Zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie können wir wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Durch die Fortschritte bei der Impfstoffentwicklung und der Behandlung von COVID-19 haben sich die Zukunftsaussichten verbessert und die Unsicherheit ist gesunken. Die beispiellosen Maßnahmen der Regierungen und Zentralbanken haben in vielen Sektoren eine rasche Erholung der globalen Wirtschaftstätigkeit bewirkt. In einigen Dienstleistungsbranchen wird die Aktivität jedoch weiter durch die Kontaktbeschränkungen beeinträchtigt. Der Beschäftigungsrückgang hat sich z. T. wieder umgekehrt, viele Menschen sind aber immer noch von Unterbeschäftigung betroffen. Die meisten Unternehmen haben überlebt, häufig sind sie jedoch finanziell angeschlagen. Ohne die massiven Stützungsmaßnahmen wären die Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Lage katastrophal gewesen. So aber konnte das Schlimmste verhindert werden: Der Großteil der bestehenden wirtschaftlichen Strukturen blieb erhalten und konnte schnell wieder hochgefahren werden. Viele gefährdete Menschen, Unternehmen und Länder befinden sich jedoch nach wie vor in einer prekären Lage.
Die Aussichten sind freundlicher, es gibt aber noch gewaltige Herausforderungen zu bewältigen. Mittlerweile sind weltweit 1½ Millionen Menschen an oder mit COVID-19 gestorben. In vielen Ländern wütet bereits die nächste Welle der Pandemie, während in anderen Ländern die erste Welle noch nicht unter Kontrolle gebracht wurde. Es steht zu hoffen, dass noch im Jahresverlauf 2021 wirksame Impfungen allgemein verfügbar werden oder ein Durchbruch bei der Behandlung von COVID-19 erreicht wird. In der Zwischenzeit wird die Pandemie die Wirtschaft weiter belasten. Auch in den nächsten Quartalen wird die Wirtschaftstätigkeit noch durch Kontaktbeschränkungen und teilweise geschlossene Grenzen beeinträchtigt werden. Einige Sektoren werden zu alter Stärke zurückfinden, während in anderen Stillstand herrscht. In Entwicklungs- und Schwellenländern, für die der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle ist, wird sich die Lage weiter verschlechtern. Diese Länder werden mehr Unterstützung durch die Weltgemeinschaft benötigen. Die Konjunktur muss weiter massiv gestützt werden, gerade weil ein Ende der Gesundheitskrise nun absehbar ist.
Die Weltwirtschaft wird in den nächsten zwei Jahren an Dynamik gewinnen. Ende 2021 dürfte die globale Wirtschaftsleistung wieder das Niveau von vor der Pandemie erreicht haben. Nach einem drastischen Einbruch in diesem Jahr wird das globale BIP den Projektionen zufolge 2021 um 4¼ % und 2022 um weitere 3¾ % wachsen. Durch Fortschritte in der Forschung und Impfstoffentwicklung, effektivere Kontaktnachverfolgung und Isolierung sowie Verhaltensänderungen im Privat- und Geschäftsleben lässt sich das Infektionsgeschehen besser eindämmen. Dadurch können die Mobilitätsbeschränkungen allmählich gelockert werden. Dabei spielen die seit Beginn der Pandemie ergriffenen Maßnahmen zur Stützung von Arbeitsplätzen und Unternehmen eine wichtige Rolle. Sie tragen entscheidend dazu bei, dass sich die Konjunktur nach der Aufhebung der Beschränkungen rasch erholen kann. Dies dürfte zusammen mit der verringerten Unsicherheit bewirken, dass die erhöhten Ersparnisse für Konsumausgaben und Investitionen genutzt werden. Die außerordentliche fiskalische Entlastung, für die 2020 gesorgt wurde und die weiterhin erforderlich ist, wird sich am Ende auszahlen. Mit dem schrittweisen Wiederhochfahren von immer mehr wirtschaftlichen Aktivitäten wird sich die Erholung verstärken und beschleunigen. Dadurch werden die krisenbedingten Einkommensverluste insgesamt begrenzt.
Die Erholung dürfte von Land zu Land unterschiedlich verlaufen. Die Weltwirtschaft könnte sich dadurch dauerhaft verändern. Die Länder und Regionen, die über effektive Test-, Kontaktnachverfolgungs- und Isolierungsstrategien verfügen und in denen Impfungen rasch umgesetzt werden können, dürften vergleichsweise gut abschneiden. Sie werden aber dennoch unter der weltweiten Nachfrageschwäche leiden. In China, wo die Erholung früher begann, wird ein kräftiges Wachstum erwartet. 2021 dürfte mehr als ein Drittel des Weltwirtschaftswachstums auf China entfallen. Die OECD-Volkswirtschaften werden ebenfalls einen Aufschwung verzeichnen. Mit einem Wachstum von 3,3 % im Jahr 2021 werden sie sich zunächst jedoch nur teilweise von der gravierenden Rezession des Jahres 2020 erholen. Europa und Nordamerika werden weiterhin weniger zum weltweiten Wachstum beitragen, als es ihrem Anteil an der Weltwirtschaft entsprechen würde.
