Die in diesen Schätzungen berücksichtigten Länder sind die OECD-Mitglieder, die nicht der OECD angehörenden EU-Mitgliedstaaten sowie zwölf aufstrebende Volkswirtschaften (Argentinien, Brasilien, China, Costa Rica, Indien, Kasachstan, Kolumbien, die Philippinen, die Russische Föderation, Südafrika, die Ukraine und Vietnam).
OECD-Wirtschaftsausblick, Ausgabe 2019/2
Fokuspapier 2: Der Niedriginflationsfalle entkommen
Trotz des langen Wirtschaftsaufschwungs und obwohl ein breites Spektrum an Indikatoren, darunter die OECD-Messgrößen der Arbeitslosigkeitslücke, auf einen geringen Angebotsüberhang am Arbeitsmarkt hindeuten, verharrt die Inflation in vielen OECD-Ländern, allen voran den Ländern des Euroraums und Japan, auf niedrigem Niveau (Figure 2.3). Diese Entwicklung scheint im Widerspruch zu einer herkömmlichen Phillips-Kurve zu stehen, wie sie zum traditionellen Instrumentarium der makroökonomischen Analyse gehört. Einer solchen Phillips-Kurve zufolge sollte sich die Inflation nach Abbau der Kapazitätsüberhänge der „erwarteten“ Inflation nähern, die gewöhnlich beim oder nahe beim Inflationsziel der Zentralbank verankert ist.1 Der abweichende Kurvenverlauf ist schwer zu erklären, und es gibt dazu verschiedene Hypothesen, u.a. dass der Angebotsüberhang am Arbeitsmarkt nicht richtig gemessen wird. In diesem Fokuspapier werden zwei mögliche Erklärungen näher untersucht: zum einen, dass die über einen längeren Zeitraum niedrige Inflation dazu geführt hat, dass die Inflationserwartungen deutlich unter die Inflationsziele der Zentralbanken gesunken sind; zum anderen, dass die Reaktion der Inflation auf Kapazitätsüberhänge nicht linear verläuft. Zusammen würden diese beiden möglichen Erklärungen bedeuten, dass in einigen Ländern, insbesondere in Japan und dem Euroraum, neue Politikmaßnahmen erforderlich wären, um der Niedriginflationsfalle zu entkommen.
Absinken der Inflationserwartungen
Am Beispiel von Japan zeigt sich, welche Gefahren drohen, wenn zugelassen wird, dass sich die Inflationserwartungen auf einem sehr niedrigen Niveau verfestigen. Eine vor Kurzem auf Branchenebene durchgeführte Studie kommt zu dem Schluss, dass Japan im Vergleich zu anderen Ländern einen Sonderfall darstellt, weil dort von vornherein von unveränderten Preisen ausgegangen wird, sodass die erwartete Inflation im Wesentlichen bei null liegt (Watanabe und Watanabe, 2018). Dies wird in geschätzten Phillips-Kurven für Japan bestätigt. Obwohl die Einführung des Inflationsziels von 2% im Jahr 2013 die Inflationsentwicklung beeinflusst zu haben scheint, war der Effekt offenbar nur von vorübergehender Dauer und ist seit 2015 kaum mehr wahrnehmbar.
Empirische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass eine sogenannte „Abweichungsvariable“, die vergangene Phasen anhaltender Unter- oder Überschreitung des Inflationsziels erfasst, die jüngsten Inflationsentwicklungen in den meisten OECD-Ländern erklären hilft. Dieses Konzept der Abweichung liefert bessere empirische Ergebnisse als die Erhebungsdaten von Prognoseinstituten, die in empirischen Arbeiten häufiger als Näherungsvariablen für die Inflationserwartungen eingesetzt werden. Die Ergänzung anderer potenzieller Bestimmungsfaktoren der Inflation um einen Abweichungseffekt hat auch klare Politikimplikationen, da dies direkt Aufschluss gibt über „das Risiko […], dass eine über einen zu langen Zeitraum niedrige Inflation sich in den Inflationserwartungen festsetzen könnte“ (Draghi, 2014). Die Stärke des Abweichungseffekts deutet darauf hin, dass die Inflationserwartungen in den meisten Ländern des Euroraums tatsächlich unter die Zielvorgabe abgesunken sind.
