördern, z. B. indem sie sicherstellen, dass allen Haushalten und Unternehmen ein Breitbandzugang und andere Infrastrukturen zur Verfügung stehen.
Viele OECD-Länder haben die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sowie Gesundheits- und Arbeitslosenleistungen vorübergehend auf atypisch Beschäftigte ausgeweitet. Es sollte auch in Betracht gezogen werden, nach der Krise dauerhafte Sozialschutzsysteme einzuführen und Systeme mit übertragbaren Sozialleistungen zu entwickeln, die nicht an den Arbeitsplatz gebunden sind. Wenn alle Kategorien von Arbeitskräften gleichen Zugang zum Sozialschutz haben, würde dies die Beschäftigungsqualität erhöhen und zur Verringerung der Segmentierung und der Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Reformen in diesem Bereich würden außerdem für mehr Effizienz und Gerechtigkeit sorgen.
Literaturverzeichnis
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