Vor einem Jahr warnte die OECD, dass die Unsicherheiten in Handel und Politik die Weltwirtschaft erheblich beeinträchtigen und die gesellschaftlichen Gräben weiter vertiefen könnten. Inzwischen hat die globale Dynamik deutlich nachgelassen, und angesichts der anhaltenden Handelsspannungen ist auch für die kommende Zeit mit einer schwachen Wachstumsentwicklung zu rechnen. Handel und Investitionen haben sich drastisch verlangsamt, vor allem in Europa und Asien. Das Geschäfts- und Konsumklima hat sich eingetrübt und die Industrieproduktion ist geschrumpft. Die Zentralbanken sind daher wieder auf einen stärker akkommodierenden Kurs eingeschwenkt, womit sich die finanziellen Rahmenbedingungen verbessert haben. In ein paar Ländern sorgt zudem die Fiskalpolitik für Impulse. Die geringe Arbeitslosigkeit und eine leichte Belebung der Löhne in den großen Volkswirtschaften stützen zugleich weiterhin die Einkommen und den Verbrauch der privaten Haushalte. Die Handelsspannungen fordern jedoch insgesamt ihren Tribut, und so wird sich das globale Wachstum den Projektionen zufolge dieses Jahr auf gerade einmal 3,2% verlangsamen, bevor es 2020 dann auf 3,4% anziehen dürfte. Damit ist es deutlich schwächer als im Durchschnitt der letzten dreißig Jahre und auch als im Zeitraum 2017-2018.
Verlief das Wachstum vor achtzehn Monaten noch synchron, sind inzwischen zunehmende Abweichungen zwischen den verschiedenen Sektoren und Ländern festzustellen, je nachdem, wie stark sie den Handelsspannungen ausgesetzt sind, wie kräftig die Reaktion der Fiskalpolitik ausfällt und wie groß die politische Unsicherheit ist. Das Verarbeitende Gewerbe, das von globalen Wertschöpfungsketten geprägt ist, wurde von den Zöllen und der damit einhergehenden Ungewissheit über die künftigen Handelsbeziehungen hart getroffen. Die Konjunktur dürfte dort weiterhin schwach verlaufen. Das Wachstum der Unternehmensinvestitionen, das ebenfalls stark mit dem Handel verknüpft ist und sich 2017-2018 noch auf rd. 3½% jährlich belief, dürfte sich im Zeitraum 2019-2020 auf magere 1¾% pro Jahr verlangsamen. Der Dienstleistungssektor, der Handelsschwankungen weniger ausgesetzt ist und der die meisten Arbeitsplätze schafft, entwickelt sich hingegen weiterhin kräftig. In den meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften hat sich das Wachstum unterdessen abgeschwächt, vor allem dort, wo Handel und Verarbeitendes Gewerbe eine wichtige Rolle spielen, so z.B. in Deutschland und Japan, deren BIP-Wachstum dieses Jahr unter 1% liegen dürfte. In den Vereinigten Staaten ist die Konjunktur dagegen weiterhin dynamisch, was den erheblichen – wenn auch nachlassenden – fiskalischen Impulsen geschuldet ist. Auch in der Gruppe der aufstrebenden Volkswirtschaften divergieren die Entwicklungen. Argentinien und die Türkei kämpfen immer noch mit der Rezession, während Indien und andere Länder von günstigeren finanziellen Rahmenbedingungen profitieren, teilweise unterstützt durch fiskalische bzw. quasifiskalische Impulse.
Zudem ist die Weltwirtschaft nach wie vor stark davon abhängig, dass die Politik fortwährend für Impulse sorgt. Zehn Jahre nach der Finanzkrise bleibt die Inflation gedämpft, sind die Bilanzsummen der Zentralbanken höher denn je, befinden sich die – kurzfristigen ebenso wie langfristigen – Zinsen weiterhin auf historischen Tiefstständen und ist die Staatsverschuldung, außer in ein paar Ländern, deutlich gewachsen. Die aufstrebenden Volkswirtschaften halten mit wenigen Ausnahmen erhebliche Reservepuffer vor. Die Geldpolitik wurde bislang also kaum normalisiert und ihre Unterstützung ist immer noch unerlässlich.
Trotz der beispiellosen Politikimpulse nach der weltweiten Finanzkrise war die Erholung insgesamt weder kräftig noch dauerhaft genug, um sich in gestiegenen Löhnen und einem höheren Lebensstandard niederzuschlagen. Seit 2010 ist das reale Pro-Kopf-BIP, das ein – wenn auch unzulänglicher – Indikator für den Lebensstandard ist, im OECD-Raum nur um 1,3% jährlich gewachsen (Medianwert). Obwohl die Arbeitslosigkeit ihren niedrigsten Stand in fast vierzig Jahren erreicht hat, dürften die Reallöhne 2019-2020 um weniger als 1,5% jährlich steigen. Damit ist das Lohnwachstum deutlich schwächer als in den zehn Jahren vor der Krise, als es sich in der typischen OECD-Volkswirtschaft auf 2% belief. Folglich ist der Lebensstandard in den zehn Jahren nach der Krise zu langsam gestiegen, um einen deutlichen Rückgang der Ungleichheit herbeizuführen, die sich in den zwanzig Jahren vor der Krise ausgeweitet hatte. Das Wachstum der realen verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte beispielsweise hat sich seit der Krise außer in den Vereinigten Staaten im Median verlangsamt.
