Praktische Kenntnisse der Sprache des Aufnahmelandes ermöglichen Migrant*innen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben des Aufnahmelandes. Ohne ausreichende Sprachkenntnisse sind Migrant*innen nicht in der Lage, andere wichtige Kompetenzen zu erwerben. Sprachkenntnisse sind daher die entscheidende aufnahmelandbezogene Kompetenz, die Migrant*innen entwickeln müssen. Wenn Migrant*innen die Sprache des Aufnahmelandes sprechen, haben sie Zugang zu Dienstleistungen und können ihre Bedürfnisse effektiv zum Ausdruck bringen. Um auf den lokalen Arbeitsmärkten erfolgreich zu sein, müssen Migrant*innen in der Lage sein, mit Arbeitgebern, Personalabteilungen und Kolleg*innen zu kommunizieren. Sprache spielt auch eine wichtige Rolle für das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft. Zugewanderte, die die Sprache des Aufnahmelandes sprechen, haben mehr soziale Kontakte zu Muttersprachler*innen und einen besseren Zugang zu höherer Bildung als Migrant*innen, die die Sprache des Aufnahmelandes kaum oder gar nicht beherrschen.1 Es gibt nur wenig vergleichbare Informationen über die Sprachkenntnisse von Zugewanderten im OECD-Raum; Daten von 2014 über die europäischen OECD-Länder und Australien zeigen jedoch, dass in der EU zwei Drittel der im Ausland Geborenen Eigenangaben zufolge mindestens fortgeschrittene Kenntnisse in der Sprache des Aufnahmelandes haben. In Australien, wo zwei Fünftel der Migrant*innen Englisch als Muttersprache haben, ist der Anteil mit 70 % sogar noch höher. Er variiert jedoch zwischen rd. 20 % in Estland und rd. 90 % in Ungarn, Luxemburg und Portugal (Abbildung 1).
Sprachförderung für erwachsene Zugewanderte
Einführung
Warum ist Sprachförderung für erwachsene Migrant*innen ein wichtiges Thema?
In allen Ländern ist eine längere Aufenthaltsdauer mit besseren Kenntnissen der Sprache des Aufnahmelandes assoziiert. Die Wahrscheinlichkeit der Beherrschung der Sprache des Aufnahmelandes ist in der EU bei neu zugewanderten Nichtmuttersprachler*innen bei Teilnahme an einem Sprachkurs im Aufnahmeland um 8 Prozentpunkte höher (OECD/EU, 2019). Daher ist die Sprachförderung auch die wichtigste Komponente der Einführungsprogramme für Neuzugewanderte. In fast allen OECD-Ländern entfällt auf sie der größte Teil der staatlichen Ausgaben für die Integration von Zugewanderten. Effektive Sprachkurse für erwachsene Migrant*innen anzubieten, dürfte eine hohe Rendite bringen, insbesondere in Ländern mit einem hohen Anteil humanitärer Migrant*innen2, die häufig nur geringe oder gar keine Kenntnis der Sprache des Aufnahmelandes haben. Um wirksam zu sein, müssen die Kurse jedoch auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sein. Die OECD-Länder werden sich zunehmend bewusst, dass Migrant*innen im erwerbsfähigen Alter besser integriert werden müssen. Deshalb sind sie bemüht, die Kapazität und Leistung ihrer Sprachförderprogramme zu verbessern.
Die Beherrschung der Sprache des Aufnahmelandes ist der wichtigste Faktor für die Arbeitsmarktintegration
Die Beherrschung der Sprache des Aufnahmelandes ist schwer zu messen, wird aber allgemein als das wichtigste Merkmal angesehen, das es Zugewanderten ermöglicht, erfolgreich am Arbeitsmarkt des Aufnahmelandes teilzunehmen (OECD, 2018). Zugewanderte, die die Sprache des Aufnahmelandes beherrschen, haben deutlich höhere Beschäftigungsquoten als solche, die eigenen Angaben zufolge Sprachschwierigkeiten haben – unabhängig vom Migrationsgrund oder vom Niveau der Qualifikationen und dem Land, in dem diese erworben wurden (Zorlu und Hartog, 2018). Wie gut Zugewanderte die Sprache des Aufnahmelandes beherrschen, bestimmt auch, ob und in welchem Ausmaß sie ihre Qualifikationen nutzen können. Nach Berücksichtigung der Unterschiede bei anderen beobachtbaren Merkmalen sind die Überqualifizierungsquoten unter erwerbstätigen Zugewanderten, die Schwierigkeiten mit der Sprache des Aufnahmelandes haben, um 17 Prozentpunkte höher als unter vergleichbaren Zugewanderten, die die Sprache des Aufnahmelandes gut beherrschen (Damas de Matos und Liebig, 2014). Zudem bestehen – von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen – zwischen den Arbeitslosen- und den Beschäftigungsquoten der im Ausland und der im Inland geborenen Bevölkerung nach wie vor erhebliche Unterschiede. Die Aufnahmeländer haben deshalb verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Hindernisse für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt abzubauen, wobei der Fokus zunehmend auf der Sprachförderung liegt.
