Die ersten Jahre nach der Ankunft im Aufnahmeland sind für Neuzugewanderte eine kritische Phase. Sie müssen sich mit öffentlichen Institutionen und angebotenen Diensten vertraut machen und die Funktionsweise des lokalen Arbeitsmarkts verstehen. Neuzugewanderte besitzen weniger Kompetenzen zur Bewältigung von Alltagsproblemen als Migrant*innen, die sich schon länger im Aufnahmeland aufhalten. Frühzeitige Maßnahmen zum Abbau von Sprachschwierigkeiten können Lock-in-Effekte verhindern, die die Integration beeinträchtigen. Wenn die Sprachkurse frühzeitig beginnen, sind die Lernenden auch jünger. Das erleichtert den Lernprozess und erhöht die Motivation der Migrant*innen und die Rendite ihrer Investition – mit großen Vorteilen für sie selbst und für das Aufnahmeland.
Sprachförderung für erwachsene Zugewanderte
2. Frühzeitige Sprachförderung für Neuzugewanderte sicherstellen
HINTERGRUND
ZIELGRUPPEN
Für alle Neuankömmlinge, die die Sprache des Aufnahmelandes nur unzureichend beherrschen, sollte frühzeitige Sprachförderung eine Priorität sein. Der Zeitpunkt, an dem die Sprachförderung beginnt, hängt jedoch häufig vom Migrationskanal ab. Obwohl Asylsuchende mit guter Bleibeperspektive am dringendsten Sprachtraining benötigen dürften, wartet diese Gruppe je nach Dauer des Asylverfahrens häufig am längsten auf die Möglichkeit zur Teilnahme an Sprachkursen. Um diesen Zeitraum zu verkürzen, bieten einige Länder Asylsuchenden Sprachkurse vor Abschluss des Asylverfahrens an (vgl. Tabelle 2.1). Für nachziehende Familienangehörige und Resettlement-Flüchtlinge sollte das Sprachtraining idealerweise bereits vor der Ankunft beginnen, unmittelbar nach Ausstellung des Visums.
UMSETZUNG
Die Migrant*innen sollten so früh wie möglich über die verfügbaren Sprachkurse informiert werden und ein Angebot erhalten. Dazu gibt es mehrere Möglichkeiten:
Einstufungstests oder Sprachkurse vor der Ankunft
Beratungsstellen in der Muttersprache der Zugewanderten
die Zahl der verfügbaren Kurse erhöhen und mehr Lehrkräfte einstellen
Einige OECD-Länder, darunter die Niederlande, Österreich, Deutschland, Ungarn, Italien und Korea, organisieren in wichtigen Herkunftsländern Informationsveranstaltungen und Sprachkurse vor der Abreise. Dadurch besitzen die Neuankömmlinge bereits bei der Ankunft in ihrem neuen Aufenthaltsland grundlegende Sprachkompetenzen. Diese Programme sind am effektivsten, wenn sie auf die Lehrpläne der Sprachkurse nach der Ankunft abgestimmt sind. Dadurch wird die Kontinuität der Integration gesichert. Integrationskurse vor der Abreise könnten auch die Familienzusammenführung erheblich erleichtern, da die ohne Stellenangebot eintreffenden Familienmitglieder mit anderen Herausforderungen konfrontiert sind als das antragstellende Familienmitglied, das bereits im Aufnahmeland lebt. Sie haben bei der Ankunft im Aufnahmeland nicht den gleichen Kontakt zu Muttersprachler*innen wie bereits im Erwerbsleben stehende Zugewanderte. Im Aufnahmeland sollten Migrant*innen, die ohne vorherige Sprachförderung eintreffen oder weiterführende Kurse benötigen, einen Einstufungstest machen (vgl. Empfehlung 7). Dann sollte die zuständige Einwanderungsbehörde oder Arbeitsverwaltung ihnen einen geeigneten Sprachkurs anbieten.