Die Aussichten sind weiterhin trübe und zahlreiche Abwärtsrisiken werfen dunkle Schatten auf die Weltwirtschaft und das gesellschaftliche Wohlergehen.
Erstens ist das bescheidene erwartete Wachstum davon abhängig, dass die Handelsspannungen, von denen sowohl der amerikanische Kontinent als auch Asien und Europa betroffen sind, nicht eskalieren. Im ersten Kapitel dieses Wirtschaftsausblicks dargelegte Simulationsrechnungen zeigen, dass erneute Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China das globale BIP über zwei bis drei Jahre um mehr als 0,6% schmälern könnten.
Zweitens operieren Verarbeitendes Gewerbe und Dienstleistungssektor nicht voneinander losgelöst. Auch wenn die Entwicklung im Dienstleistungssektor weiterhin dynamisch verläuft und so für einen Puffer sorgt, ist eine dauerhafte Entkopplung vom Verarbeitenden Gewerbe eher unwahrscheinlich. Über ein Drittel der Bruttoexporte des Verarbeitenden Gewerbes beruht auf Dienstleistungen und der Dienstleistungssektor trägt, direkt oder indirekt, zu über der Hälfte der Exporte weltweit bei. Außerdem hängt der Industriesektor entscheidend von der Investitionstätigkeit ab, die nicht nur der Motor der aktuellen Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung ist, sondern auch das Wachstum und den Lebensstandard von morgen bestimmt.
Drittens gibt China nach wie vor Anlass zu Besorgnis. Die dort eingesetzten monetären, fiskalischen und quasifiskalischen Maßnahmen haben nicht nur ungewisse Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit, sondern könnten auch die Verschuldung der Nichtfinanzunternehmen, die bereits ein Rekordniveau erreicht hat, weiter erhöhen. Unseren Schätzungen zufolge könnte ein Rückgang des Wachstums der Inlandsnachfrage in China um 2 Prozentpunkte, der zwei Jahre anhalten würde und mit erhöhter Unsicherheit einherginge, das globale BIP im zweiten Jahr um 1¾% drücken.
Viertens nimmt die Verschuldung des privaten Sektors in den großen Volkswirtschaften rasch zu. Die globalen Bestände an Anleihen von Nichtfinanzunternehmen haben sich im Vergleich zu 2008 real fast verdoppelt. Sie belaufen sich inzwischen auf nahezu 13 Bill. USD. Zugleich hat sich die Kreditqualität verschlechtert, u.a. weil der Anteil der Leveraged Loans gestiegen ist. Es könnte also zu erneuten Schwierigkeiten an den Finanzmärkten kommen.
Die Handelsspannungen beeinträchtigen nicht nur den kurzfristigen Ausblick, sondern auch die mittelfristigen Aussichten. Daher muss von staatlicher Seite dringend gehandelt werden, um das Wachstum zu beleben. Expandierte die Weltwirtschaft vor weniger als zwei Jahren noch synchron, ist das globale Wachstum nun ins Stocken geraten. Grund dafür sind die Herausforderungen für die existierenden Handelsbeziehungen und das regelbasierte multilaterale Handelssystem, die zu zunehmender Unsicherheit führen und so Investitionen und Handel belasten. Der Prozess der Globalisierung, der nach dem Zweiten Weltkrieg durch multilaterale Vereinbarungen in Gang gesetzt wurde, die eine immer stärkere Handelsöffnung ermöglichten, ist in Gefahr.