Der Ausblick bleibt extrem unsicher und ist sowohl mit Aufwärts- als auch mit Abwärtsrisiken behaftet. Eine günstigere Entwicklung wäre möglich, wenn die Impfstoffe dank effizienter Impfkampagnen und einer besseren länderübergreifenden Zusammenarbeit schneller weltweit eingesetzt werden könnten. Wie sich am aktuellen Wiederaufflammen der Pandemie in vielen Ländern zeigt, kann es aber auch sein, dass die Regierungen die Wirtschaftstätigkeit erneut einschränken müssen, insbesondere wenn die Verteilung wirksamer Impfstoffe nicht zügig vorankommt. Außerdem würde das Vertrauen leiden, wenn die in die Impfstoffe gesetzten Hoffnungen aufgrund von Verteilungsproblemen oder Nebenwirkungen enttäuscht würden. Die wirtschaftlichen Folgen könnten gravierend sein und über die Schwächung staatlicher und privatwirtschaftlicher Schuldner auch das Risiko von Finanzmarktturbulenzen mit globalen Ausstrahlungseffekten erhöhen.
Trotz der immensen geld- und fiskalpolitischen Stützungsmaßnahmen führt die Pandemie selbst im günstigsten Szenario weltweit zu einer Verschlechterung der sozioökonomischen Situation. In vielen Ländern wird die Wirtschaftsleistung auch 2022 noch rd. 5 % unter den Vorkrisenerwartungen liegen. Dies lässt erhebliche dauerhafte Schäden durch die Pandemie befürchten. Dabei werden besonders gefährdete Gruppen weiterhin überproportional betroffen sein. Kleinere Unternehmen und Gründer*innen sind stärker von Insolvenzen bedroht. Viele Geringverdienende haben ihre Stelle verloren und können nun bestenfalls auf Arbeitslosengeld hoffen. Sie haben kaum Aussichten, schnell wieder Arbeit zu finden. Für Bedürftige, die generell weniger gut sozial abgesichert sind, hat sich die Lage weiter verschlechtert. Sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen fiel es häufig schwer, an Fernunterricht teilzunehmen, und geringer qualifizierte Arbeitskräfte konnten oft nicht von zu Hause aus arbeiten. Dies könnte negative Langzeitfolgen haben.
Die Regierungen werden weiter aktiv Unterstützung leisten müssen. Die Maßnahmen müssen jedoch gezielter auf die am stärksten Betroffenen ausgerichtet werden. Die Aussicht auf bald verfügbare Impfstoffe bedeutet nicht, dass die Unterstützung nun zurückgefahren werden sollte. Dies wäre ebenso verfrüht, wie es damals die Konsolidierung nach der globalen Finanzkrise war. Gesundheits- und Wirtschaftspolitik müssen Hand in Hand gehen. Die gesundheitspolitischen Maßnahmen müssen verstärkt werden, um die Auswirkungen neuer Infektionsausbrüche und die damit verbundenen Einschränkungen zu begrenzen. Zugleich muss die fiskalische Unterstützung fortgesetzt werden, um den Erhalt betroffener Sektoren, Unternehmen und Arbeitsplätze zu sichern. Die letzten neun Monate haben gezeigt, dass diese Maßnahmen angemessen waren, was auch weiter der Fall sein wird. Die Geld- und Fiskalpolitik muss ihren Kurs mit Nachdruck weiterverfolgen, zumindest solange die Gesundheitskrise eigentlich tragfähige wirtschaftliche Aktivitäten und Arbeitsplätze bedroht.
Verstärktes staatliches Handeln muss kein Grund zur Besorgnis sein, wenn es dazu dient, ein kräftigeres und gerechteres Wachstum zu fördern. Durch die massiven fiskalischen Stützungsmaßnahmen steigt die Staatsverschuldung auf ein Rekordniveau. Zugleich sind aber die Kosten der Verschuldung niedriger als je zuvor. Auffallend ist, dass zwischen dem Umfang der fiskalischen Maßnahmen und der daraus resultierenden Wirtschaftsentwicklung kein klarer Zusammenhang zu erkennen ist. Dies lässt den Schluss zu, dass nicht alle Maßnahmen zweckmäßig sind. Die beispiellose geld- und fiskalpolitische Unterstützung muss sich tatsächlich auszahlen. Sie muss ein kräftigeres und besseres Wirtschaftswachstum hervorbringen. Mindestens drei Prioritäten sollten dabei im Vordergrund stehen. Erstens: Investitionen in grundlegende Güter und Dienstleistungen, z. B. in das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die physische und digitale Infrastruktur. Zweitens: entschlossenes Handeln, um den Anstieg der Armut und der Einkommensungleichheit dauerhaft umzukehren. Drittens: internationale Zusammenarbeit, da globale Krisen nicht durch einzelstaatliches und selbstbezogenes Handeln überwunden werden können.