Um Migrant*innen mit nur begrenzten Kenntnissen in der Sprache des Aufnahmelandes zu erreichen, sind möglicherweise auch fremdsprachliche Informationsanzeigen in Migrantenmedien und häufig besuchten Einrichtungen sowie direkte Kontaktaufnahmen durch Beratungskräfte erforderlich. Ausführlichere Printmaterialien und ein umfassendes Online-Portal können einen Überblick über das gesamte Spektrum der verfügbaren Sprachkurse und Kursanbieter nach Region bieten (vgl. Kasten 2.1).1
Kasten 2.1. Information von Zuwanderungskandidat*innen und Neuzugewanderten über Sprachkurse in Kanada und Neuseeland
Das Portal „Welcome to Canada“ weist Zuwanderungskandidat*innen und Zugewanderte darauf hin, wie wichtig es ist, Englisch oder Französisch zu lernen. Es enthält außerdem Informationen über das Anmeldeverfahren, das nächste Assessment-Center und den nächsten Anbieter von allgemeinen oder beschäftigungsbezogenen Sprachkursen. Die Nutzer*innen können außerdem online einen Selbsteinstufungstest auf Englisch oder Französisch machen (CLB-OSA/NCLC AEL), um ihr Kompetenzniveau vor der formalen Einstufung einschätzen zu können. Darüber hinaus bietet das Canadian Immigrant Integration Programme (CIIP) in vielen Herkunftsländern kostenlose Informationen und individuelle Beratung zu Sprachkursen und beruflicher Weiterbildung für Migrant*innen an, die sich auf die Einreise nach Kanada vorbereiten.
Zuwanderungskandidat*innen nach Neuseeland, die mit einem Visum der Kategorie „Skilled Migrant“ oder „Business“ einreisen wollen und den Mindeststandard in Englisch nicht erfüllen, müssen als Vorbedingung für die Ausstellung des Visums im Voraus für die Teilnahme an Englischkursen zahlen. Die Kurse, die von der Tertiary Education Commission (TEC) mitfinanziert werden und von der New Zealand Qualifications Authority (NZQA) anerkannt sind, müssen innerhalb von fünf Jahren absolviert werden, sonst verfallen die Mittel. Da Migrant*innen in kleineren Orten offenbar Schwierigkeiten hatten, Kurse zu besuchen oder Kurse zu finden, die mit ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen vereinbar waren, hat Immigration NZ zusammen mit TEC ein Online-Tool ins Netz gestellt, das Migrant*innen hilft, einen Kurs in ihrer Nähe zu finden. Das Tool ist Teil des Portals New Zealand Now, das Beratung und Hilfe vor der Abreise und bei der Niederlassung bietet.
Voraussetzung für eine frühzeitige Sprachförderung sind zudem verlässliche Prognosen zur Sprachkursnachfrage, damit sichergestellt ist, dass genügend Plätze vorhanden sind und die Wartelisten nicht zu lang werden. Derzeit haben viele OECD-Länder Schwierigkeiten, ausreichend Sprachkurse anzubieten, was zu längeren Wartezeiten führen kann (vgl. Tabelle 2.1). Eine Möglichkeit, Wartezeiten zu verkürzen, besteht darin, die Zahl der Lehrkräfte zu erhöhen (vgl. Empfehlung 11). In vielen Ländern haben strenge Zertifizierungsanforderungen für Sprachlehrkräfte in Kombination mit niedrigen Gehältern dazu geführt, dass zu wenig Lehrkräfte für Integrationskurse vorhanden sind.
Tabelle 2.1. Zeitpunkt des Zugangs zu Sprachkursen für Zugewanderte in OECD-Ländern und Herkunftsländern, 2020 oder letztverfügbares Jahr
|
Durchschnittliche Wartezeit zwischen Anmeldung und Kursbeginn |
Zugang zu Sprachkursen vor der Einreise |
Zugang für Asylsuchende (nach Verfügbarkeit) |
---|---|---|---|
Australien |
Keine |
Nein |
Ja (mit Ausnahme von erwachsenen illegalen Bootsflüchtlingen mit räumlicher Aufenthaltsbeschränkung oder befristetem Bridging Visa E) |
Belgien |
k. A. |
Nein |
Ja |
Chile |
/ (es werden keine Sprachkurse angeboten) |
Nein |
Nein |
Dänemark |