Um effektiv zu sein, muss die Sprachförderung auf die Arbeitsmarktintegration ausgerichtet sein und die besonderen Herausforderungen der Erwachsenenbildung berücksichtigen
Sprachkurse haben trotz der Bedeutung von Sprachkenntnissen für die Arbeitsmarktintegration häufig nur begrenzte Auswirkungen auf die Arbeitsmarktergebnisse (Liebig und Huddleston, 2014). Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass die Gestaltung von Sprachkursen für Erwachsene schwierig ist. Die Bedeutung des Alters für den Fremdsprachenerwerb wurde in der Forschung jahrzehntelang in Bezug auf „sensible“ oder „kritische“ Perioden untersucht. Die Studien kamen häufig zu dem Schluss, dass Erwachsene nur selten ein nahezu muttersprachliches Niveau erreichen können. In jüngerer Zeit wurde jedoch festgestellt, dass zwischen älteren Lernenden hier große Unterschiede bestehen und dass der Fremdsprachenerwerb von Erwachsenen möglicherweise besser gefördert werden kann, wenn verschiedene Lerntechniken angewendet und die Auswirkungen externer Faktoren berücksichtigt werden (Kozar und Yates, 2019). Der Zweitspracherwerb ist ein komplexer Prozess, insbesondere für Erwachsene, die gleichzeitig mit Integrationsherausforderungen konfrontiert sind. Bei Erwachsenen spielt nicht nur die instrumentelle Motivation eine größere Rolle als bei Kindern, sondern sie müssen ihre Zeit auch anders einteilen. Sie müssen ihren Lebensunterhalt verdienen und können demotiviert werden, wenn der Nutzen des Lernens nicht unmittelbar sichtbar ist. Die Teilnahme an Sprachkursen kann Zugewanderte sogar davon abhalten, aktiv Arbeit zu suchen oder Berufserfahrung zu sammeln. Das wiederum sendet negative Signale an Arbeitgeber, die Bewerber*innen mit langen Erwerbspausen tendenziell benachteiligen (Clausen et al., 2009). Die zusätzlichen Monate der Nichtbeschäftigung sind sowohl für die Migrant*innen als auch die Aufnahmeländer kostspielig. Ein Weg, solche „Lock-in“-Effekte zu vermeiden, besteht darin, den Inhalt und die Ziele der Sprachförderung an die Arbeitsmarkterfordernisse anzupassen. Durch flexible zeitliche Formate kann die Teilnahme erwachsener Migrant*innen an Sprachkursen ebenfalls gefördert werden. Berufsspezifische Sprachkurse, die im Idealfall am Arbeitsplatz angeboten werden, haben sich in dieser Hinsicht als sehr effektiv erwiesen (Friedenberg, 2014). Bisher gibt es im OECD-Raum allerdings nur wenige Kurse in diesem Format, da solche Sprachkurse in der Regel kostspielig und schwer zu organisieren sind.
