Die grenzüberschreitende Ausbreitung des Coronavirus hat viele Regierungen dazu veranlasst, beispiellose Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen. Viele Unternehmen mussten vorübergehend schließen, und es wurden weitreichende Reise- und Ausgangsbeschränkungen verhängt.
Es ist jedoch nach wie vor extrem schwierig, den Effekt dieser Maßnahmen auf die gesamtwirtschaftliche Aktivität genau zu quantifizieren, da sich die Umstände rasch ändern und es an zeitnahen harten Daten zur Bestimmung des Produktionsschocks fehlt. Eine erste Benchmark lieferten die OECD-Schätzungen, die im März 2020 – kurz nach Beginn der Lockdown-Maßnahmen in vielen Ländern – veröffentlicht wurden (OECD, 2020a). Diese Schätzungen gingen davon aus, dass als anfänglicher direkter Effekt der Shutdowns in vielen Ländern ein Einbruch der Wirtschaftsleistung um etwa ein Viertel und ein potenzieller Rückgang der Verbraucherausgaben um ungefähr ein Drittel zu erwarten war. Die Schätzungen beruhten auf illustrativen Annahmen über den potenziellen Effekt von Shutdowns auf die Wirtschaftsleistung in ausgewählten Sektoren und Konsumkategorien sowie der Annahme, dass die einzelnen Länder mit den gleichen Effekten konfrontiert sind. Andere Schätzungen rechneten – je nach den berücksichtigten Shutdown-Maßnahmen – für mehrere europäische Länder mit noch größeren potenziellen Produktionsrückgängen (Dorn et al., 2020a; Prades Illanes und Tello Casas, 2020).
Dieses Themenpapier erweitert die Benchmark-Schätzungen der OECD in zweierlei Weise. Erstens werden die ursprünglichen Schätzungen zur Wirtschaftsleistung optimiert, indem auch die potenziellen indirekten Effekte der Shutdowns auf andere Sektoren berücksichtigt werden, die sich aufgrund von Lieferketten ergeben. Darüber hinaus werden die Benchmark-Schätzungen zu den Verbraucherausgaben durch Benchmark-Schätzungen der potenziellen Shutdown-Effekte auf die produktiven Investitionen ergänzt. Zweitens werden wegen der unterschiedlich gearteten und unterschiedlich strengen Eindämmungsmaßnahmen der einzelnen Länder die ursprünglichen illustrativen Benchmark-Schätzungen mit nationalen Schätzungen und Referenzannahmen von Statistikämtern, Zentralbanken und Forschungsinstituten sowie Informationen aus neueren Datenveröffentlichungen verglichen. Dadurch wurden wesentliche zusätzliche Erkenntnisse gewonnen, wie z. B.:
Zu dem direkten Schock für die gesamtwirtschaftliche Produktion, der auf Basis der direkt von einem Shutdown betroffenen Sektoren in den ursprünglichen Benchmark-Schätzungen der OECD ermittelt wurde, könnten aufgrund von Input-Output-Beziehungen indirekte Effekte in Höhe von 6‑8 Prozentpunkten hinzukommen. Demnach könnten die direkten und indirekten Effekte zusammen in den großen fortgeschrittenen Volkswirtschaften einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um ungefähr ein Drittel verursachen, falls die Eindämmungsmaßnahmen in den einzelnen Volkswirtschaften vollständig und auf ähnliche Weise umgesetzt werden.
Der Verarbeitende Sektor, der stärker in Lieferketten eingebunden ist als der Dienstleistungssektor, ist besonders von solchen Spillover-Effekten betroffen. Dementsprechend ergibt sich für den Verarbeitenden Sektor nach Berücksichtigung der Input-Output-Beziehungen ein geschätzter Produktionsrückgang von rd. 30 %, obwohl davon ausgegangen wird, dass nur wenige Fertigungsbranchen direkt stillgelegt wurden. Zu den Unternehmen, die am stärksten von Lieferkettenbeziehungen betroffen sind, zählen Erzeuger von Baustoffen, Metallen und elektrischen Ausrüstungen.
Insgesamt dürften die indirekten Effekte die Wirtschaftsleistung in den nicht unmittelbar von Shutdowns betroffenen Wirtschaftszweigen um rd. 17 % schmälern.
Die produktiven Investitionen könnten ebenfalls erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden. In bestimmten fortgeschrittenen Volkswirtschaften könnten sie u. U. um rd. 20 % nachgeben, wenn sie in Sektoren, in denen ein vollständiger oder partieller Shutdown unterstellt wird, proportional zur Wirtschaftsleistung zurückgehen. Zusätzliche Effekte könnten sich auch durch die Auswirkungen einer schwächeren Nachfrage und höheren Unsicherheit auf Unternehmen in anderen Sektoren ergeben.
Unternehmenserhebungen und die Monatsdaten zur Wirtschaftstätigkeit im März und April bestätigen, dass Dienstleistungen stärker betroffen sind als die Industrie. Den drastischsten Einbruch verzeichneten das Gastgewerbe, Kunst und Erholung sowie der Einzelhandel, wie bereits in den ursprünglichen Benchmark-Schätzungen unterstellt. Die Erhebungsdaten zeigen auch, dass in einigen Ländern rd. 20-30 % der Unternehmen während der Pandemie zumindest zeitweise den Betrieb einstellten.
Die nationalen Schätzungen und Szenarioanalysen zum Gesamteffekt der Shutdowns entsprechen in Frankreich, Italien, Spanien und im Vereinigten Königreich im Wesentlichen den Benchmark-Schätzungen der OECD. In Deutschland hingegen beträgt die Übereinstimmung nur 50-60 %. Diese Unterschiede im Ländervergleich decken sich im Großen und Ganzen mit den Unterschieden bei der Rigorosität der Eindämmungsmaßnahmen in den einzelnen Ländern.
Bei den Auswirkungen der Eindämmungsmaßnahmen auf einzelne Sektoren lassen die nationalen Shutdown-Schätzungen eine erhebliche Heterogenität erkennen. Das Gastgewerbe ist jedoch in allen Ländern schwer betroffen. Die größten Abweichungen von den Benchmark-Schätzungen der OECD bestehen im Handel, bei den freien Berufen und im Grundstücks- und Wohnungswesen, wo der Effekt auf die Wirtschaftstätigkeit in mehreren Ländern schwächer ist als in den OECD-Schätzungen unterstellt. In Deutschland sind auch im Baugewerbe erhebliche Abweichungen von den Benchmark-Schätzungen zu beobachten.
Die Sektoren, in denen die Benchmark-Schätzungen der OECD einen Shutdown unterstellten, machen in den nationalen Shutdown-Schätzungen im Allgemeinen 50-75 % des Gesamteffekts auf das BIP aus. Allerdings beziffern die nationalen Shutdown-Schätzungen mehrerer Länder den Gesamteffekt der Shutdowns auf die Wirtschaftstätigkeit auf einen ähnlichen Umfang wie die Benchmark-Schätzungen der OECD. Dies lässt den Schluss zu, dass der Effekt in den Sektoren, die in den OECD-Schätzungen berücksichtigt waren, insgesamt geringer sein könnte als angenommen, der Effekt in anderen Teilen der Volkswirtschaft (einschließlich Input-Output-Zweitrundeneffekte) hingegen größer.