k. A. (die Wartezeit zwischen Kursanmeldung und -beginn darf jedoch 1 Monat nicht überschreiten) |
Nein (mit Ausnahme von Kontingentflüchtlingen) |
Ja |
Deutschland |
k. A. (aber die Wartezeit ist auf höchstens 3 Monate begrenzt) |
Ja (einschlließlich E-Learning) |
Ja (Asylsuchende mit guter Bleibeperspektive) |
Estland |
1 Monat für das Begrüßungsprogramm (länger für andere öffentlich finanzierte Sprachkurse) |
Ja (E-Learning) |
Ja |
Finnland |
Ungefähr 2,5 Monate nach der Ersteinstufung (2016) |
Nein (aber E-Learning-Tools sind verfügbar) |
Ja |
Frankreich |
Maximal 18 Monate ab Unterzeichnung des Integrationsvertrags (CIR – contrat d‘intégration républicaine) |
Ja (Präsenzkurse werden nicht bezuschusst, E-Learning-Tools sind verfügbar) |
Nein |
Griechenland |
k. A. |
Ja |
Ja |
Irland |
Es gibt keine Warteliste |
Nein |
Ja |
Island |
/ |
Nein |
Nein |
Israel |
Einige Tage |
Nein |
Nein |
Italien |
k. A. |
Ja (in bestimmten Programmen) |
Ja |
Japan |
Keine Wartezeit |
Nein |
Nein |
Kanada |
k. A. |
Nein (ein Online-Tool zur Selbsteinstufung ist vor der Abreise verfügbar) |
Nein |
Kolumbien |
/ |
Nein |
/ |
Korea |
k. A. |
Ja |
Ja |
Lettland |
Der Kurs muss spätestens 1 Monat nach Unterzeichnung des Bildungsgutscheins beginnen |
Nein |
Ja |
Litauen |
Keine Wartezeit |
Nein |
Nein |
Luxemburg |
k. A. (höchstens 3 Monate, weil die Kurse auf Quartals- oder Halbjahresbasis angeboten werden) |
Nein (aber E-Learning-Tools sind verfügbar) |
Ja |
Mexiko |
k. A. |
Nein |
Nein |
Neuseeland |
k. A. (in einigen Regionen mit hohen Resettlement-Zahlen besteht Nachfragedruck nach Englischkursen für Nichtmuttersprachler) |
Nein |
Nein |
Niederlande |
k. A. |
Ja (E-Learning) |
Ja |
Norwegen |
k. A. (Ziel von 2014: 80 % sollen innerhalb von 6 Monaten beginnen) |
Nein |
Ja (verbindlich für Asylsuchende in Aufnahmeeinrichtungen) |
Österreich |
k. A. |
Ja (E-Learning) |
Ja (Asylsuchende mit guter Bleibeperspektive) |
Polen |
k. A. |
Nein |
Ja (für Asylsuchende, die Sozialhilfe beziehen) |
Portugal |
k. A. |
Ja (E-Learning) |
Ja |
Schweden |
k. A. (die Kommunen müssen Neuzugewanderten mit individuellem Integrationsplan innerhalb eines Monats einen Schwedischkurs anbieten, für andere gilt eine Frist von 3 Monaten; die tatsächliche Wartezeit variiert zwischen den Kommunen, viele bieten jedoch schneller einen Platz an als vorgeschrieben) |
Nein |
Ja |
Schweiz |
Schwankt von Kanton zu Kanton; Kantone mit hoher Migrantenbevölkerung haben jedoch Maßnahmen ergriffen, um mehr Kurse anzubieten und lange Wartezeiten zu verhindern |
Nein |
Ja (in den Asyleinrichtungen des Bundes und in einigen kantonalen Zentren) |
Slowak. Rep. |
k. A. |
Nein |
Ja |
Slowenien |
6-12 Monate (2014) |
Nein |
Nein |
Spanien |
k. A. |
Nein |
Ja |
Tschech. Rep. |
k. A. |
Nein |
Nein |
Türkei |
k. A. |
Nein |
Ja |
Ungarn |
Keine |
Ja (in Serbien) |
Ja |
Ver. Königreich |
k. A. |
Ja |
Ja |
Ver. Staaten |
k. A. |
Ja (E-Learning) |
Ja (aber nicht systematisch angeboten) |
Anmerkung: k. A. = keine Angaben; / = nicht anwendbar. Vgl. Tabelle 1.1.
Quelle: OECD-Fragebogen zur Sprachförderung für erwachsene Migranten, 2017.
Anmerkung
← 1. Ein 2009 vom kanadischen Ministerium für Einwanderung und Staatsbürgerschaft (Citizenship and Immigration Canada) eingeführtes Gutschein-Pilotprojekt hat die Teilnahme erheblich gesteigert, indem willkürlich ausgewählte Neuzuwanderte über verfügbare kostenlose Sprachkurse informiert wurden. Die Pressemitteilung über die Ergebnisse des Pilotprojekts Language Training Vouchers ist verfügbar unter: https://www.canada.ca/en/news/archive/2010/11/vouchers-work-more immigrants-enrolling-language classes.html.