Die Umschichtung öffentlicher Ausgaben auf grundlegende Güter und Dienstleistungen würde signalisieren, dass die Regierungen aus der Krise gelernt haben. Um künftig besser gegen Krisen gewappnet zu sein, sollten mehr öffentliche und private Investitionen in Gesundheit, Bildung und Infrastruktur mobilisiert werden. Bei der Steigerung der Krisenfestigkeit des Gesundheitswesens geht es nicht nur um die Verteilung von Impfstoffen oder um die Zahl der Intensivbetten, sondern auch um Prävention und eine bezahlbare Gesundheitsversorgung für alle. Entscheidend sind zudem Investitionen in Kompetenzen, um bessere Bildungs- und Arbeitsmarktergebnisse zu erzielen und dadurch letztlich das Wachstumspotenzial und das gesellschaftliche Wohlergehen dauerhaft zu steigern. Dies umfasst mehr und gezielter eingesetzte Ressourcen in der frühkindlichen Bildung, besser bezahlte und ausgebildete Lehrkräfte sowie eine bessere Weiterbildungsförderung, insbesondere für gefährdete Gruppen, wie etwa Eltern in schwierigen Lebensumständen. Krisen haben in der Vergangenheit oft dazu geführt, dass weniger investiert wurde und dauerhafte Infrastrukturdefizite entstanden, u. a. bei der Digitalisierung und der Dekarbonisierung der Energieversorgung. Das muss sich ändern.
Besonders gefährdete Gruppen, vor allem Kinder, Jugendliche und Geringqualifizierte, die nur unzureichend vor der Krise geschützt wurden, müssen stärker unterstützt werden. In vielen Ländern lassen sich Lehren aus der Krise ziehen, um die Bildungssysteme zu verbessern. Die Staaten müssen mit entsprechenden Investitionen dafür sorgen, dass alle Haushalte, Lehrkräfte und Schüler*innen – insbesondere jene in benachteiligten Verhältnissen – über einen guten Breitbandzugang verfügen und für den digitalen Unterricht ausgestattet sind. Die Krise hat gezeigt, wie dringend die Digitalkompetenzen verbessert werden müssen. Sie hat auch Lücken in den sozialen Sicherungssystemen offenbart. Die Fiskalpolitik sollte gezielter gefährdete Gruppen unterstützen, die durch das Raster der üblichen Sozialversicherungssysteme fallen und keinen Anspruch auf die bislang verfügbaren zusätzlichen Hilfen haben. Dies würde sowohl den Betroffenen als auch der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen.
Die internationale Zusammenarbeit hat in den letzten Jahren abgenommen. Dabei wäre sie gerade jetzt wichtiger als je zuvor. Die sogenannte „globale“ Finanzkrise war vor allem eine Krise einiger fortgeschrittener Volkswirtschaften. Sie löste aber eine beispiellose gemeinsame Reaktion aus. Die Pandemie ist die erste wirklich globale Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie hat zu außerordentlichen nationalen Krisenmaßnahmen, aber auch Grenzschließungen und wenig Zusammenarbeit geführt. Protektionismus und Grenzschließungen sind keine Lösung. Sie verhindern die Verteilung wesentlicher Güter weltweit und bestrafen Volkswirtschaften, die nur durch die Teilnahme an globalen Wertschöpfungsketten zu anderen aufschließen können. Diese Entwicklung muss wieder umgekehrt werden. Nötig ist eine breite, schnelle und großzügige Produktion und Verteilung wirksamer Medikamente und Impfstoffe, an der alle Länder teilhaben können. Multilaterale Foren müssen sich stärker für Schuldentransparenz sowie bei Bedarf für ein Schuldenmoratorium einsetzen. Zugleich müssen die Aufsichtsbehörden die Unternehmensverschuldung genau überwachen. Es gilt zu verhindern, dass die Gesundheits- und Wirtschaftskrise auch noch eine Finanzkrise auslöst.
Hoffentlich können wir auf die Frage, wie die Welt nach Corona aussieht, einmal antworten: „Fast so wie vorher, bloß ein wenig besser.“
1. Dezember 2020
Laurence Boone
OECD-Chefökonomin