Welche Rolle die Variable der Zielabweichung spielt, lässt sich anhand von Simulationen der Reaktion der Inflation im Euroraum auf die Arbeitslosigkeitslücke nach der Großen Rezession mit und ohne Abweichungseffekt veranschaulichen (Figure 2.4). In der ersten Simulation sind die Inflationserwartungen beim Inflationsziel verankert, das mit 2% pro Jahr angesetzt wird. In der zweiten Simulation werden bei den Inflationserwartungen auch dauerhafte Abweichungen der Inflation von der Zielvorgabe berücksichtigt, die in einem geschätzten Abweichungseffekt zum Ausdruck kommen. Während der ursprüngliche, d.h. kurzfristige, Inflationsrückgang in den beiden Simulationen recht ähnlich verläuft, zeigen sich bei den langfristigen Effekten deutliche Unterschiede. In der ersten Simulation kehrt die Inflation mehr oder minder rasch zur Zielvorgabe zurück, sobald die Arbeitslosenquote wieder ihr Vorkrisenniveau erreicht hat. In der zweiten Simulation hingegen, die die tatsächliche Entwicklung besser abbildet, führt die dauerhafte Unterschreitung des Inflationsziels zu einem Absinken der Inflationserwartungen. Die Inflation verharrt selbst nach Rückkehr der Arbeitslosigkeit zu ihrem Ausgangsniveau unter der Zielvorgabe.
Anhaltspunkte für nichtlineare Effekte
Die Phillips-Kurve modelliert in der Regel lineare Zusammenhänge zwischen einer Messgröße des Kapazitätsüberhangs und der Inflation. Einige Forscher haben aber auch die Möglichkeit untersucht, dass die Phillips-Kurve nicht linear verläuft. Ein nichtlinearer Verlauf könnte nämlich teilweise erklären, warum die Inflation schwach geblieben ist. Die Nichtlinearität kann von der Inflation selbst oder vom Umfang der Kapazitätsüberhänge abhängig sein.
Von der Inflation abhängige Nichtlinearität
Die geringe Reagibilität der Inflation auf die Arbeitslosigkeit in einem Niedriginflationsumfeld könnte auf Abwärtsrigiditäten bei den Nominallöhnen zurückzuführen sein. Weigern sich Arbeitnehmer, Nominallohnkürzungen hinzunehmen, dürften Kapazitätsüberhänge in einem Umfeld bereits niedriger Inflation geringere Auswirkungen auf die Preise haben. Diese Form der Nichtlinearität lässt sich schwer stichhaltig nachweisen, da die Inflation in den meisten OECD-Ländern nur über einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum sehr niedrig war. Japan stellt allerdings eine bedeutende Ausnahme dar, da das Land über eine wesentlich längere Niedriginflationserfahrung verfügt. Die Analysen bestätigen hier eindeutig, dass bei einer Kerninflation von unter 1% pro Jahr Abwärtsrigiditäten bestehen. Wäre diese Form der Abwärtsnominallohnrigidität in anderen Ländern weit verbreitet gewesen, könnte sie teilweise erklären, warum die Inflation nach der Großen Rezession nicht stärker gesunken ist. Sie könnte z.T. auch erklären, warum die Inflation seither nur langsam wieder gestiegen ist. Die langsame Zunahme der Inflation könnte ihre Ursache darin haben, dass es den Unternehmen unmittelbar nach der Großen Rezession nicht möglich war, die Reallöhne zu senken, weshalb sie sich in der Erholungsphase mit Lohnerhöhungen zurückhielten.