Vor diesem Hintergrund raten wir den Ländern dringend, alle ihnen zur Verfügung stehenden Politikinstrumente zu nutzen. Zunächst müssen die multilateralen Handelsgespräche unbedingt wieder reaktiviert werden. Ausgangspunkt muss dabei eine gemeinsame Analyse der Handelsfragen sein, die der wechselseitigen Abhängigkeit der Volkwirtschaften mit ihren grenzüberschreitenden Produktionsketten Rechnung trägt. Wo die Nachfrage schwach ist, so z.B. im Euroraum, sollten die Regierungen dann – anstatt sich weiter auf die Geldpolitik zu verlassen – das Niedrigzinsumfeld nutzen, um strukturpolitische Anstrengungen dort, wo der öffentliche Schuldenstand vergleichsweise gering ist, durch fiskalische Impulse zu unterstützen. Durch eine solche Maßnahmenkombination kann der aktuellen Konjunkturschwäche begegnet, die Widerstandsfähigkeit gestärkt und ein nachhaltiges langfristiges Wachstum, von dem alle profitieren, gefördert werden. Prioritär gilt es dabei, in Infrastruktur und vor allem Digitalisierung, Verkehr und erneuerbare Energien zu investieren, das Kompetenzniveau der Bevölkerung anzuheben und generell Maßnahmen umzusetzen, die für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Im Euroraum würden Strukturreformen, mit denen das Produktivitätswachstum während eines Zeitraums von fünf Jahren um 0,2 Prozentpunkte jährlich angehoben würde und die in weniger verschuldeten Ländern durch einen dreijährigen fiskalischen Impuls im Umfang von 0,5% des BIP zur Finanzierung öffentlicher Investitionen ergänzt würden, nicht nur in einem kurzfristig höheren Wachstum resultieren, sondern auch das BIP auf längere Sicht um rd. 1% steigern.
Zudem bedarf es Reformen um sicherzustellen, dass alle von der Digitalisierung profitieren. Das Sonderkapitel dieses Wirtschaftsausblicks befasst sich mit den Veränderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt – und den Maßnahmenpaketen, mit denen gewährleistet werden kann, dass sie ein stärkeres und inklusiveres Wachstum ermöglicht. Digitale Technologien verändern die Art und Weise, wie Unternehmen Waren und Dienstleistungen produzieren, wie sie innovieren und wie sie mit anderen Unternehmen und mit ihren Mitarbeitern, den Verbrauchern und staatlichen Stellen interagieren. Diese Technologien bieten ein enormes Potenzial zur Steigerung der Produktivität der Unternehmen und damit auch des Lebensstandards. Die Ergebnisse bei der Erschließung dieses Potenzials sind bislang allerdings enttäuschend. Das Wachstum der Arbeitsproduktivität hat sich im OECD-Durchschnitt in den letzten Jahrzehnten drastisch verlangsamt. Von der Digitalisierungsdividende profitiert derzeit nur eine kleine Gruppe von „Superstarfirmen“. Das schwache Produktivitätswachstum geht derweil mit einem schleppenden Lohnwachstum einher. Routineaufgaben, die bislang von gering- und mittelqualifizierten Arbeitskräften ausgeübt wurden, werden zunehmend automatisiert. Diese Trends haben weitreichende Auswirkungen auf Lebensstandard und Teilhabe.
Staat und Wirtschaft müssen ein breites Spektrum von Maßnahmen umsetzen, um den digitalen Wandel effizient und inklusiv zu gestalten. Um die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen, sind Veränderungen der Geschäftsmethoden, der Arbeitsorganisation und der Kompetenzstruktur erforderlich. Dies setzt eine umfassende Ressourcenumverteilung zwischen und innerhalb der Unternehmen und Branchen voraus. Diese Veränderungen brauchen Zeit und sind mit temporären Anpassungskosten verbunden, die für einige Gruppen schmerzlich sein können. Daher bedarf es eines breiten Spektrums von Reformen: Die Bildung muss gewährleisten, dass die kognitiven Fähigkeiten der Bevölkerung steigen. Weiterbildung muss für mehr Technik- und Managementkompetenzen sorgen. Der Zugang der Unternehmen zu Finanz- und vor allem Eigenkapitalmitteln muss verbessert werden, insbesondere für Investitionen in immaterielle Wirtschaftsgüter und FuE. Und auch in der Wettbewerbspolitik sind Reformen nötig, um das Regulierungsumfeld an die durch den digitalen Wandel bedingten Veränderungen der Geschäftsmodelle anzupassen und eine effiziente Ressourcenallokation zu gewährleisten. Wenn Staat und Wirtschaft handeln, um diese Lücken zu schließen, können digitale Technologien auf breiterer Basis genutzt werden und dürfte die Digitalisierung endlich die erwarteten Gewinne bringen.
Im Verlauf der letzten zwölf Monate haben sich einige der Abwärtsrisiken für das Weltwirtschaftswachstum konkretisiert, und das Vertrauen der Unternehmen und der privaten Haushalte wurde durch die Unsicherheiten in Handel und Politik geschwächt. Angesichts der anhaltenden Handelsspannungen dürfte das Wachstum in der kommenden Zeit weiterhin unter den Durchschnittswerten der Vergangenheit liegen, während die gesellschaftlichen Gräben tiefer werden. Die Regierungen können – und müssen – dem durch gemeinsames Handeln entgegenwirken, um das Wachstum wieder zu beleben und dafür zu sorgen, dass es nachhaltig ist und allen zugutekommt.
21. Mai 2019
Laurence Boone
OECD-Chefökonomin