Ziel dieses Leitfadens
Die Gestaltung effektiver Sprachkurse stellt eine Herausforderung dar. Ob Zugewanderte Fortschritte erzielen und die erworbenen Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt anwenden können, hängt nicht nur davon ab, wie gut die Sprachförderung auf die Arbeitsmarktintegration zugeschnitten ist. Ein wichtiger Faktor ist auch die Qualität der verfügbaren Sprachlernoptionen und die Frage, wie gut sie auf die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse abzielen. Außerdem hängt der Erfolg auch von der Lernmotivation der Zugewanderten sowie der Einfachheit der Nutzung und der Erschwinglichkeit der verfügbaren Sprachlernoptionen ab. Dieser politikorientierte Leitfaden enthält Empfehlungen für politisch Verantwortliche und Fachleute zur Konzeption und Umsetzung effektiver Sprachlernprogramme für erwachsene Migrant*innen. Der Ausdruck „erwachsene Migrant*innen“ wird in diesem Band – unabhängig vom Migrationsgrund – für im Ausland geborene Migrant*innen verwendet, die in einem Alter in ihr Aufnahmeland gekommen sind, in dem sie keinen Zugang mehr zum allgemeinen Schulsystem, einschließlich der Sprachförderung, haben (was in der Regel ab 18 Jahren der Fall ist). Wenn Länder Programme eingeführt haben, die nur für bestimmte Gruppen von Migrant*innen gelten – wie humanitäre oder Arbeitsmigrant*innen –, wird darauf gesondert hingewiesen.
Gestützt auf die Erfahrungen der OECD-Länder3, empirische Studien sowie Beispiele guter Praxis präsentiert dieser Leitfaden zwölf Empfehlungen, die die politisch Verantwortlichen umsetzen können, um den Nutzen der Sprachförderung für Zugewanderte, Arbeitgeber und die Gesellschaft insgesamt zu steigern. Mehrere dieser Empfehlungen beziehen sich auf die Frage, wie die Teilnahme von Migrant*innen an Sprachkursen erhöht werden kann, beispielsweise indem der Zugang gesichert wird, auch für seit Langem ansässige Migranten*innen. Wenn die Anspruchsvoraussetzungen für die Teilnahme an Sprachkursen möglichst breit gefasst sind, werden mehr Migrant*innen erreicht. Der Zeitpunkt des Kursbeginns ist ebenfalls wichtig. Neuzugewanderte sollten so schnell wie möglich Zugang zu Sprachkursen haben, damit sie ihr Leben im Aufnahmeland erfolgreich meistern können. Um die Motivation der Migrant*innen zu erhöhen, sollten die Länder Anreize entwickeln, anstatt hauptsächlich auf Sanktionen zu setzen. Anreizbasierte Maßnahmen können die intrinsische Lernmotivation der Migrant*innen stärken, Sanktionen können dagegen unbeabsichtigte negative Effekte haben. Die Bezahlbarkeit ist ein weiterer Aspekt, da die Kosten kein Hindernis für das Sprachenlernen sein sollten. Die Länder verfolgen unterschiedliche Ansätze, um diese Herausforderung zu bewältigen. Sie reichen von kostenlosen Sprachkursen bis zu Modellen, bei denen die Migrant*innen eine Kaution leisten, die bei erfolgreichem Kursabschluss zurückerstattet wird. Außerdem sollte die Sprachförderung flexibel und mit anderen Anforderungen des täglichen Lebens vereinbar sein. Erwachsene Migrant*innen müssen die Sprachkurse mit Beruf und Kindererziehung vereinbaren können. Politische Entscheidungen, wie beispielsweise die Bereitstellung von Kinderbetreuung während des Unterrichts, können dies erleichtern.