Von den Kapazitätsüberhängen abhängige Nichtlinearität
Eine weitere potenzielle Form der Nichtlinearität in der Phillips-Kurve kann durch Kapazitätsengpässe entstehen, die der Kurve in Bezug auf den Effekt von Kapazitätsüberhängen einen konvexen Verlauf verleihen und die Reagibilität der Inflation auf negative Produktions- oder Arbeitslosigkeitslücken verringern (Clark und Laxton, 1995; Macklem, 1997). In einem gedrückten konjunkturellen Umfeld können Kapazitätsüberhänge es den Unternehmen ermöglichen, eine steigende Nachfrage zu decken, ohne die Preise abrupt erhöhen zu müssen. In starken Expansionsphasen dürften Kapazitätsengpässe und steigende Grenzkosten die Unternehmen dagegen schneller dazu veranlassen, die Preise zu erhöhen. Im Zuge einer sich festigenden Konjunkturbelebung könnte die Reagibilität der Inflation auf Kapazitätsüberhänge also zunehmen, was der Phillips-Kurve eine konvexe Form verleihen würde. Eine Analyse zahlreicher in den vergangenen zwanzig Jahren veröffentlichter Studien ergibt, dass die Steigung der Phillips-Kurven in Boomphasen zwei- bis dreimal steiler ist als in Rezessionsphasen (St‑Cyr, 2018). Eine Anpassung der Spezifikation einer Basis-Phillips-Kurve, um nicht lineare Effekte der Arbeitslosigkeitslücke zu berücksichtigen, ergibt für die größten OECD-Volkswirtschaften einen von Form und Größenordnung her ähnlichen nichtlinearen Verlauf.
Da die Effekte der Arbeitslosigkeitslücke in linearen Phillips-Kurven nur in sehr geringem Maße zum Tragen kommen, dürften zwei- bis dreimal stärkere Effekte in Boomphasen für die Politik nicht unbedingt Anlass zur Besorgnis sein. Diese Schlussfolgerung wird durch einen gänzlich anderen Analyseansatz gestützt, den Babb und Detmeister (2017) verfolgen. Unter Verwendung von Metropolraumdaten finden sie starke statische Belege für einen nichtlinearen Verlauf der Phillips-Kurve für die Vereinigten Staaten, berechnen aber auch, dass sich die Auswirkungen der Inflation „in den kommenden beiden Jahren nur geringfügig vom linearen Kurvenverlauf unterscheiden“.
Zusammenfassung und mögliche Politikimplikationen
Anhaltend niedrige Inflationswerte lassen – insbesondere angesichts der nahe beim Vorkrisenniveau liegenden Arbeitslosigkeit – die Befürchtung aufkommen, dass sich die lange Niedriginflationsphase bereits in den Inflationserwartungen verfestigt hat, vor allem in den Euroländern und in Japan. Modelle, bei denen die Möglichkeit berücksichtigt ist, dass eine anhaltende Unterschreitung des Inflationsziels ein Absinken der Inflationserwartungen zur Folge hat, legen den Schluss nahe, dass die Inflationserwartungen in vielen Ländern des Euroraums eher nahe bei 1% als bei 2% liegen könnten. Der Euroraum dürfte solchen Risiken gegenüber besonders anfällig sein, da die Verpflichtung auf das Inflationsziel für den gesamten Euroraum und nicht für einzelne Länder gilt. Eine nicht hinreichend enge Integration der Produkt- und insbesondere der Arbeitsmärkte im Euroraum kann bewirken, dass sich eine dauerhaft niedrige Inflation in einem Land leichter in den Inflationserwartungen dieses Lands niederschlägt, als wenn es ein explizites nationales Inflationsziel gäbe. Dieses Absinken der Inflationserwartungen gibt Anlass zur Sorge. Da die nominalen Zinssätze nahe an ihren effektiven Untergrenzen liegen, hat eine anhaltend niedrige Inflation zur Folge, dass die Realzinsen auf einem höheren Niveau verharren, als dies sonst der Fall wäre. Dies könnte erklären, warum die Konjunkturerholung in einigen Ländern so verhalten verläuft. Sollte es zu einem weiteren starken negativen Nachfrageschock kommen, wäre der Spielraum für eine Senkung der nominalen Zinssätze im Rahmen der konventionellen Geldpolitik zudem stark eingeschränkt.
Aus einer linearen Phillips-Kurve, die der Logik folgt, dass eine anhaltende Unterschreitung des Inflationsziels zu einer Abwärtskorrektur der Inflationserwartungen führt, wäre streng genommen der überraschende Schluss zu ziehen, dass ein „Großer Boom“ gleichen Umfangs wie die „Große Rezession“ notwendig wäre, um die Inflationswartungen mittelfristig wieder zu verankern. Allerdings legen Nichtlinearitäten im Verlauf der Phillips-Kurve – der Inflationseffekt positiver Lücken ist stärker als der (schwache) Disinflationseffekt negativer Lücken – den Schluss nahe, dass eine mäßigere Phase der Konjunkturüberhitzung erforderlich sein könnte. Dies veranschaulicht die Simulation einer Phillips-Kurve für den Euroraum unter Berücksichtigung derartiger Nichtlinearitäten (Figure 2.5). Japan befindet sich in einer ähnlichen, aber extremeren, Situation. Hier sind die Inflationserwartungen stärker verfestigt und liegen noch weiter unter dem amtlichen Zielwert. Daher ist dort wahrscheinlich eine längere Phase der Überhitzung erforderlich, damit die Inflationserwartungen wieder steigen können. Zudem bedarf es wohl einer klareren Kommunikation über die Dauerhaftigkeit der Verpflichtung auf das Inflationsziel als derzeit der Fall.
Literaturverzeichnis
Babb, N. und A. Detmeister (2017), “Nonlinearities in the Phillips Curve for the United States: Evidence Using Metropolitan Data”, Finance and Economics Discussion Series, No. 2017-070, Board of Governors of the Federal Reserve, Washington, D.C., https://doi.org/10.17016/FEDS.2017.070.
Bobeica, E. und A. Sokol (2019), “Drivers of underlying Inflation in the Euro Area over Time: A Phillips Curve Perspective”, Economic Bulletin, Issue 4/2109, 17. Juni, Europäische Zentralbank, https://www.ecb.europa.eu/pub/economic-bulletin/articles/2019/html/ecb.ebart201904_02~ d438b3e4d4.en.html.
Clark, P. und D. Laxton (1995), “Capacity Constraints, Inflation and the Transmission Mechanism: Forward-Looking Versus Myopic Policy Rules”, IMF Working Papers, No. WP/95/75, Internationaler Währungsfonds.
Draghi, M. (2014), “Geldpolitik im Euroraum”, Grundsatzrede zur Eröffnung des Europäischen Bankenkongresses, Frankfurt am Main, 21. November, https://www.ecb.europa.eu/press/key/ date/2014/html/sp141121.de.html.
Macklem, T. (1997), “Constraints, Price Adjustment and Monetary Policy”, Bank of Canada Review, S. 39-56, https://www.bankofcanada.ca/wp-content/uploads/2010/06/r972b.pdf.
St-Cyr, R. (2018). “Non-linéarité de la courbe de Phillips : un survol de la littérature”, Staff Analytical Note, No. 2018-3, Bank of Canada, https://www.bankofcanada.ca/wp-content/uploads/2018/01/ san2018-3.pdf.
Turner, D., T. Chalaux, Y. Guillemette und E. Rusticelli (2019), “Insights from OECD Phillips Curve Equations on Recent Inflation Outcomes”, OECD Economics Department Working Papers, No. 1579, OECD Publishing, Paris.
Watanabe, K. und T. Watanabe (2018), “Why has Japan Failed to Escape from Deflation”, Asian Economic Policy Review, Vol. 13, S. 23-41, https://doi.org/10.1111/aepr.12197.