Eine Reihe weiterer Empfehlungen soll den Politikverantwortlichen dabei helfen, die Sprachkurse zu verbessern, indem sie die Programme auf die Bedürfnisse der Zuwandererbevölkerung ausrichten. Viele Sprachkurse sind für die Arbeitsmarktrealität nicht besonders relevant oder werden ihr nicht ausreichend gerecht und gehen deshalb an den Bedürfnissen zahlreicher Migrant*innen vorbei. Um dem zu begegnen, sollten die Sprachkurse so weit wie möglich in die berufliche Aus- bzw. Weiterbildung integriert oder in Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern konzipiert werden. Vor der Zuweisung der Migrant*innen zu einem Kurs sollte ihr Bildungsniveau und ihre Lernkompetenz beurteilt werden. Dadurch wird so weit wie möglich sichergestellt, dass sie an Kursen teilnehmen, die sie erfolgreich absolvieren können. Durch die Einbeziehung von Sprachspezialist*innen und nichttraditionellen Partnern wird es möglich, die Lernoptionen zu erweitern. Die Entwicklung neuer Lehrpläne kann durch die Einbindung von Akteuren außerhalb der Politik, wie Lehrkräften und Partnern aus dem Privatsektor, verbessert und flexibilisiert werden. Wenn mehrere Akteure – auf und zwischen verschiedenen staatlichen Ebenen – betroffen sind, muss die Koordinierung auf der Basis gemeinsamer Standards sichergestellt werden. Eine zentrale Koordinierungsstelle kann dafür sorgen, dass die Standards effizient und einheitlich umgesetzt werden. Außerdem können die staatlichen Instanzen die Entwicklung neuer Technologien fördern. Der Trend zur Digitalisierung bietet trotz Fragen der Zugangsgerechtigkeit noch unerschlossenes Potenzial. Das gilt insbesondere für Möglichkeiten, das Kursangebot zu erweitern und die Flexibilität zu erhöhen. Um solche Innovationen zu nutzen, sollten die Länder in die Gewinnung und Schulung von Lehrkräften investieren. Aufgrund von Lehrkräftemangel haben nach wie vor nicht alle Migrant*innen Zugang zu den Sprachkursen, die sie benötigen. Um mehr und bessere Lehrkräfte zu gewinnen und zu binden, müssen diese Kräfte angemessen vorbereitet und unterstützt werden. Nur so können sie insbesondere in einem Umfeld, in dem Hightech immer wichtiger wird, ihre Aufgaben erfolgreich bewältigen.
Zur Verbesserung des Zugangs und der Kursqualität ist es von entscheidender Bedeutung, die Auswirkungen der Sprachförderung auf die Integration von Migrant*innen zu evaluieren. Da die Länder erheblich in Sprachkurse für erwachsene Migrant*innen investiert haben, sind sie sehr daran interessiert zu wissen, welche Praktiken die besten Ergebnisse erzielen. Sprachkurse werden jedoch nur selten formal evaluiert. Daher schließt dieser Leitfaden mit Empfehlungen für eine gründliche, aufschlussreiche Beurteilung dieser Programme.
Anmerkungen
← 1. Aus einer neueren Studie über die Auswirkungen von Niederländischkursen in den Niederlanden geht hervor, dass Niederländischkenntnisse nach Berücksichtigung endogener Faktoren nicht nur die Beschäftigungswahrscheinlichkeit von Migrant*innen um 30 Prozentpunkte erhöhen, sondern auch ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Aufnahmegesellschaft steigern, und zwar noch stärker – um 50 Prozentpunkte (Zorlu und Hartog, 2018).
← 2. Der Begriff „humanitäre Migrant*innen“ bezeichnet normalerweise Personen, deren Schutzbedürftigkeit anerkannt wurde, indem ihrem Asylantrag stattgegeben wurde, oder die außerhalb des Asylverfahrens im Rahmen humanitärer Resettlement-Programme aufgenommen wurden. Der Einfachheit halber werden in diesem Leitfaden alle Schutzberechtigten – sei es auf Grund von Flüchtlingsschutz, subsidiärem Schutz oder vorübergehendem Schutz – als humanitäre Migrant*innen betrachtet, da diese Gruppen Anspruch auf ähnliche (oft sogar identische) sprachliche Integrationsmaßnahmen haben.
← 3. Die Länder verfolgen unterschiedliche Strategien auf der Basis verschiedener Integrationsphilosophien (beispielsweise Sprachförderung und Gesellschaftskunde im Gegensatz zu beschäftigungsorientierten Anreizen). Länder wie die Vereinigten Staaten bevorzugen beschäftigungsorientierte Anreize und überlassen die Sprachförderung den Kommunen oder gemeinnützigen Organisationen. Andere Länder wie Frankreich (seit 2007) und Deutschland (seit 2005) bieten Integrationskurse an, die Sprachförderung und Gesellschaftskunde kombinieren. Diese unterschiedlichen Ansätze sind auf kulturelle und wirtschaftliche Unterschiede zurückzuführen. Es gibt keine Einheitslösung, die für alle Länder geeignet ist. Viele OECD-Länder sind jedoch schrittweise zu einem gemischten Ansatz übergegangen, der Sprachförderung mit beschäftigungsorientierter Integration kombiniert (Arendt et al., 2020).